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Straffreiheit für Täter in Uniform

Indiens Regierung ignoriert sexuelle Gewalt gegen Frauen in Konfliktregionen

Von Stefan Mentschel, Delhi *

Die brutale Vergewaltigung einer Studentin Mitte Dezember löste in Indien eine leidenschaftliche Debatte über Gewalt gegen Frauen aus. Neben der Sicherheit im öffentlichen Raum und häuslicher Gewalt wird seitdem auch über sexuelle Übergriffe staatlicher Sicherheitskräfte gesprochen. Doch die Regierung schweigt dazu lieber.

Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter. Nicht selten tragen Täter die Uniform von Armee und Polizei. Es ist Sommer 2004. Die Behörden im Unruhebundesstaat Manipur im Nordosten Indiens haben die 32-jährige Thangjam Manorama Devi im Visier. Sie wird verdächtigt, Kontakte zu einer bewaffneten Separatistengruppe zu haben. Eine paramilitärische Einheit soll sie festnehmen und zum Verhör bringen. Es ist Nacht, als Manorama aus ihrem Haus geholt wird. Am nächsten Tag ist sie tot.

Nach Berichten von Menschenrechtlern wies die Leiche Spuren einer Vergewaltigung und Schusswunden auf - unter anderem in der Vagina. Die mutmaßlichen Täter wurden zwar identifiziert, aber nie zur Rechenschaft gezogen. Ein Grund dafür ist der Armed Forces Special Powers Act (AFSPA). Das umstrittene Sonderermächtigungsgesetz räumt indischen Sicherheitskräften in Konfliktregionen wie Manipur oder Kaschmir faktisch unbeschränkte Befugnisse bei der Bekämpfung von Aufständischen ein. So erlaubt es die Tötung Verdächtiger und gewährt gleichzeitig Schutz vor Strafverfolgung.

Der Fall Manorama ist besonders drastisch. Berichte über sexuelle Übergriffe gegen Frauen durch Sicherheitskräfte gibt es jedoch auch aus anderen Landesteilen, in denen AFSPA gilt. Vor diesem Hintergrund hatte bereits vor Jahren eine Regierungskommission vorgeschlagen, das Gesetz außer Kraft zu setzen. Doch die Sicherheitskräfte sträubten sich.

Nun haben unabhängige Experten erneut die Abschaffung von AFSPA gefordert. Auslöser diesmal: Die brutale Gruppenvergewaltigung einer Studentin in einem Delhier Stadtbus, die Mitte Dezember eine heftige und emotionale Debatte über die Rolle von Frauen und Mädchen in der indischen Gesellschaft ausgelöst hatte. Von der Regierung wurden unter anderem eine Verschärfung der Strafgesetze und ein engagiertes Vorgehen bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen gefordert.

Premierminister Manmohan Singh reagierte und ließ eine Kommission die Gesetzeslage prüfen. Die Zivilgesellschaft wurde aufgerufen, sich an dem Prozess zu beteiligen. Mehr als 80 000 Änderungsvorschläge gingen ein. Ende Januar legte das Gremium unter Leitung eines ehemaligen Obersten Richters seine viel beachteten Ergebnisse auf den Tisch - darunter die Forderung, Sexualstraftäter in Uniform künftig nach dem Strafrecht abzuurteilen. In der Begründung heißt es, die durch AFSPA garantierte Straffreiheit würde bislang »systematische oder vereinzelte Fälle sexueller Gewalt im Dienst« legitimieren. Auch deshalb müsse das Sondergesetz auf den Prüfstand gestellt werden.

Frauenrechtlerinnen begrüßten den Vorstoß der Kommission. »Es ist das erste Mal, dass die Auswirkungen von AFSPA so deutlich benannt werden«, sagte die Aktivistin Binalakshmi Nepram, deren Organisation vor allem in Manipur tätig ist. »Damit werden die Sicherheit von Frauen und die nationale Sicherheit auf eine Stufe gestellt.«

Doch die Regierung Singh schenkte diesem Teil des Kommissionsberichts nicht die erhoffte Aufmerksamkeit. Zwar einigte sich das Kabinett bereits wenige Tage nach dessen Veröffentlichung auf eine Verschärfung des Strafrechts bei Gewalt gegen Frauen, doch Sexualstraftaten durch Sicherheitskräfte im Schatten von AFSPA sowie weitere strittige Punkte kommen in den Gesetzentwurf nicht vor. Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch haben deshalb alle Abgeordneten dazu aufgerufen, im indischen Parlament gegen den Regierungsvorschlag zu stimmen und sich für weitere Änderungen stark zu machen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 14. Februar 2013


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