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Indien: Hoffnung für die Dalits im Krishna-Delta

Neue Shelter schützen Bewohner im Katastrophengebiet am Golf von Bengalen

Von Jochen Reinert *

Das Asphaltband auf dem Uferdamm des Krishna ist alles andere als eine Autobahn. Jedes entgegenkommende Fahrzeug signalisiert Gefahr, und jeder mit Zuckerrohr beladene Ochsenkarren bildet ein schier unüberwindliches Hindernis. Längst haben wir Vijayawada, die brodelnde Millionenstadt am Unterlauf des fast 1300 Kilometer langen Flusses, hinter uns gelassen und tauchen ein in eine weite Deltalandschaft.

Die nach einem der beliebtesten Hindugötter benannte Wasserader ist einer der wichtigsten Lebensspender im Süden Indiens. An vielen Stellen wird sie angezapft – der Nagarjuna-Sagar-Damm mit seiner 124 Meter hohen Staumauer, in den 50er Jahren von Jawaharlal Nehru angeregt und von seiner Tochter Indira Gandhi eingeweiht, gilt als eines der frühen Symbole des modernen Indiens.

»Kampf der Kulturen« ist hier kein Thema

Überall sind an diesem warmen Wintertag Männer in traditionellen weißen Lungis und Frauen in bunten Saris unterwegs, mit Fahrrädern zumeist oder mit Karren, aber hin und wieder auch per Traktor. Vom hellen Grün der eben angelegten Reisfelder bis zum Dunkelgrün der sturmgegerbten Wedel der Kokospalmen reicht das Spektrum der Farbe des Lebens. Eine überaus fruchtbare, reiche Region, in der indes auch sehr viele Arme leben. Im staubigen Delta-Städtchen Avanigadda treffen wir Buddha Prasad, als Abgeordneter der Kongresspartei im Landtag des Unionsstaates Andhra Pradesh eines der politischen Schwergewichte der Region. In seinem Wahlkreisbüro werden die großen Zeiten der Kongresspartei lebendig. Neben Porträts der Nehru-Familie hängen zahlreiche Bilder, auf denen Prasads Vater, einer der ersten Bildungsminister Indiens, mit diversen Koryphäen zu sehen ist. Der Sohn wiederum reicht auf einem Foto dem Dalai Lama, der vor einigen Monaten den berühmtesten Buddha-Tempel der Region besuchte, die Hand.

Im Krishna-Delta leben Hindus, Buddhisten und Christen seit Jahrhunderten ohne Streit zusammen, und auch die Telugu-Juden – einer der verlorenen Stämme Israels, der hier vor Jahrhunderten gestrandet ist – beklagen sich nicht über ihre Nachbarn.

Die Prasad-Familie jedenfalls kennt keinen »Kampf der Kulturen«. Nach dem verheerenden Zyklon von 1977, der 50 000 Bewohner der Region das Leben kostete, ließ Vater Prasad am Wehr des nahen Krishna-Kanals ein ungewöhnliches Denkmal errichten: Nebeneinander, durch zwei, drei Meter getrennt, blicken von Ziegelpodesten übermannsgroße Statuen von Buddha, Christus und Mahatma Gandhi auf die Passanten. »Die ließ mein Vater aufstellen, um die Menschen zu einen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken und sie zum gemeinsamen Kampf gegen die Naturgewalten zu befähigen«, erläutert Buddha Prasad.

Ihm ist an diesem Tag kein Weg zu weit, um mit dem Entwicklungsexperten Klaus-Dieter Peters vom Berliner Solidaritätsdienst International (SODI) und dessen indischen Partnern eine Reihe deutscher Hilfsprojekte nahe der Mündung des Krishna in den Golf von Bengalen zu begutachten. Mitten in dem Dorf Ullipalem, etwa sieben Kilometer von der Meeresküste entfernt, ragt ein hoher hellgrüner Bau auf Betonstelzen über die Palmen – ein zweistöckiges Shelter zum Schutz der Bewohner vor Naturkatastrophen, vor den Zyklonen und Überschwemmungen, die diesen verwundbaren Landstrich immer wieder heimsuchen.

Von SODI errichtete Anlagen bewähren sich

Doch das Shelter bietet nicht nur Obdach, wenn die Natur schäumt. Im schattigen Untergeschoss treffen sich die Bewohner zu Versammlungen oder Hochzeiten, und im Zwischengeschoss haben Schüler und Lehrer ein neues, viel besseres Domizil als im bisherigen winzigen Schulhaus gefunden. Im Rahmen der Tsunami-Hilfe wurde das Shelter vorigen Sommer von SODI mit Spenden der Aktion Deutschland Hilft sowie dem Lions-Club und der Stadt Altlandsberg errichtet – und schon wenige Wochen später, so erfahren wir von Dorfvorsteher Adusumilli Prasad, bewährte sich die Schutzanlage zum ersten Mal. Nach einem sintflutartigen Monsun-Regen stand das Dorf mehr als einen Meter unter Wasser, viele seiner Bewohner flüchteten in das Shelter und wurden dort von den Behörden mit dem Notwendigsten versorgt. Die Lehrerinnen Lalitha Kumar und Naga Raja Kumari hatten dann allerdings mit ihren Schüler einige Tage »Wasserferien«. In den vier Klassenräumen kampierten die Abc-Schützen mit Eltern.

Anders als das von reicher tropischer Vegetation umgebene Ullipalem scheint der Fischerort Utagundam am Ende der Welt zu liegen. Über eine löchrige Schotterpiste schaukeln wir durch eine zunehmend harschere, von Stürmen und Fluten geprägte Landschaft in Sichtweite des Meeres; hier hat nicht zuletzt der Tsunami seine Spuren hinterlassen. Verödung allerdings auch durch Menschenhand: In riesigen Becken für die Zucht von Garnelen sind statt Wasser nur hässliche dunkle Ablagerungen zu sehen; wie andernorts in Südasien ist auch hier die für Krankheiten sehr anfällige Aquakultur zu einem wirtschaftlichen Flop mit katastrophalen ökologischen Folgen geworden.

Doch dann leuchtet plötzlich ein weiteres Shelter wie eine moderne Kathedrale über einem Reisfeld – für die Bewohner ein Hort der Sicherheit, der umso plastischer wirkt, als daneben ein altes Shelter buchstäblich zerbröselt. Die Leute von Utagundum sind allesamt Angehörige von »backward classes«, der »rückständigen« untersten Kasten, weiß Buddha Prasad, die meisten von ihnen ernähren sich mühsam vom Fischfang.

Am Eingang des einige Kilometer landeinwärts gelegenen Dorfes Talagaddadeevi markiert eine Statue des Mahatma-Gandhi-Mitstreiters Dr. Ambedkar, dass hier viele Dalits leben, Kastenlose, die auf der sozialen Leiter Indiens ganz unten stehen. Der Dalit Ambedkar wird von ihnen wie ein Gott verehrt. Nach dem Gesetz sind sie gleichberechtigt und genießen eine Reihe Minderheitenrechte, aber in der Praxis werden sie nach wie vor diskriminiert, nicht selten von höherkastigen Nachbarn brutal erniedrigt.

Freude über den Bau von 220 Häusern

Vor dem christlichen Gebetshaus inmitten des Ortes – die Dalits des Dorfes sind wie etwa 30 Millionen Leidensgenossen vor vielen Jahren zum Christentum konvertiert, um der Kastenunterdrückung zu entgehen – hat sich eine große Gruppe von Männern und Frauen versammelt, um Neuigkeiten über ein großes Hausbauprojekt zu hören, das SODI gemeinsam mit der katholischen Nichtregierungsorganisation Social Service Centre verwirklichen will.

Derzeit wohnen sie in bambusgedeckten, niedrigen Häuschen, die ihnen die indischen Behörden nach dem verheerenden Zyklon von 1977 zur Verfügung stellten. In den 30 Jahren seither sind viele Stürme über das Dorf hinweggefegt und haben erhebliche Schäden an den Behausungen hinterlassen. Auch der Tsunami hat daran seinen Anteil.

Deshalb sind die Dalits von Talagaddadeevi hocherfreut, als sie auf dem Meeting erfahren, dass dem Bau von 220 Häusern in ihrem Dorf und im benachbarten Pedapalem nichts mehr im Wege steht. Neugierig umlagern sie das Modell eines Hauses, das einen großen Wohnraum, eine Küche und eine Außenveranda sowie eine Toilette umschließt. Insgesamt 1200 Menschen erhalten dadurch nicht nur ein stabiles Dach über dem Kopf, sondern auch wesentlich bessere sanitäre Bedingungen. Die Dalits der beiden Dörfer, die zu den Ärmsten der Armen im Krishna-Delta zählen, schauen noch ein wenig ungläubig drein. Besonders aufmerksam hören sie dem Mann im weißen Priestergewand zu, den sie seit langem gut kennen: Reverend Pidathala Balaswami. Der Direktor des zivilgesellschaftlichen SODI-Partners, selbst ein Dalit aus dem Krishna-Delta, studierte auf dem katholischen Priesterseminar von Hyderabad und fand in der Sozialarbeit seine Lebensaufgabe.

Im lebhaften Dialog mit den Versammelten entwirft Reverend Balaswami nun das Bild eines großen Gemeinschaftswerkes, an dem sich auch die künftigen Hausbesitzer aktiv beteiligen – damit sie am Ende sagen können, das ist nicht irgendein Geschenk des Himmels, sondern Frucht eigener Anstrengung. Schließlich erläutert ihnen der indische SODI-Beauftragte Jamindar Buddiga, ein in der DDR ausgebildeter mittelständischer Unternehmer, wie sie selbst Hand anlegen können: Jeweils zehn Familien bilden eine Arbeitsgruppe, die unter Anleitung von Fachkräften die Häuserwände hochzieht.

Die 220 Häuser – ein Vorhaben im Umfang von 400 000 Euro – werden vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit mit 255 000 Euro gefördert. Indiens Regierung stellt das Land zur Verfügung und übernimmt ein Drittel der Projektkosten.

Von SODI und seinen Partnern in Deutschland müssen noch rund 42 000 Euro aufgebracht werden. Helfen wollen dabei der Bezirk Berlin-Lichtenberg, der Lions-Club und die Stadt Altlandsberg – Mitte März bereits wird eine Delegation aus dem brandenburgischen Städtchen mit dessen Ortsbürgermeister Ravindra Gujjula nach Indien reisen und den Grundstein für das Projekt legen.

Aber auch in Sachen Shelter soll es weitergehen. Nach vier solcher Bauten im Krishna-Delta werden etwa 100 Kilometer südwestlich im Distrikt Prakasam drei weitere entstehen, die Schutz für 8000 Menschen und bessere Lernbedingungen für 150 Kinder bieten. Der erste Spatenstich für dieses Tsunami-Projekt im Umfang von 60 000 Euro soll im Mai erfolgen.

Spendenkonto 43852050 bei der Berliner Bank, BLZ 10020000, Kennwort »Südindien«

* Aus: Neues Deutschland, 15. März 2007


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