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Bhopal und sein "zweites Desaster"

25 Jahre nach der schlimmsten Industriekatastrophe Indiens leiden noch immer Tausende Menschen an den Folgen

Von Hilmar König, Delhi *

Vor 25 Jahren wurde Bhopal, die Hauptstadt des Unionsstaates Madhya Pradesh, von der schlimmsten Industriekatastrophe in Indiens Geschichte heimgesucht. Auf dem Gelände der Union Carbide-Düngemittelfabrik, einer Tochterfirma des US-amerikanischen Chemiekonzerns, explodierte ein mit 50 Tonnen Methylisocyanat (MIC) gefüllter Tank. Eine Giftgaswolke waberte durch die Stadt und brachte Tausenden Einwohnern den Tod. 25 Jahre danach plagen Spätfolgen noch weit über 100 000 Überlebende.

»Was hier vor einem Vierteljahrhundert passierte, war ein Skandal, der weltweit Schlagzeilen machte. Die heutige Situation ist noch viel skandalöser, nur weniger spektakulär. Ich nenne es das zweite Bhopal-Desaster.«

Das erklärt uns Satinath Sarangi von der Bhopal-Gruppe für Information und Aktion, einer Organisation, die sich um Gasopfer kümmert und der die Klinik des Sambhavna Trusts angeschlossen ist. Sarangi berichtet von mehr als 100 000 Überlebenden, die chronisch krank sind, weil sie vom Giftgas erwischt worden waren.

Zehntausende Kinder von »Gaseltern« tragen die Kainsmale des Carbide-Gifts. Sie leiden unter angeborenen Defekten, Wachstums- und Entwicklungsstörungen, sind geistig und körperlich zurückgeblieben. In den Siedlungen um den zwar stillgelegten, aber immer noch die Umwelt verseuchenden Betrieb sind die Erkrankungsraten an Tuberkulose und Krebs alarmierend hoch. 30 000 Menschen, die nördlich des Betriebsgeländes wohnen und kontaminiertes Wasser trinken müssen, haben Nieren- und Leberschäden, Krebs- und verschiedene Hauterkrankungen. Geburtsanomalien sind unter der dortigen Einwohnergruppe zehnmal höher als sonst irgendwo im Land.

Augenzeugen der Schreckensnacht vom 2. auf den 3. Dezember 1984 zu finden, wird immer schwieriger, weil im Schnitt täglich einer der Betroffenen stirbt. Abdul Kadir hat überlebt. »Damals war ich ein junger, kerngesunder Mann«, erzählt der heute 50-Jährige, »vielleicht bin ich nur deshalb und mit Allahs Gnade noch am Leben... Es war kurz nach Mitternacht, als uns die Explosion bei Union Carbide aus dem Schlaf riss... Gleich danach die ersten verzweifelten Schreie 'Gas, Gas, rette sich, wer kann!' Ich sprang hoch, raus ins Freie und dann, so schnell ich nur konnte, weg von dem Betrieb, der jenseits der Straße nur einen Steinwurf entfernt lag... Am Ende holte mich das ausströmende Giftgas doch ein. Aber wie durch ein Wunder tötete es mich nicht.«

Fast jede Familie hat Katastrophenopfer

Abdul Kadir geht immer wieder die Puste aus. Deshalb kann er nur stoßweise sprechen: »Meine Augen sind dauernd entzündet, ebenso meine Magen- und Darmschleimhaut... Ohne Medikamente wäre ich schon längst unter der Erde. Aber gesund werde ich davon auch nicht mehr.«

8000 Menschen fielen allein in jener Nacht der Giftwolke zum Opfer. Mindestens 572 000 waren dem Gas ausgesetzt. Fast jede Familie hatte einen toten Verwandten, Freund oder Nachbarn zu beklagen. Über 25 000 Bhopaler starben seit 1984 an den Folgen des Unglücks -- eines, da sind sich die Opferorganisationen einig, das geschehen musste.

Bereits im Mai 1982 hatte eine betriebsinterne Inspektion 30 gravierende Gefahrenquellen identifiziert, davon allein elf in der hochgefährlichen MIC-Phosgen-Abteilung. Dass man keine Schutzmaßnahmen ergriff, lag wohl vor allem daran, dass der unprofitable Betrieb geschlossen werden sollte. Deshalb, so die Recherche eines indischen Journalisten, hatte man begonnen, die Sicherheitssysteme herunterzufahren.

Deshalb nahm es das Personal mit Disziplin und Ordnung nicht mehr so genau. Deshalb lagerte in den Tanks zu viel nicht auf die erforderliche Temperatur von nahe 0 Grad gekühltes MIC. Deshalb gelangte während eines allen Sicherheitsvorschriften widersprechenden Reinigungsprozesses Wasser in den Chemikalientank, was die zur Explosion führende Reaktion auslöste. Zudem waren drei unabhängig voneinander bestehende Sicherheitssysteme wegen Reparaturarbeiten abgeschaltet worden. So war die Katastrophe programmiert.

Die nahm schließlich eine skandalöse Dimension an, als der Havarie eine Serie zweifelhafter Entscheidungen des Carbide-Managements sowie staatlicher Instanzen folgte, die von Inkompetenz, Konfusion, Ratlosigkeit und absichtlicher Verschleierung zeugten. Es wurde kein Alarm für die Anwohner in den Slums ausgelöst. Es gab keinen Katastrophenplan und keine gelenkte Evakuierung, hingegen komplettes Chaos.

Tagelang konnte kein Patient korrekt behandelt werden, weil der Betriebsarzt der Union Carbide irreführende Auskünfte gab. Es existierte kein Verzeichnis neutralisierender Medikamente. Den Ärzten in den Krankenhäusern Bhopals, die die Flut der Gasopfer natürlich nicht zu bewältigen vermochten, blieb nichts anderes, als »herumzudoktern«. Auch in den Wochen danach hüllte sich Union Carbide bezüglich geeigneter, wirksamer Behandlung in Schweigen. Schmutziger Deal mit der Regierung

Ein Kapitel für sich stellte die beschämende Einstellung des Katastrophenverursachers und der Dow Chemical Corporation, die 2001 das gebrandmarkte Unternehmen übernahm, zur Entschädigung der Opfer dar. Jahrelanges Feilschen endete 1989 mit der Zahlung einer Gesamtsumme von 470 Millionen Dollar. Drei Jahre später stimmte Union Carbide der Schaffung eines Bhopal Hospital Trust zu, der aus dem Verkauf von Aktien finanziert wurde und ausschließlich der kostenlosen Behandlung von Gasopfern dienen sollte, was nie geschah.

Das war der mit der indischen Regierung vereinbarte finanzielle Schlussstrich unter die Tragödie.

Bis heute lehnt Dow Chemical jede Verantwortung oder gar Nachzahlungen ab. Für 572 000 Geschädigte bedeutete das nach schier unendlicher bürokratischer Mühle und etlichen Korruptionsskandalen eine einmalige »Entschädigung« von maximal 25 000 Rupien (rund 400 Euro) zu einem Zeitpunkt, da die meisten von ihnen bereits hoffnungslos wegen der Ausgaben für ihre medizinische Behandlung verschuldet waren.

Die Regierung Madhya Pradeshs wendete zudem seit 1984 pro Jahr und Opfer 244 Rupien (knapp vier Euro) als Beihilfe auf. Die für das Desaster verantwortlichen Personen und Körperschaften in Indien und den USA verstanden es, sich dem Zugriff der Justiz zu entziehen.

Sarangi erläutert, warum er zu der Bezeichnung »zweites Bhopal-Desaster« steht: »Schon 1977 begann Union Carbide, Giftabfall in einem Verdunstungsteich auf dem Werksgelände von der Größe eines Fußballfeldes zu lagern. Hier und an 23 anderen Stellen sickerten viele Schadstoffe ins Erdreich und ins Grundwasser. Tausende Tonnen Giftmüll lagern dort immer noch. Eine gründliche Entsorgung des Betriebes und des Geländes steht auch nach 25 Jahren noch aus. Von 30 000 Bewohnern in 14 Siedlungen erhalten insgesamt erst 10 000 sicheres in Tankern und durch Leitungen geliefertes Trinkwasser. Die anderen 20 000 müssen nach wie vor verseuchtes Wasser konsumieren.«

Für Empörung sorgte die lokale Regierung in Bhopal mit dem Beschluss, die Werkstore für ein paar Wochen Besuchern zu öffnen, und die geschmacklose Demonstration von Umweltminister Jairam Ramesh im September, als er eine Handvoll Giftmüll aufnahm und stolz äußerte: »Sehen Sie, trotzdem bin ich noch am Leben!« Mit beiden Gesten sollte der Öffentlichkeit vorgegaukelt werden, dass der verrottete Betrieb der Union Carbide gar keine Gefahr mehr für die Umwelt sei.

»Für die sind wir längst abgeschrieben«

In einer Stellungnahme dreier Hilfsorganisationen heißt es: »Anstatt der Welt zu zeigen, dass die Regierung des Unionsstaates die Opfer unterstützt, hat sie erneut ihre Zustimmung zur Agenda von Dow Chemical bewiesen.« Gefordert wird zugleich, Indiens Premier Manmohan Singh solle nach Bhopal kommen, um sich von der Lage der Gasgeschädigten ein eigenes Bild zu machen.

Wie verhält sich die Regierung in Delhi 25 Jahre nach dem Desaster? »Vor 14 Monaten kündigte sie die Bildung einer 'ermächtigten Bhopal-Kommission' an, die sich mit den Problemen der Geschädigten befassen soll. Bislang warten wir vergeblich darauf«, sagt Sarangi. »Für die sind wir doch schon längst abgeschrieben, so gut wie tot«, fügt Abdul Kadir bitter hinzu.

* Aus: Neues Deutschland, 3. Dezember 2009


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