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Zwischen Ghandi und der Atombombe

Indiens Weg in die Zukunft ist verworren - ohne soziale Bewegungen aber geht nichts. Zwei neue Indien-Bücher

Der Journalist Gerhard Klas hat ein Buch über Indien geschrieben, genauer: über die Praxis und Zukunft der sozialen Bewegungen in dem zweitgrößten Land der Erde. Von diesem Buch ist in einer Rezension die Rede, die in der Schweizer Wochenzeitung WOZ erschien. Wie es der Zufall so will, erschien fast gleichzeitig eine Besprechung eines anderen Indien-Buches: Rezensent: Gerhard Klas.
Wir dokumentieren im Folgenden beide Buchbesprechungen.



Soziale Bewegungen in Indien

Ein Modell für alle? *

Widersprüchliche Nachrichten kommen aus Indien: von Wirtschaftswunder und aufstrebenden Mittelschichten, von Hunger und religiösem Fundamentalismus, aber auch von Widerstand gegen Staudammprojekte und Gentechnologie und von geheimnisvollen KämpferInnen für die Armen, den NaxalitInnen.

Der deutsche Journalist Gerhard Klas hat ein Buch geschrieben über soziale Bewegungen in Indien. 160 Seiten sind wenig über ein Land mit mehr als einer Milliarde EinwohnerInnen. Doch in dem kleinem Buch gibt es erstaunlich viel zu erfahren - zu Fragen, die nicht nur in Indien wichtig sind. «Zwischen Verzweiflung und Widerstand» hat neun Kapitel, die in einen einführenden Text und ein längeres Interview gegliedert sind. Beim Lesen wird schnell klar, dass Indiens scheinbar sagenhafter wirtschaftlicher Aufschwung Schattenseiten hat. Es sei «eine kleine Gruppe, die Millionen und Abermillionen in unserem Land ausbootet», sagt etwa Periyapatna Satheesh. Auch er, der ehemalige Fernsehjournalist, gehörte einmal zu den Wohlhabenderen. Heute unterstützt er KleinbäuerInnen im Bundesstaat Andhra Pradesh bei der Biolandwirtschaft und der Organisation von Frauenräten.

Alte Sorten statt Maschinen

Drei Bäuerinnen aus solchen Räten kommen zu Wort. Sie sind Dalit, Kastenlose, ausgegrenzt aus der Hindugesellschaft. Doch dank traditioneller Anbaumethoden und Selbstorganisation haben sie heute genug zum Leben: Statt Reis kultivieren sie verschiedene Bohnen- und Hirsesorten. Diese sind nahrhafter, und wenn eine Sorte schlecht wächst, gibt es genug von den anderen. «Unsere Landwirtschaft kümmert sich auch um die Jungen, Alten, Behinderten, Kleinkinder, das Vieh, alles», sagt Samamma Bidakanne. Über die Versprechungen der industriellen Landwirtschaft machen sich die drei Frauen keine Illusionen: «Wir haben riesige Maschinen gesehen. Eine davon konnte an einem Tag fünfzig Hektar umpflügen. Das ist bemerkenswert - aber wo sollen die ganzen Leute hin?»

Wohin die industrielle Landwirtschaft führen kann, sehen die Frauen in ihrer eigenen Nachbarschaft. Bauern - seltener Bäuerinnen - glauben den Versprechungen der Agroindustrie, kaufen Saatgut für «cash crops», vermarktbare Pflanzensorten wie Baumwolle, dazu Dünger und Pestizide. Dabei verschulden sie sich. Wenn die Ernte schlecht ausfällt, vervielfachen sich die Schulden; viele BäuerInnen bringen sich aus Verzweiflung um, indem sie etwa die teuer gekauften Pestizide trinken. Nur dort, wo die BäuerInnen gut informiert sind, nimmt die Zahl der Selbstmorde ab, sagen mehrere von Klas’ GesprächspartnerInnen.

Fische pflegen

Ist ein gutes Leben für alle ohne Umweltzerstörung möglich? Wie lassen sich Gewerkschaftsarbeit und Umweltschutz vereinbaren? Bei solchen weltweit drängenden Fragen scheint Indien dem Westen einen Schritt voraus zu sein. Das zeigt zum Beispiel der Fischerpriester Thomas Kocherry in Kerala. Er organisiert den Kampf der kleinen Fischer regional, aber auch international mit dem World Forum of Fisher Peoples. Die Stossrichtung ist klar: keine grossen Kutter, kleine Strukturen, Selbstbeschränkung gegen Überfischung. Der Fisch soll denen zukommen, die ihn am dringendsten brauchen: den Menschen an den Küsten dieser Welt.

Aus den gleichen Gründen wie die DalitbäuerInnen lehnt Kocherry industrielle Methoden ab: «Wenn die zehn Millionen Fischer hier in Indien im Fischereisektor bleiben sollen, kann man nicht einfach der Modernisierung das Wort reden.» Der industrielle Fischfang, sagt er, sei «kein technologischer Fortschritt, sondern eine importierte Krise.»

In Indien gibt es eine verwirrende Vielfalt von kommunistischen Parteien und Bewegungen. Klas hat mit mehreren AktivistInnen gesprochen: mit einem linientreuen Parteirepräsentanten, der China in den Himmel lobt, genauso wie mit einem parteilosen Marxisten, der sich in der Sozialforumsbewegung engagiert. Aufschlussreich ist auch das Gespräch mit Kavita Krishnan, die den zum Teil bewaffneten Basisbewegungen nahe steht. Für die Verteidigung gegen die Polizei, die die Landbevölkerung terrorisiert, setzt Krishnans Organisation auf unkonventionelle Methoden: «Wenn ein Dorf attackiert wird, müssen die Bewohner sich selbst wehren können. Als Waffen dienen den Milizen dabei verschiedene Haushaltsgegenstände und alles, was ihnen aus eigener Kraft und Möglichkeit zur Verfügung steht.»

Ohne Wachstum und nachholende Industrialisierung gehe in den Ländern des Südens gar nichts, heisst es fast überall. «Zwischen Verzweiflung und Widerstand» zeigt andere Wege. Wege, die angesichts der kommenden Energie- und Klimakrise wahrscheinlich mehr Zukunft haben. Und die indischen AktivistInnen, die trotz widriger Umstände nicht aufgeben, machen Mut. Auch uns verwöhnten EuropäerInnen.

Klas, Gerhard: Zwischen Verzweiflung und Widerstand. Indische Stimmen gegen die Globalisierung, Edition Nautilus. Hamburg 2006, 160 Seiten, 12,90 EUR, ISBN 3894014903

* Aus: Wochenzeitung WOZ (Schweiz), 16. November 2006


Gandhi entsorgen

Indien entwickelt sich. Gleichheit und Pazifismus geraten ins Hintertreffen. Ein aktueller Reportage-Band

Von Gerhard Klas **

Indien hat sich verändert. Aus einem Entwicklungsland, das die Bewegung der blockfreien Staaten anführte, ist eine aufstrebende Wirtschaftsnation geworden. Bernard Imhasly ist langjähriger Indien-Kenner. Er hat eine hintergründige Bestandsaufnahme der dortigen politischen Kultur zu Papier gebracht. Roter Faden war ihm dabei das Vermächtnis Mahatma Gandhis und dessen Rezeption im modernen Indien.

Gestützt auf seine religiöse Überzeugung wandte sich Gandhi mit Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen die Herrschaft der britischen Kolonialherren und entwickelte sein Konzept des gewaltfreien Widerstandes. Die Selbstbestimmung der indischen Nation war sein Ziel. Dabei grenzte sich Gandhi deutlich von der Vorstellung ab, Indien solle eine religiös homogene, hinduistische Nation werden. Bis zu seiner Ermordung durch einen Hindu-Fundamentalisten im Januar 1948 hat er sich sein Leben lang für das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Religionen in Indien eingesetzt und dafür gekämpft, die Diskriminierung der sogenannten Kastenlosen zu beenden.

Die Reportagen Bernard Imhaslys verdeutlichen, daß Gandhis Traum von einem religiös toleranten und solidarischen Indien lange nicht verwirklicht ist. Ein südlicher Stadtteil von Gandhis Geburtsstadt Ahmedabad, der sechstgrößten Stadt Indiens, ist seit 2002 von einer fünf Meter hohen Mauer durchzogen, die Muslime und Hindus voneinander trennt. Dem Bau der Mauer waren Pogrome gegen die muslimische Gemeinde vorausgegangen, die mehrere tausend Tote forderten. Im nördlichen Bundesstaat Bihar, wo einst Gandhis Kampagne des zivilen Ungehorsams gegen die britischen Kolonialisten begann, ist die Diskriminierung sogenannter niederer Kasten so virulent wie vor 60 Jahren. Allein Bihar zählt noch 22 000 sogenannte Mehtars, Angehörige einer niederen Kaste, die mit ihren Händen jeden Morgen den Kot aus den Trockentoiletten höherer Kasten entfernen.

Dennoch beziehen sich viele Gesprächspartner Imhaslys auf das Vermächtnis Gandhis, des Gründervaters der Nation. Imhasly sprach mit Führern der hindunationalistischen RSS, die vehement Gandhis Diktum der Gewaltlosigkeit und Toleranz gegenüber anderen Religionen ablehnen. Er traf den Gründer des indischen IT-Giganten Infosys, den sogenannten »Messias der indischen Mittelklasse«, der die visionäre Führungskraft Gandhis bewundert und die indische Gesellschaft mit wirtschaftlichen Erfolgsprojekten verändern will. Er redete mit dem indischen Präsidenten Abdul Kalam, der sich zur Gewaltlosigkeit Gandhis bekennt und gleichzeitig die indischen Atombomben als Mittel der Abschreckung rechtfertigt.

Imhasly reiste in den nordöstlichen Bundesstaat Manipur, der unter militärischem Ausnahmezustand steht, und besuchte in einem gut abgeschirmten Gefängniskrankenhaus eine Aktivistin, die sich seit Jahren im Hungerstreik gegen die gängige Praxis der Massenvergewaltigung durch indische Armeeangehörige befindet und zwangsernährt wird. Sie verweigert das Essen in bewußter Anlehnung an Gandhi, der selbst in den Hungerstreik trat, ihn als legitime Waffe der Waffenlosen bezeichnete.

Imhasly traf auch vier Enkel Gandhis. Einer von ihnen, Rajmohan, hält den Computerchip für die moderne Version von Gandhis Spinnrad. Seine Schwester Tara gibt sich weniger optimistisch: Wenn sie an Gandhi denke, dann fielen ihr die vielen Menschen in Indien ein, die Häuser bauen und selbst kein Dach über dem Kopf haben, dazu die zahllosen Bauern, die Ernten einbringen und trotzdem hungrig sind.

Obwohl Bernard Imhasly seine Eindrücke in der ersten Person schildert, beschränkt er sich weitgehend auf die Rolle des Beobachters. Nur an einigen Stellen drückt er seine eigene Haltung zu Gandhi unmißverständlich aus. Entschieden teilt er mit Gandhi das Ideal der Gewaltlosigkeit. Den Glauben des heutigen Staatspräsidenten an die Abschreckungspotentiale der Atombombe etwa weist Imhasly deutlich als einen Abschied vom politischen Erbe Gandhis zurück.

Ambivalent bleibt er hingegen bei der Beurteilung der Marktöffnung Indiens, der Orientierung auf die Privatwirtschaft, die Anfang der 90er Jahre eingeleitet wurde. Nicht zu Wort kommen bei Imhasly die Gandhi-Anhänger, die diese Marktöffnung als »Neokolonialismus« bezeichnen und darin eine Ursache für die wachsenden sozialen Spannungen sehen.

Die Begegnungen mit den unterschiedlichen Gesprächspartnern und das reichhaltige historische Wissen gehören zu den Stärken des Reportagebandes. Er bietet lesenswerte Einblicke in die Binnenstruktur des politischen und religiösen Indiens und seiner Widersprüche im 21. Jahrhundert.

Bernard Imhasly: Abschied von Gandhi? Eine Reise durch das neue Indien, Herder Verlag, Freiburg 2006, 256 Seiten, 22 Euro

** Aus: junge Welt, 16. November 2006


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