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Der Antipolitiker

Kampf gegen Korruption: Indischer Aktivist Arvind Kejriwal will mit "Aam Aadmi Party" bei Regionalwahl in Delhi erstmals auftrumpfen

Von Thomas Berger *

Noch gut zwei Wochen sind es, bis am 4. Dezember die 15 Millionen Einwohner der indischen Hauptstadt an die Wahlurnen gerufen werden, um über ein neues Regionalparlament abzustimmen. 15 Jahre lang war Delhi fest in der Hand der auch auf nationaler Ebene regierenden Kongreßpartei (INC), angeführt von Chefministerin Sheila Dixit. Diesmal jedoch haben sich die Spielregeln verändert, denn ein neuer Akteur hat die Bühne betreten: Antikorruptionsaktivist Arvind Kejriwal schickt sich an, mit seiner erst vor einem Jahr aus der Taufe gehobenen »Aam Aadmi Party« (AAP) das System der etablierten Konkurrenten um die Macht gehörig durcheinanderzuwirbeln. Ginge es allein nach der Person, wäre er für eine Mehrheit der Wähler allen Umfragen zufolge sogar der Favorit. Zumindest aber dürfte seine AAP mit einem respektablen Ergebnis eine Alleinregierung des INC oder der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) als zuvor einzige relevante Gegenkraft verhindern.

Delhi mag unter den indischen Unionsstaaten an Größe nur ein Winzling sein. Doch es hat nicht zu unterschätzende Symbolkraft, wer in der Hauptstadt des Riesenlandes politisch den Ton angibt. Für Kejriwal und sein Team ist dies ein extrem wichtiger Testlauf: Gelingt es einer gänzlich neuen Gruppierung, die aus einer breiten Volksbewegung entstanden ist, das etablierte Parteiensystem aufzubrechen? »Aam Aadmi« heißt »Normalbürger«, »kleiner Mann von der Straße«, und die AAP will nicht nur im bisherigen Wählerreservoir der beiden Großen wildern, sondern vor allem auch jene ansprechen, die sich in der Vergangenheit eher enttäuscht von der Politik abgewandt haben und den Wahllokalen ferngeblieben sind. Viele haben allein bei der letzten Wahl 2008 eher widerwillig abgestimmt: Von denen, die zwar letztlich von ihrem Stimmrecht Gebrauch machten, erklärten laut einer Umfrage des Instituts CSDS 88 Prozent, an keiner einzigen Wahlveranstaltung teilgenommen zu haben, 67 Prozent stuften den Wahlkampf generell als für sie nicht relevant ein.

Das ist diesmal spürbar anders. Die AAP hat frischen Wind in die verstaubte Konfrontation der altgedienten Konkurrenten gebracht. Zudem sprechen Kejrival und seine Getreuen genau jene Themen an, die den Einwohnern Delhis tatsächlich auf den Nägeln brennen: Steigende Energiepreise und generell explodierende Lebenshaltungskosten, das Fehlen von ausreichend Krankenhäusern, die mangelhafte Basis-Infrastruktur in den zahlreichen Slums, die löchrigen Straßen. Vor allem aber Sicherheit und Korruption. Delhi mag das politische Zentrum des Landes sein. Außerdem aber gilt die Metropole neben Mumbai (Bombay) als Kriminalitätshauptstadt Indiens – und auch schon vor dem für internationale Schlagzeilen sorgenden Fall der brutalen Massenvergewaltigung einer 23jährigen Studentin mit Todesfolge im Dezember 2012 als »Vergewaltigungshauptstadt«. Überdies haben zuletzt zahlreiche Unregelmäßigkeiten rund um Investitionsprojekte bei den Commonwealth Games 2010 gezeigt, daß hier vieles »gut geschmiert« läuft.

Saubere Politik ist die ultimative Kernforderung der AAP, die ihre eigenen Kandidaten genau prüft und finanzielle Unterstützung aus dubiosen Kanälen ablehnt. Parteigründer Kejriwal soll sogar eine Spende von 500 Millionen Rupien (sieben Millionen Euro) abgelehnt haben, weil ihr Ursprung fragwürdig war. Daß die Partei dennoch für den Wahlkampf inzwischen mit etwa 160 Millionen Rupien arbeiten kann, liegt daran, daß wohlhabende Mitglieder und Sympathisanten für sie im Bekanntenkreis die Werbetrommel rühren und selbst in die Tasche greifen. Gerade in der hochmodernen westlichen Vorstadt Gurgaon, wo etliche namhafte Firmen ihren Sitz haben, hat sich ein breiter Unterstützerkreis gebildet – obwohl diese Förderer oft selbst nicht einmal in Delhi direkt wohnen und damit kein Wahlrecht haben.

Das Versprechen einer ehrlichen, korruptionsfreien Politik zieht indes nicht nur bei der hochgebildeten oberen Mittelklasse. Auch viele Slumbewohner, bisher meist treue INC-Wähler, fühlen sich von der neue Kraft angezogen. Schließlich haben sie in der Vergangenheit als Gegenleistung für ihre Stimme bei Wahlen kaum etwas erhalten, fehlt es in den Armenvierteln noch immer am Allernötigsten, sind eine Reihe von Elendssiedlungen nicht einmal offiziell erfaßt und damit von jeder staatlichen Hilfeleistung ausgeschlossen.

Arvind Kejriwal, ehemals Mitarbeiter der Steuerbehörde und später enger Mitstreiter des Antikorruptionsaktivisten Anna Hazara, hat sich nicht nur mit seinem einstigen Mentor wegen der Parteigründung entzweit. Auch andere prominente Vertreter der Bewegung mochten seinen Schritt nicht mitgehen. Die AAP findet allerdings breiten Zulauf: In der Parteiführung tummeln sich bekannte Studenten- und Gewerkschaftsführer, Frauenrechtlerinnen, Minderheiten- und Bildungsaktivisten ebenso wie Wissenschaftler, Anwälte und ehemalige Richter. Für die Regionalwahl in Delhi legt das Team den Finger auf so manche Wunde auf städtischer Ebene – ein umfassendes Programm, um auch gesamtnational nächstes Frühjahr bei der Parlamentswahl richtig Flagge zeigen zu können, fehlt allerdings. Gerade in Sachen Wirtschaftspolitik ist bislang nicht klar, ob sich die AAP neben ihrer fortschrittlichen Agenda in anderen Bereichen auch als antikapitalistische, linke Kraft einordnen läßt.

Noch gefällt sich Kejriwal in der Rolle als faktischer Antipolitiker. Schwierig könnte es werden, wenn die AAP im Fall unklarer Mehrheitsverhältnisse von den beiden Konkurrenten als potentieller Partner umworben wird. Eine politische Ehe auf Zeit mit INC wie BJP nach der Wahl könnte die Glaubwürdigkeit in der Kernfrage des Kampfes gegen dubiose Seilschaften und Korruption auf eine harte Probe stellen. Bislang arbeiten sich die Neulinge im Wahlkampf vor allem an der regierenden Kongreßpartei ab. Und auch Sheila Dixit (75) weiß sehr wohl, daß die größte Gefahr für ihren Machterhalt diesmal nicht von der BJP, sondern von der AAP ausgeht.

* Aus: junge Welt, Montag, 18. November 2013


Das Bild der netten Tante trügt

Chefministerin Sheila Dixit ist mit vielen Wassern gewaschen

Von Thomas Berger **


Es gehört in Indien schon einiges dazu, sich über drei Legislaturperioden hinweg an der Spitze eines Unionsstaats zu behaupten. Mehrfach hat es innerhalb der hauptstädtischen Kongreßpartei (INC) Versuche gegeben, gegen Sheila Dixit Intrigen zu spinnen und sie aus dem Amt zu drängen. Doch die 75jährige Vollblut-Politikerin, die nach außen allzu oft das Bild der netten Tante von nebenan abgibt, ist mit allen Wassern gewaschen und konnte bislang jeden Vorstoß dieser Art meist schon im Keim ersticken. Einige derer, die ihr potentiell gefährlich werden konnten, wurden auf Posten außerhalb Delhis weggelobt, andere Kontrahenten einfach kaltgestellt. Vieles davon hätte nicht funktioniert, wenn die Chefministerin nicht ein besonderes Verhältnis zu Sonia Gandhi hätte. Es gibt nur wenige, die so wie Sheila Dixit als engste Vertraute der INC-Parteivorsitzenden gelten können.

Anders als Sonia Gandhi, die weniger durch eigenes Zutun als aufgrund ihrer Heirat mit Rajiv Gandhi in Indiens »First Family« und somit an die Spitze gelangte, hat sich Sheila Dixit persönlich hochgearbeitet. Ihre frühe Prägung erhielt sie an der gleichen katholischen Konventschule, die auch die Alma Mater von Sozialaktivistin Aruna Roy sowie der burmesischen Oppositionsführerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi war. Erste Führungserfahrungen sammelte sie an der Spitze der Young Women’s Association, für die sie in den 1970ern in Delhi zwei der erfolgreichsten Herbergen für arbeitende Frauen einrichtete. Gleichberechtigung der Geschlechter und Frauenförderung waren ihr auch weiter wichtig, 1984 bis 1989 war sie Mitglied der UN-Kommission für den Status von Frauen. Sogar ins Gefängnis hat sie ihr Engagement kurzzeitig gebracht: Als sie im bevölkerungsreichsten Unionsstaat Uttar Pradesh 1990 eine Bewegung anführte, die Mißhandlungen von Frauen anprangerte, saßen sie und andere Aktivistinnen dafür 23 Tage in Haft. Dem weiteren Aufstieg schadete das nicht: Bevor sie nach dem INC-Wahlsieg 1998 ihr jetziges Amt antrat, hatte sie bereits als Staatsministerin in der Nationalregierung gewirkt.

Daß ausgerechnet Delhi nun als so unsicheres Pflaster für den Schutz von Frauen gilt, wirkt angesichts dieser Vita besonders schwer. Zudem blieb von einigen Korruptionsskandalen rund um die »Commonwealth Games« ein Restverdacht auch an ihr persönlich haften. Als einer der größten Erfolge ihrer langjährigen Amtszeit zählt Delhis Metro – das modernste und mit weit über 200 Kilometern bisher umfassendste U-Bahn-Netz indischer Großstädte. Auch die effektive Umstellung des öffentlichen Nahverkehrs auf Gasantrieb nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofes darf sie sich zuschreiben

** Aus: junge Welt, Montag, 18. November 2013


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