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Indien und der indisch-pakistanische Konflikt: Ereignisse ab Juni 2002

Zusammengestellt aus Agenturmeldungen

1. - 9. Juni 2002

Am 2. Juni reisten derb indische Premier Vajpayee und der pakistanische Militärmachthaber und Präsident Musharraf nach Almaty (Kasachstan), wo am 3. Juni ein Gipfeltreffen von 16 asiatischen Staaten beginnt. Im Vorfeld hatte es Vajpayee abgelehnt, während des Gipfels mit Musharraf zu einem direkten Gespräch zusaammenzukommen. Musharraf dagegen hatte sich dazu bereit erklärt. Beide Regierungschefs betonten aber, dass es auf ihrer Seite keine unkontrollierten Eskalationsmaßnahmen im indisch-pakistanischen Konflikt geben würde. Musharraf: "Ich glaube nicht, dass eines unserer beiden Länder so unverantwortlich ist, dass es an diese Grenzen (den Einsatz von Atomwaffen, d. Red.) verstoßen würde." Und der indische Verteidigungsminister George Fernandes sagte: "Indien hat sich klar zu einem Verzicht auf einen atomaren Erstschlag bekannt."

Auch am Wochenende (1./2. Juni) kam es zu Gefechten an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir. Dabei wurde eine Frau getötet. Acht Menschen sind bei einem Angriff mit Werfergranaten von pakistanischen Soldaten verletzt worden. Bei einem Anschlag in der Nähe von Srinagar starb ein Zivilist, sieben Menschen wurden verletzt. Die indische Polizei vermutet Moslem-Separatisten hinter dem Anschlag.

Nach Informationen aus kaschmirischen Separatistenkreisen ist auf Anweisung der pakistanischen Regierung das Einschleusen von Extremisten über die Waffenstillstandslinie in den indischen Teil Kaschmirs gestoppt worden.
Nach den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland hat nun auch die UNO begonnen, ihre Mitarbeiter aus Pakistan und Indien zurückzuholen.

Neben Russland bemüht sich auch China um das Zustandekommen eines dirketen Gesprächs zwischen Musharraf und Vajpayee in Almaty (Kasachstan). Am 3. Juni appellierte auch UN-Generalsekretär Kofi Annan an Indien und Pakistan, durch einen direkten Meinungsaustausch die Atomkriegsgefahr zu verringern.
Bei Artilleriegefechten an der Grenze in Kaschmit sind am 3. Juni sechs pakistanische Soldaten getötet worden, hieß es in indischen Quellen.

Am 4. Juni scheiterte der Versuch, Musharraf und Vajpayee zu einem dirketen Gespräch zu bringen, endgültig. Auf dem Asiengipfel in Almaty saßen sie nur etwa fünf Meter voneinander entfernt, würdigten sich aber keines Blicks. Stattdessen beschuldigten sie sich gegenseitig, den Konflikt um Kaschmir zu schüren. Musharraf sagte: "Wir wollen keinen Krieg. Aber wenn uns der Krieg aufgedrängt wird, werden wir uns mit äußerster Entschlossenheit verteidigen." Vajpayee machte Pakistan für den Terrorismus verantwortlich, dessen "Epizentrum in unserer Nachbarschaft liegt". Indien sei erst zu Verhandlungen bereit, wenn Pakistan den "grenzüberschreitenden Terrorimsmus" unterbinde. - So blieb es bei gesonderten Gesprächen, die der russische Präsident mit Musharraf und Vajpayee führte.

Die 16 Teilnehmerstaaten des Asiengipfels verabschiedeten mit Zustimmung Indiens und Pakistans eine Erklärung, wonach den Unabhängigkeitsbestrebungen eine Absage erteilt wurde. Separatismus sei eine der größten Gefahren für die Stabilität in Asien, heißt es darin.
Die Gefechte an der Grenze in Kaschmir gingen auch am 4. Juni weiter. Im indischen Teil Kaschmirs wurden zwei Zivilisten bei einem Anschlag getötet. Außerdem hätten pakistanische Soldaten in der Region Jammu mindestens zwei Dutzend Kühe erschossen.

Am 5. Juni schlug der indische Premier Vajpayee vor, Indien und Pakistan sollten gemeinsame Militärpatrouillen in der umstrittenen Grenzregion Kaschmir durchführen. Voraussetzung sei allerdings, dass Pakistan das Eindringen moslemischer Extremisten auf indisches Gebiet stoppe. In Islamabad wurde der Vorschlag zurückhaltend aufgenommen. Der Informationsminister sagte, Pakistan ziehe "unabhängige Beobachter" zur Überwachung der Lage an der Grenze vor.
Indische Soldaten erschossen nach eigenen Angaben im Grenzgebiet von Poonch am 5. Juni sechs mutmaßliche Mitglieder des islamistischen Gruppe Lakshar-e-Taiba. Delhi macht diese Gruppe verantwortlich für das Attentat auf das indische Parlament im Dezember 2001.

Am 6. Juni traf sich der stellvertretende US-Außenminister Richard Armitrage in Islamabad mit Präsident Musharraf. Armitrage betonte im Anschluss, Musharraf habe klargemacht, "dass er den frieden will, dass er nicht derjenige sein will, der einen Krieg beginnt." Außerdem habe er versichert, dass keine islamistischen Extremisten über die Grenze nach Indien eindringen. - Zuvor hatte Präsident Bush telefonisch mit Musharraf und mit dem indischen Premier Vajpayee gesprochen. Er habe beide aufgefordert, "Maßnahmen zur Entspannung in der Region und zur Minderung der Kriegsgefahr zu ergreifen".
Bei Grenzgefechten wurden am 6. Juni auf pakistanischer Seite zwei Mädchen getötet.
Indien testete am 6. Juni einen neuen Prototyp des Kampfflugzeugs LCA TD 2. Verteidigungsminister Fenrnandes sagte, der Zeitpunkt des Tests habe nichts mit den gegenwärtigen Spannungen zu tun, sondern sei zufällig.
Am 7. Juni wurde bekannt, dass in den vergangenen drei Wochen mehr als 70.000 Bewohner von rund 100 indischen Dörfern entlag der Waffenstillstandslinie ihre Häuser verlassen hätten. Auch aus der 100.000-Einwohner-Stadt Kotli in Pakistan flohen viele Menschen. Am 7. Juni wurden bei Grenzgefechten mindestens acht Zivilisten und mehrere Soldaten auf beiden Seiten getötet.
Richard Armitage hat Vermittlungsgespräche in Delhi mit dem indischen Premier geführt. Danach sagte er, die Spannungen zwischen Indien und Pakistan hätten nachgelassen.
Am selben Tag beteuerte Pakistans Militärmachthaber Musharraf seine Unterstützung für die Separatisten im indischen Teil Kaschmirs. - Der pakistanische Außenminister Abdul Sattar reichte aus Gesundheitsgründen am 7. Juni seinen Rücktritt ein.

Pakistan hat am 8. Juni ein unbemanntes indisches Spionageflugzeug abgeschossen. Das Wrack der Drohne sei nahe der pakistanischen Stadt Raja Jang in der Provinz Punjab niedergegangen. Aus Delhi verlautete, solche Aufklärungsflüge seien in der gegenwärtigen Lage auf beiden Seiten eine Selbstverständlichkeit.

Am 9. Juni zeichnet sich eine gewisse Entspannung zwischen Indien und Pakistan ab. In einer Erklärung des indischen Außenministeriums heißt es: "Wir begrüßen Pakistans Versprechen, den grenzüberschreitenden Terrorismus zu unterbinden". Indien werde vorsichtig dessen Umsetzung auf dem Boden bewerten, bevor "angemessen und positiv" darauf geantwortet würde, zitiert die Online-Ausgabe der "Hindustan Times" aus der Erklärung. Zu den Antworten zählen voraussichtlich die Aufstockung des diplomatischen Personals Indiens in Islamabad, die Aufhebung des Flugverbotes für pakistanische Maschinen im indischen Luftraum und die Wiederaufnahme von Zug- und Busverbindungen zwischen beiden Ländern. Das sagte ein ungenannter Regierungsvertreter der Nachrichtenagentur AFP. Von einer militärischen Deeskalation könne jedoch nicht die Rede sein. Auch der pakistanische Militärmachthaber Musharraf beurteilt die Lage in der Region optimistisch. Er sagte der Zeitung "New Straits Times" in Malaysia, er erwarte eine Entspannung der Lage und die Aufnahme von Gesprächen über Kaschmir.

10. - 15. Juni 2002

Indien hat am 10. Juni den Luftraum für pakistanische Linienmaschinen wieder freigegeben. Damit reagiert Neu-Delhi auf Zusagen Pakistans an den US-Vizeaußenminister Richard Armitage, härter gegen "Extremisten" vorgehen zu wollen.
Am 11. Juni demonstrierten im pakistanischen Muzaffarabad rund 10.000 Menschen gegen die allzu "entgegenkommende" Haltung des pakistanischen Machtahebrs gegenüber Indien. Der Vorsitzende der größten nationalistischen rechtsgerichteten Partei ("Jamaat-e-Islami"), Qazi Hussain Ahmed, sagte, man werde nicht zulassen, dass Kaschmir geopfert werde.
Als weitere Geste zur Entspannung hat Indien am 11. Juni mit dem Abzug seiner Kriegsschiffe vor Pakistans Küste begonnen. Aus Neu-Delhi verlautete außerdem, Indien wolle vielleicht die seit Monaten verwaiste Botschafterstelle wieder besetzen.
An der Grenze hielten aber die Gefechte weiter an. Mindestens sieben Menschen sollen am 11. Juni dabei getötet worden sein, auf pakistanischer Seite sechs, ein Offizier auf indischer Seite.

Am 12. Juni beriet US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bei einem Staatsbesuch in Indien mit verschiedenen Ministern, wie US-Aufklärungstechnik ("Frühwarnsystem") eingesetzt werden könne, um ein Eindringen islamistischer Kaschmirkämpfer nach Indien zu überwachen. Nach Rumsfeld gebe es Anzeichen dafür, dass sich Al-Qaida-Mitgliedeer in Kaschmir aufhielten. Sein indischer Amtskollege George Fernandes sprach von hunderten Kämpfern. Einen Tag später sagte Rumsfeld bei seinem Besuch in Islamabad, die USA hätten keinerlei Beweise für Al-Qaida-Aktivitäten in Kaschmir.
Gefechte an der indisch-pakistanischen Grenze wurden auch am 12. Juni gemeldet. Die Situation bleibe "finster", sagte Pakistans Machthaber Musharraf, solange sich die Truppen an der Grenze gegenüberstünden.
An der indisch-pakistanischen Grenze kam es am 13. Juni zu Artilleriegefechten. Indien beschuldigte Pakistan, auch auf Zivilisten zu zielen. Ein Mann sei getötet worden.

Am 14. Juni hob auch Pakistan die Alarmbereitschaft für seine Kriegsschiffe im Arabischen Meer auf.
Ungeachtet dessen kam es an der Grenze wieder zu Gefechten, wobei mindestens acht Menschen getötet wurden.
Bei einem Anschlag auf das US-Konsulat in Karatschi (Pakistan) sind am 14. Juni mindestens 11 Menschen getötet und 40 verletzt worden. Der Attentäter rammte die Mauer des Konsulats mit einem mit Sprengstoff beladenen Kleinbus. Unter den Toten befinden sich vier Polizisten, ein Passant,, zwei nicht identifizierbare Frauen und der Attentäter. Nach Auskunft der US-Botschaft in Islamabad sollen unter den Verletzten fünf pakistanische Konsulatsmitarbeiter und ein US-Soldat sein. Die pakistanische Polizei ging zunächst von einem Selbstmordanschlag aus. Am 15. Juni verdichteten sich aber Hinweise darauf, dass die Bombe per Fernzündung ausgelöst worden sein könnte. Der Sprengsatz sei demnach im Auto eines Fahrlehrers versteckt gewesen. Er sei detoniert, als der Mann mit drei Fahrschülerinnen an dem Konsulat vorbeifuhr. Die Insassen hatten von der tödlichen Fracht offenbar nichts gewusst.

16. - 21. Juni 2002

Im indischen Teil Kaschmirs wurde am 16. Juni eine Gruppe von etwa 500 Hindu-Pilgern überfallen - vermutlich von Moslem-Separatisten. Dabei wurden sechs Menschen getötet, unter ihnen zwei Kinder und ein 17-jähriges Mädchen sowie drei Muslime, die den Pilgerzug begleiteten. Dabei ging das Gerücht um, die Muslime wären erst im Anschluss an den Tod der drei Jugendlichen aus Vergeltung von den Pilgern umgebracht worden.
Auch an der Grenze kam es wieder zu heftigen Gefechten mit mindestens drei Todesopfern.
Am 18. Juni kamen sowohl aus Pakistan als auch aus Indien Signale zu einer Entspannung. Pakistans Außenamtssprecher hat für den Fall eines indischen Truppenrückzugs von der gemeinsamen Grenze ebenfalls den gleichzeitigen Abzug seiner Soldatennin Aussicht gestellt. Eine Abrüstung der Kaschmir-Region sei "sehr wünschenswert", sagte er. Laut Presseberichten erkannte der indische Premier Vajpayee pakistanische Fortschritte bei der Eindämmung extremistischer Übergriffe im indischen Teil Kaschmirs an. Es gibt "sichtbare Veränderungen" an der Grenzlinie, sagte er.
Dennoch kam es auch am 18. Juni wieder zu Gefechten an der Grenze und zu Attentaten im indischjen Teil Kaschmirs.
Auch am 19. Juni kam es noch zu Grenzgefechten. Indiens Regierung gab bekannt, dass in den vergangenen zwei Wochen deutlich weniger islamistische Extremisten von Pakistan aus in den indischen Teil Kaschmirs eingedrungen seien. Der indische Außenminister Fernandes sagte aber auch, die indische Armee werde solange keine Truppen von der Grenze abziehen, "solange es den grenzüberschreitenden Terrorismus gibt".

Bei verschiedenen Zusammenstößen im indischen Teil Kaschmirs sind am 20. Juni mindestens sieben Menschen getötet worden, darunter sechs mutmaßliche Terroristen.
Amnesty international (ai) veröffentlichte am 20. Juni einen Bericht, wonach in Pakistan im Zuge des Anti-Terror-Kampfes fortgesetzt Menschenrechte verletzt würden. Verdächtige würden z.B. isoliert oder in Länder abgeschoben, in denen ihnen Folter drohe. Hunderte von Gefangegen, die verdächtigt werden, Al-Qaida-Mitglieder zu sein, haben werder die Möglichkeit, ihre Verwandten zu benachrichtigen oder einen Anwalt zu konsultieren.

Der britische Premierminister Tony Blair hat jüngste Waffenlieferungen an die verfeindeten Atommächte Indien und Pakistan verteidigt. Den Vorschlag, Großbritannien solle "unter den gegebenen Umständen die Verteidigungsindustrie dicht machen", halte er für "absolut bizarr", sagte Blair am 21. Juni in London. Dies berichtete einen Tag später die Frankfurter Rundschau. Die britische Opposition hatte zuvor Zahlen veröffentlicht, wonach London auch nach der Zuspitzung des Kaschmir-Konflikts im Dezember weit über 160 Lizenzen für Waffenexporte nach Indien und Pakistan erteilte. Allein vom 1. bis zum 20. Mai gab die Industrie- und Handelsabteilung demnach 39 Genehmigungen für die Ausfuhr nach Indien und vier für Pakistan aus. Zwei Tage später rief London rund 150 Botschaftsmitarbeiter aus Pakistan zurück und riet britischen Staatsbürgern zur Ausreise.

22. - 30. Juni 2002

Nach Ansicht des pakistanischen Militärmachthabers Musharraf bleibt die Lage zwischen Indien und Pakistan ernst, solange sich die Truppen entlang der Demarkationslinie in Kaschmir gegenüberstehen. Auch am 22. Juni kam es dort zu wiederholten Gefechten.
Ein Sprecher der pakistanischen Regierung hat Meldungen zurückgewiesen, wonach sich Osama bin Laden in Pakistan aufhalte.
Bei einem Gefecht mit mutmaßlichen Al-Qaida-Kämpfern in einer Gebirgsregion nahe der afghanischen Grenze sind zehn pakistanische Soldaten getötet worden, teilte das Innenministerium in Islamabad am 26. Juni mit.
Die pakistanische Militärregierung hat am 27. Juni Vorschläge bekanntgegeben, wonach per Verfassungsänderung dem pakistanischen Staatschef Musharraff weitgehende Vollmachten gegeben werden sollen: So soll der Militärmachthaber nach eigenem Ermessen den Premier entlassen und das Parlament auflösen können. Außerdem soll ein Nationaler Sicherheitsrat unter Vorsitz Musharrafs gebildet werden, der auch den Ausnahmezustand über das Land verhängen kann. Insgesamt handelt es sich um 28 Verfassungsänderungen. Sie stünden nun einen Monat lang zur Debatte, dann werde der derzeitige Nationale Sicherheitsrat über die endgültigen Änderungen entscheiden.
In Anantnag im indischen Teil Kaschmirs explodierte am 27. Juni auf einem Marktplatz eine Handgranate. Es wurden 25 Menschen verletzt.
Bei schweren Konflikten im indischen Teil Kaschmirs sind am 29. Juni mindestens elf Menschen getötet worden: Die Polizei erschoss drei schwerbewaffnete Männer beim Überqueren der Demarkationslinie in Richtung Indien. Bei einem mehrstündigen Gefecht mit Kämpfern der pro-pakistanischen Moslem-Gruppe Lashkar-e-Toiba ("Armee der Gerechten") sind in Rajouri mehrere Separatisten und ein indischer Soldat getötet worden.
Indien hat am 30. Juni erneut eine Rakete getestet. Sie stammt aus der russischen "Smerch"-Reihe und hat eine Reichweite von 70 bis 90 km.



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