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Indien und der indisch-pakistanische Konflikt: Ereignisse ab April 2002

Zusammengestellt aus Agenturmeldungen

1. - 7. April 2002

Am 3. April kam es zu neuerlichen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems im indischen Gujarat. Nach Polizeiangaben sind sechs Menschen getötet worden. Drei Häuser von Moslems sind Ziel von Brandanschlägen geworden.
Die Unruhen im Bundesstaat Gujarat hielten mehrere Tage an. Daran konnte auch der Besuch des indischen Premiers Atal Behari Vajpayee in der Region am 4. April nichts ändern. Vajpayee hatte die Regierung des Unionsstaates aufgefordert, Leben und Besitz aller Bürger ohne Ansehen ihrer Religion zu schützen. Am 6. April kamen mindestens fünf Menschen ums Leben. Am 7. April schickte Delhi rund 350 Mitglieder der Bundespolizei in die Region, um die dortigen Polizeikräfte zu verstärken.

In einem am 5. April veröffentlichten Interview des Nachrichtenmagazins Der Spiegel drohte der pakistanische Militärmachthaber Pervez Musharraf Indien mit der Atombombe. Wenn der Druck auf sein Land zu groß werde, sagte er, komme als allerletzte Möglichkeit auch der Einsatz pakistanischer Atomwaffen in Frage. Pakistan habe im Kampf gegen die Terroristen genügend Vorleistungen erbracht, um den Konflikt zwischen beiden Staaten zu entschärfen. Indien rüste aber weiter auf.

8. - 12. April 2002

Bei erneuten Unruhen zwischen Hindus und Moslems sind am 10. April in der Nähe der westindischen Stadt Bombay mindestens drei Menschen getötet worden.


13. - 19. April 2002

Am 17. April wurden in indischen Zeitungen Untersuchungsergebnisse eines Komitees veröffentlicht, das im Auftrag von Frauengruppen Übergriffe gegen moslemische Frauen im Bundesstaat Gujarat untersucht hatte. Nach deren Aussage sind während der Unruhen der vergangenen Wochen zahlreiche Frauen vergewaltig worden. "Wir waren erschüttert vom Ausmaß und von der Brutalität der Gewalt", heißt es in dem Bericht. "Nicht einmal minderjährige Mädchen und Mütter mit Kindern wurden verschont", wurde Komitee-Mitglied Malini Ghosh zitiert.

20. - 25. April 2002

Am 22. April kam es zu schweren Artilleriegefechten zwischen Indien und Pakistan an der Grenze im geteilten Kaschmir. Dabei sollen nach indischen Angaben acht pakistanische Soldaten getötet worden sein. Pakistan habe angegriffen, hieß es in Delhi.
Im indischen Bundesstaat Gujarat sind bei neuerlichen Zusammenstößen mindestens 16 Menschen getötet und 91 verletzt worden. Zu den 16 Getöteten zählen auch neun Muslime, die schon am einen Tag zuvor in der Provinzhauptstadt Ahmedabad von Polizisten erschossen wurden.

26. April bis 5. Mai 2002

Am 26. April kam es zu erneuten Artilleriegefechten an der indisch-pakistanischen Grenze im geteilten Kaschmir. Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig, die Gefechte in der Nähe von Nowshera begonnen zu haben. Indischen Angaben zufolge seien mehrere pakistanische Soldaten getötet worden; Pakistan widersprach dieser Darstellung.
In einer Moschee in Bakkar in der pakistanischen Provinz Punjab sind bei einem Anschlag auf ein schiitisches Pilgerfest in der Nacht zum 26. April zzwölf Frauen und Kinder getötet worden. Die Schiiten stellen etwa 15 Prozent der Bevölkerung in Pakistan (die Sunniten stellen die Mehrheit). Es war der dritte derartige Anschlag seit Februar.
Am 30. April findet in Pakistan ein Referendum statt, mit dem sich der Militärmachthaber Pervez Musharraf für weitere fünf Jahre die Präsidentschaft sichern will. Viele Parteien und religiöse Gruppen rufen zum Boykott auf. Gespannt wartet man daher vor allem auf die Höhe der Wahlbeteiligung, weniger auf das Ergebnis der Abstimmung.
Am 1. Mai wurde das Ergebnis des Referendums präsentiert: 98, 2 Prozent der Wähler haben den Militärmachthaber Musharraf für fünf weiter Jahre in seinem Amt bestätigt. Offizielle Stellen sprachen von einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent, die oppositionelle Pakistanische Volkspartei der ehemaligen Ministerpräsidentin Benazir Bhutto sprach dagegen nur von fünf bis höchstens acht Prozent.

Ein Misstrauensantrag der Opposition im indischen Parlament gegen den Premierminister Atal Behari Vajpayee wegen dessen zögerlicher Haltung in Gujarat ist abgelehnt worden. Die Opposition warf der Regierung vor, den Schutz religiöser Minderheiten nicht garantieren zu können.

6. bis 15. Mai 2002

Bei einem Selbstmordattentat auf einen Bus im pakistanischen Karachi sind am 8. Mai 14 Menschen getötet worden, 34 wurden verletzt. Unter den Toten befinden sich 10 Franzosen. Sie waren in Pakistan mit dem Bau eines U-Bootes beschäftigt. Militärmachthaber Musharraf hat "scharfe Gegenwehr" des Staates angekündigt. Sowohl die pakistanischen als auch die französischen behörden halten es für möglich, dass Al Qaida hinter dem Anschlag stecken könnte.
Nach dem Bombenanschlag in Karachi wurden am 10. Mai in Pakistan fast 300 Personen festgenommen. Dabei handle es sich nach Regierungsangaben um Mitglieder verbotener militanter Gruppen. Einen Tag später (11.05.) war die Rede davon, dass die Polizei eine Großrazzia eingeleitet habe, in deren Verlauf Hunderte von Verdächtigen verhaftet wurden.

Ein Angriff mutmaßlicher islamischer Extremisten auf ein Armeelager im indischen Teil von Kaschmir am 14. Mai hat die Spannungen zwischen Indien und Pakistan wieder verschärft. "Pakistan ist direkt dafür verantwortlich", sagte der indische Verteidigungsminister George Fernandes im Anschluss an einen Besuch am Tatort, dem indischen Militärstützpunkt Stützpunkt in Kaluchak. Bei dem Angriff auf einen Bus und auf eine Wohnsiedlung der Soldaten waren am Morgen des 14. Mai auf 33 Menschen getötet worden. Ein Kind erlag am darauffolgenden Tag seinen Verletzungen. Die drei Attentäter wurden bei dem Schusswechsel ebenfalls getötet.
Der indische Ministerpräsident Atal Behari Vajpayee kündigte am 15. Mai Vergeltung für den Anschlag an. Der indische Verteidigungsminister nannte Pakistan "direkt verantwortlich".

16. bis 24. Mai 2002

Minister und hochrangige Generäle berieten am 16. Mai über die Konsequenzen aus dem Attentat vom 14. Mai. Armeechef Padmanabhan sagte, die Zeit zum Handeln sei gekommen.
Bei einem erneuten Bombenanschlag im indischen Teil von Kaschmir ist am 17. Mai ein Mensch getötet und sind 13 Menschen verletzt worden. Von der Grenze wurden Feuergefechte zwischen indischen und pakistanischen Grenztruppen gemeldet. Mehrere hunder Bewohner flohen aus dem Gebiet.
Unterdessen beriet das indische Parlament über einen möglichen Vergeltungsschlag gegen Pakistan. Vertreter der Regierungspartei BJP (Hindupartei Bharatiya Janata) sprachen sich für einen Militärschlag aus.
Am Pfingswochenende (18./19./20. Mai) kam es zu mehreren Überfällen und Anschlägen auf indische Stützpunkte in Kaschmir. Am 18. Mai wurde der pakistanische Botschafter aus Indien ausgewiesen. Am 20. Mai lieferten sich indische und pakistanische Grenztruppen wieder heftige Gefechte, bei denen nach pakistanischen Angaben drei Zivilisten getötet wurden.

Auch am fünften Tag hintereinander kam es zu größeren Gefechten an der Grenze zwischen beiden Ländern. Am 21. Mai wurde in Srinagar (im indischen Teil Kaschmirs) der als gemäßigt geltende Führer der Dachorganisation von 23 kaschmirischen Separatistengruppen von Unbekannten erschossen.
Indiens Premierminister Vajpayee traf zu einer dreitägigen Visite in Jammu ein, der Winterhauptstadt der Provinz Jammu und Kaschmir. Er besuchte u.a. die Verletzten des Anschlags vom 14. Mai.
Unterdessen verlautete aus Washington, dass US-Vizeaußenminister Richard Armitage "in Kürze" nach Südasien reisen werde.
Am 22. Mai beschloss die britische Regierung, 150 Botschaftsmitarbeiter aus Pakistan abzuziehen. Als Grund wurden Drohungen gegen die britische Vertretung angegeben.
Die Töne aus Delhi und Islamabad werden immer schärfer. Indiens Premier Vajpayee schwor bei einem Besuch der Grenztruppen am 22. Mai die indischen Truppen auf die "entscheidende Schlacht" im Kampf gegen den Terrorismus ein. Pakistan warf er vor, den Konflikt um Kaschmir zu schüren. An der indisch-pakistanischen Grenze stehen sich eine Millione Soldaten gegenüber. - Die pakistanische Regierung erklärte nach einer Krisensitzung, sie werde den "gerechten Kampf des Volkes von Jammu und Kaschmir" um Unabhängigkeit weiter unterstützen. Ein Generalstreik legte das öffentliche Leben in Kaschmir lahm. Der britische Außenminister Jack Straw warnte am 23. Mai vor einem Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan. Er kündigte an, in der nächsten Woche zu Vermittlungszwecken in die Region zu reisen. Aus Islamabad verlautete inzwischen, Pakistan wolle Truppen von der Grenze zu Afghanistan an die indische Grenze verlegen.
Die Kämpfe an der indisch-pakistanischen Grenze gingen auch am 23. Mai weiter. Drei indische Dörfer an der Grenze gingen in Flammen auf. 5o Dörfer seien von Pakistan aus beschossen worden, berichtete ein TV-Sender. Außerdem seien nach Polizeiangaben aus Indien 15 Menschen bei einem Rebellenangriff durch eine Granate verletzt worden.
Am 24. Mai stellt sich die Lage im indisch-pakistanischen Grenzkonflikt leicht entspannt dar. Indien räumte Pakistan eine Frist ein, den "grenzüberschreitenden Terrorismus" einzudämmen. Es soll sich dabei aber nicht um ein "Ultimatum" von zwei Monaten handeln. Dass der indische Premier Vajpayee seinen dreitägigen Besuch in Kaschmir beendete und zu einem Kurzurlaub in den Ferienort Manali aufbrach, werten Beobachter als ein gutes Zeichen. Auch wurden aus dem Grenzgebiet nur noch vereinzelte Schusswechsel gemeldet.

25. - 31. Mai 2202

Am 25. Mai testete Pakistan eine Mittelstreckenrakete vom Typ "Ghauri", die über eine Reichweite von 1.500 bis 2.000 km verfügen soll. Am 26. folgte ein Test mit einer neuen Boden-Boden-Rakete vom Typ Hatf III mit einer Reichweite von 290 km. Beide Raketen können atomare Sprengköpfe tragen. Die pakistanische Staatsführung wollte die Tests als "Routine-Angelegenheit" hinstellen; die Nachbarländer seien vorab informiert worden. Dennoch erregten die Tests im Ausland große Besorgnis. Sowohl Washington als auch Moskau forderten zur Mäßigung auf. Das US-Außenministerium rät inzwischen von Reisen nach Indien und Pakistan ab. In Indien selbst gab man sich gelassen. Premier Vajpayee sagte: "Wir nehmen das nicht so ernst." Die deutsche Bundesregierung will einen Teil des Botschaftspersonals aus Pakistan abziehen; ähnliches hatten zuvor Großbritannien, die USA und Frankreich beschlossen.

Am 26. Mai explodierte in einem pakistanischen Dorf in der Nähe zur afghanischen Grenze eine Bombe und riss acht Kinder in den Tod. Die Bombe lag in einem Schrotthaufen, an dem die Kinder spielten. Dorfbewohner berichteten, die Schrottladung stamme aus einer Region im Südosten Afghanistans, die von den USA massiv bombardiert worden sei.

In einer Fernsehansprache betonte der pakistanische Präsident Musharraf am 27. Mai, von Pakistan aus gebe es keinen "Export des Terrrorismus". Gleichzeitig bekräftigte er die Haltung seines Landes, "den Freiheitskampf in Kaschmir weiterhin moralisch und politisch" zu unterstützen. - Der indische Finanzminister Yashwant Sinha äußerte sich dahingehend, dass Indien für einen Krieg viel besser gerüstet sei als Pakistan.
Auch am 27. Mai gab es Gefechte an der indisch-pakistanischen Grenze.
Am 28. Mai testete Pakistan erneut eine Kurzstreckenrakete. Auch diesmal gab sich die indische Regierung gelassen. Die Raketen seien vom Hersteller schon längst mehrfach getestet worden. Außenminister Jaswant Singh wörtlich: "Wir stehen längst in einem Krieg. Im Krieg gegen den Terror, dessen Epizentrum in Pakistan liegt."
Aus Moskau verlautete, dass es sowohl aus Islamabad als auch als Delhi Zeichen gebe, dass beide Seiten - zunächst getrennt voneinander - zu Gesprächen mit dem russischen Präsidenten Putin bereit seien.
Ein "denkbares Mittel" sei der Einsatz von Atomwaffen, um auf einen indischen Angriff mit konventionellen Waffen zu antworten, sagte der pakistanische UN-Botschater, Munir Akram, am 29. Mai in New York.
Am 30. MAi zog Pakistan weitere Soldaten von der afghanisch-pakistanischen Grenze ab. Möglicherweise sollen sie an die indische Grenze verlegt werden.
Hier kam es zu weiteren Artilleriegefechten, in deren Verlauf am 30. Mai auf beiden Seiten 28 Soldaten getötet und etwa 20 verletzt worden seien. Vermutlich kaschmirische Rebellen erschossen bei einem Angriff auf eine indische Polizeistation zwei indische Polizisten; zwei der Angreifer wurden ebenfalls erschossen.
London und Washington fürchten einen Atomkrieg um Kaschmir: Die Regierungen beider Länder haben am 31. Mai ihre Bürger aufgefordert Indien zu verlassen. In Indien leben etwa 60.000 Amerikaner und 20.000 Briten. Eine ähnliche Aufforderung war bereits eine Woche zuvor an die US- und GB-Bürger in Pakistan ergangen.


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