Gesichter eines Jubiläums
Indien begeht heute den 65. Jahrestag seiner Unabhängigkeit
Von Hilmar König *
Herr Premier, morgen ist der Unabhängigkeitstag. Wenn Sie da in Ihrer Botschaft an die Nation nicht über Schwarzgeld und Korruption reden, dann sind Sie ebenso schuldig wie jene, die korrupt sind.« Das erklärte der prominente Joga-Guru Baba Ramdev am Dienstag vor Tausenden Anhängern in Neu-Delhi. Indien feiert am heutigen Mittwoch (15. August) den 65. Jahrestag der Unabhängigkeit. Die Regierung der Vereinten Progressiven Allianz (VPA) nimmt das zum Anlaß, auf die Fortschritte seit der Befreiung vom britischen Kolonialjoch hinzuweisen. Für die Opposition bietet dieser Tag eine Gelegenheit, Schwächen der VPA und besonders das leidige Thema der Korruption ins rechte Licht zu rücken.
Sechs Tage protestierte Baba Ramdev mit einem Hungerstreik in der indischen Hautpstadt gegen die landesweit auf allen Ebenen üblichen Bestechungspraktiken. Er forderte von der Regierung, umgehend illegal im Ausland »geparktes« Schwarzgeld nach Indien zu transferieren und sozialen Zwecken zuzuführen. Am Montag wollte er mit seiner Gefolgschaft zum Parlament marschieren, wurde jedoch von der Polizei festgenommen und erst am Abend wieder auf freien Fuß gesetzt. So sicherte er sich nicht nur die Aufmerksamkeit der Medien, sondern auch die Solidarität zahlreicher Oppositionsparteien. Immer wieder hatte er betont, es handele sich bei seinem Hungerstreik um »keine politische Manifestation«.
Doch der Präsident der rechten Indischen Volkspartei (BJP), Nitin Gadkari, sowie Vertreter der Bahujan Samaj Party, der Telugu Desam Party, der Janata Dal (U) oder der Samajwadi Party stellten sich demonstrativ an seine Seite und wetterten gegen Premierminister Manmohan Singh und die Kongreßpartei, die den Kurs der regierenden Allianz bestimmt. Das Joga-Idol forderte schließlich selber – unmißverständlich politisch – »Congress hatao, desh batschao!« Das bedeutet: »Weg mit der Kongreßpartei. Rettet das Land!« Janardan Dwivedi, Generalsekretär der attackierten, ältesten Partei Indiens, konterte: Jetzt habe Ramdev seine Maske fallen lassen. »All unsere Vermutungen zur Politik dieser Bewegung und zu deren Drahtziehern haben sich damit bewahrheitet«, kommentierte er. Für die VPA steht fest, daß die BJP sowohl die Antikorruptionsbewegung des Baba Ramdev steuert als auch die Aktionen des Anna Hazare, des anderen prominenten Kämpfers für ein striktes Gesetz gegen Korruption. Ziel der BJP sei, so eine Volksbewegung zu organisieren, die bei den nächsten Parlamentswahlen einen Machtwechsel bewirkt. Eine Reihe von Bestechungsskandalen, in die auch Minister verwickelt sind, liefert dafür jede Menge Munition.
Dank Baba Ramdev und Anna Hazare steht das Korruptionsproblem gegenwärtig zwar im Mittelpunkt des Medieninteresses. Es ist aber beileibe nicht der einzige Wermutstropfen für die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag. Obwohl Indien immer noch auf Wirtschaftswachstumsraten von rund acht Prozent verweisen kann, wird die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer. Laut Statistik der Millennium-Entwicklungsziele (MDG) leiden 237 Millionen der etwas über 1,2 Milliarden Inder ständig Hunger. Nach offiziellen Angaben des National Crime Records Bureau begingen 14004 Bauern allein im Jahre 2011 Selbstmord. Hochverschuldet sahen sie keinen anderen Ausweg aus ihrer Misere. Alarmierend auch die Müttersterblichkeit: Alle zehn Minuten stirbt eine Inderin während der Schwangerschaft, während oder nach der Geburt. Unterernährung, Säuglingssterblichkeit und viele andere soziale Übel plagen die Schwächsten.
Der Premier erklärt deshalb immer wieder beschwörend, die Entwicklung müsse »inclusive« werden, also gerade diesen benachteiligten Bevölkerungsteil einbeziehen. Nur geht der seit 1991 immer mehr forcierte marktwirtschaftliche Kurs praktisch in eine andere Richtung. Die Milliardäre, Millionäre und die wohlhabende Mittelklasse profitieren davon, für die Habenichtse fällt kaum etwas ab. Entsprechend unterschiedlich begeht die Nation auch den 15. August.
Bemerkenswert immerhin: In den 65 Jahren der Unabhängigkeit sind gerade eben wegen der sozial-ökonomisch-ökologisch unbefriedigenden Lage Nichtregierungsorganisationen an vielen Fronten entstanden. Sie engagieren sich in den Bereichen Menschenrechte, Umweltschutz, Gleichberechtigung der Frauen, Kinderarbeit, ethnische und religiöse Minderheiten, Förderung der Indigenen und Dalits (Unberührbare, Kastenlose), im Kampf gegen Unrecht und soziale Ungleichheit. Das hat durchaus Veränderungen bewirkt. Auf Druck solcher Organisationen sind zum Beispiel das Recht auf Information, auf kostenlose Bildung, auf Mindestlöhne sowie ein Beschäftigungsprogramm für die ländlichen Gebiete gesetzlich verankert worden.
* Aus: junge Welt, Mittwoch, 15. August 2012
"Rettet das Land!"
Zum 65. Unabhängigkeitstag Indiens liefert ein Yoga-Guru die Schlagzeilen
Von Hilmar König *
Indien begeht am heutigen Mittwoch
den 65. Jahrestag der Unabhängigkeit.
Für die Regierung der Vereinten
Progressiven Allianz (VPA) Anlass,
auf die Entwicklungsfortschritte seit
der Befreiung vom britischen Joch
hinzuweisen. Für die Opposition eine
Gelegenheit, Schwächen der VPA und
besonders das leidige Thema der
Korruption ins rechte Licht zu rücken.
Wenn es eine internationale Wettkampfdisziplin
Korruption gebe,
dann wäre Indien die Goldmedaille
sicher. Sarkastisch äußerte
das kurz vor dem Abschluss der
Olympischen Spiele in London und
kurz vor Indiens 65. Unabhängigkeitstag
der prominente Yoga-Guru
Baba Ramdev vor Tausenden
Anhängern in Delhi. Ramdev befand
sich bis Dienstag in einem
sechstägigen Hungerstreik. Damit
protestierte er gegen die landesweit
auf allen Ebenen üblichen
Bestechungspraktiken und forderte
von der Regierung, umgehend
illegal im Ausland »geparktes
« Schwarzgeld nach Indien zu
transferieren und sozialen Zwecken
zuzuführen. Am Montag
wollte er mit seiner Gefolgschaft
zum Parlament marschieren,
wurde jedoch von der Polizei festgenommen
und erst am Abend
wieder auf freien Fuß gesetzt.
Baba Ramdev sicherte sich damit
nicht nur die Aufmerksamkeit
der Medien, sondern auch die Solidarität
etlicher Oppositionsparteien.
Immer wieder hatte er betont,
es handele sich bei seinem
Hungerstreik um
»keine politische
Manifestation«.
Doch der Präsident
der rechten Indischen
Volkspartei
(BJP), Nitin Gadkari,
sowie Vertreter der
Bahujan Samaj Party,
der Telugu Desam
Party, der Janata
Dal (U) oder der Samajwadi
Party stellten sich demonstrativ an
seine Seite und wetterten gegen
Premierminister Manmohan Singh
und die Kongresspartei, die den
Kurs der regierenden Allianz bestimmt.
Das Yoga-Idol
erhob schließlich
selber eine unmissverständlich
politische
Forderung.
»Congress
hatao, desh
batschao!«, rief
er den im Ambedkar-
Stadion
Versammelten
zu. Das bedeutet:
»Weg mit
der Kongresspartei,
rettet das Land!« Kein Wunder,
dass Janardan Dwivedi, Generalsekretär
der attackierten ältesten
Partei Indiens, konterte: Jetzt habe
Ramdev seine Maske fallen lassen.
»All unsere Vermutungen zur
Politik dieser Bewegung und zu
deren Drahtziehern haben sich
damit bewahrheitet«, kommentierte
er.
Für die VPA steht fest, dass die
BJP sowohl die Antikorruptionsbewegung
des Baba Ramdev steuert
als auch die Aktionen des Anna
Hazare, des anderen prominenten
Kämpfers für ein striktes Gesetz
gegen Korruption. Ziel der BJP
sei, so eine Volksbewegung zu
organisieren, die bei den
nächsten Parlamentswahlen
einen Machtwechsel
bewirkt.
Eine Reihe von Bestechungsskandalen
lieferten dafür jede Menge
Munition.
Das Korruptionsproblem steht
zwar dank Baba Ramdev und Anna
Hazare gegenwärtig im Mittelpunkt
des Medieninteresses, ist
aber beileibe nicht der einzige
Wermutstropfen in die Feierlichkeiten
zum Unabhängigkeitstag.
Obwohl Indien immer noch auf
Wirtschaftswachstumsraten von
rund acht Prozent verweisen kann,
wächst die Kluft zwischen Arm und
Reich. Laut Statistik der Millennium-
Entwicklungsziele leiden 237
Millionen der etwas über 1,2 Milliarden
Inder ständig Hunger.
Nach offiziellen Angaben des
National Crime Records Bureau
begingen 14 004 Bauern
allein im Jahre 2011 Selbstmord.
Hoch verschuldet, sahen
sie keinen anderen
Ausweg
aus ihrer Misere. Alarmierend
auch die Müttersterblichkeit: Alle
zehn Minuten stirbt eine Inderin in
der Schwangerschaft, während
oder nach der Geburt. Unterernährung,
Säuglingssterblichkeit
und viele andere Übel plagen die
Schwächsten.
Deshalb erklärt Premier Manmohan
Singh immer wieder beschwörend,
die Entwicklung müsse
»inclusive« werden, also gerade
diesen benachteiligten, beträchtlichen
Bevölkerungsteil einbeziehen.
Nur geht der seit 1991 immer
mehr forcierte marktwirtschaftliche
Kurs praktisch in eine andere
Richtung. Milliardäre, Millionäre
und die wohlhabende Mittelklasse
profitieren davon, für die Habenichtse
fällt kaum etwas ab. Entsprechend
unterschiedlich feiert
die Nation auch den 15. August.
Bemerkenswert immerhin: In
den 65 Jahren der Unabhängigkeit
sind gerade eben wegen der sozial-
ökonomisch-ökologischen Lage
Nichtregierungsorganisationen an
vielen Fronten entstanden. Sie engagieren
sich in den Bereichen
Menschenrechte, Umweltschutz,
Gleichberechtigung der Frauen,
Kinderarbeit, ethnische und religiöse
Minderheiten, Förderung der
Indigenen und Dalits (Unberührbare,
Kastenlose), im Kampf gegen
Unrecht und soziale Ungleichheit.
Das hat durchaus Veränderungen
erzwungen. Auf Druck solcher Organisationen
sind zum Beispiel das
Recht auf Information, auf kostenlose
Bildung, auf Mindestlöhne
sowie ein Beschäftigungsprogramm
für die ländlichen
Gebiete gesetzlich verankert
worden.
** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 15. August 2012
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