Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Indien veränderte die Welt und tut dies auch weiter

Zum 60. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens: Der große Einfluss auf die sowjetische Außenpolitik im Kalten Krieg

Von Dmitri Kossyrew *

Die Bedeutung von Indiens Unabhängigkeit, deren 60. Jahrestag am 15. August begangen wird, sehen wir heute mit neuen Augen.

Aus einer Entfernung von mehr als einem halben Jahrhundert können wir schon begreifen, dass dieses Land zuerst Großbritannien und dann die ganze Welt verändert hat. Und es tut dies auch weiter.

Am 15. August 1947, als Lord Mountbatten die britische Flagge in Delhi einzog, war vielen klar, das mit dem Land, das jemand automatisch noch als die einzige Supermacht betrachtete, wenn es sich im Zweiten Weltkrieg auch nicht ganz erfolgreich gezeigt hatte, etwas Außerordentliches geschah. Es ist auch nicht klar, von welchem Standpunkt aus das Vorrücken Amerikas an die erste Stelle in der damaligen Welt berechnet werden soll - vom Bombardement von Hiroschima und Nagasaki oder gerade vom Hissen der weiß-grün-safrangelben Fahne über dem Roten Fort von Delhi. Auf jeden Fall konnte sich keiner damals auch nur vorstellen, dass das Britische Reich sich nicht änderte, sondern einfach vor aller Augen zusammenschmolz und dass Großbritannien einfach eines der europäischen Länder wurde.

Dass die Macht des Reichs über Indien zu Ende ging, war schon Anfang der 1930er Jahre klar. Also war dies im Jahre 1947 keine große Überraschung mehr. Als überraschend kann eher der Umstand gelten, dass gerade Indien der britischen Gesellschaft zu einer inneren Umwandlung verholfen hat, die sie in bedeutendem Maße vom Syndrom der geruhsamen rassistischen Überlegenheit gegenüber einer Vielzahl von Völkern heilte, die weitaus älter und zivilisierter sind, als die britische Nation selbst. Das ist vor allem ein Verdienst der wohl größten von den Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, Mohandas Karamchand Gandhi.

Gandhi rief Begeisterung hervor, alle Denker der damaligen Epoche (auch viele britische Kolonialverwalter) waren bemüht, sich mit ihm zu treffen. Das war vielleicht die markanteste von den Figuren, die zeigten, dass die eroberten Völker nicht zweitrangig sind und dass sie gerade in kultureller und moralischer Hinsicht, vor allem durch die Fähigkeit, ihre Ziele ohne Gewaltanwendung durchzusetzen, den Europäern überlegen sein können. Man hat die Lehren von Gandhi bis jetzt nicht zu eigen gemacht, denn das Zeitalter der Rückkehr der uralten Zivilisationen zu ihren Schlüsselpositionen in der Welt ist noch nicht zu Ende. Doch die Briten haben als erste begonnen, die Unvermeidlichkeit - oder zumindest die Möglichkeit - dieser Entwicklung zu begreifen.

Dass die Unabhängigkeit Indiens unter anderem die Außenpolitik der Sowjetunion geändert hat, ist möglicherweise eine Einzelfrage, aber von dieser „Einzelheit“ war die Weltordnung ein halbes Jahrhundert abhängig.

Im Jahre 1947 war sich die Stalin-Führungsspitze selbstverständlich dessen noch nicht ganz bewusst, was geschah. Denn Indien war faktisch das erste von mehreren Dutzend Ländern, die im Laufe der 50er und 60er Jahre ihre Unabhängigkeit wieder erlangten. Für China blieben damals noch zwei Jahre bis zum Sieg der Revolution und es gab noch keinen sowjetischen Block in Europa. Die UdSSR hat die diplomatischen Beziehungen zum neuen Indien vier Monate vor der Erlangung seiner formellen Unabhängigkeit aufgenommen. Doch Moskau, das damals erst zu begreifen anfing, dass es in der Außenwelt nicht nur Feinde geben kann, betrachtete das Phänomen des unabhängigen Indien in erster Linie als Dorn im Auge Großbritanniens und erst danach als einen möglichen Weg eines großen Volkes „zum Sozialismus“. Gandhi bewertete das Stalin-Regime als einen weiteren - jedoch sehr merkwürdigen und ihm völlig fremden - Revolutionär.

Ein Wandel trat fast ein Jahrzehnt später ein und war mit Nikita Chruschtschow und seinem (nach Wjatscheslaw Molotow) zweiten Außenminister Dmitri Schepilow verbunden. Die Verwandtschaftsbeziehungen des Verfassers dieses Beitrags mit Schepilow gestatteten es, viele Einzelheiten darüber zu erfahren, wie sich die Denkweise Moskaus in der poststalinistischen Epoche wandelte. Das Hauptinstrument der Wandlungen waren konfliktvolle Berichte und Zettel sowjetischer Diplomaten.

Gerade bei Schepilow entstand die Idee, der zufolge die Länder, die sich vom Kolonialismus befreit haben, natürliche Bündnispartner der UdSSR seien, selbst wenn sie nicht beabsichtigen, dem Sowjetblock beizutreten und den Sozialismus aufzubauen. Zugegebenermaßen ist diese Konzeption am Beispiel der anderen Splitter des Britischen Reichs - von Ägypten und Syrien - ins Leben gerufen worden, wo Schepilow mittels der Versuchs-und-Irrtum-Methode nach dem richtigen Ton des Gesprächs mit den neuen Partnern suchte. Späterhin zählten auch Indien, Indonesien und viele andere Länder zu den Freunden. Laut Schepilows Erinnerungen hat Indien Moskau gezeigt, dass die Länder der neuen Welt sehr groß, potentiell sehr stark, von einer Klientenabhängigkeit völlig abgeneigt und trotz alledem offenbar befreundet sein können. Und - das ist unumstritten - sie können im Schoß der Zukunft in Bezug auf die vitalen Interessen unseres Landes liegen.

Beim nächsten Außenminister, Andrej Gromyko, haben sich die Beziehungen Moskaus zu den „Entwicklungsländern“ zu einem klaren und ideologisch durchformulierten System gestaltet, blieben jedoch ihrem Wesen nach dieselben, wie sie Mitte der 50er Jahre hergestellt wurden. Die Politik der UdSSR gegenüber dieser „Dritten“ Welt blieb nahezu 40 Jahre lang unverändert und wurde - in einem nicht geringeren Maße, als strategisches Arsenal - zu einer Quelle der geopolitischen Stärke Moskaus. Dazu gehört auch der wirtschaftliche Vorteil davon, was zu Sowjetzeiten gewohnheitsmäßig „Hilfe“ für andere Länder genannt wurde. Diese „Hilfe“ hat konkurrenzfähige Exportbranchen der sowjetischen Wirtschaft herausgebildet.

Ob die russische politische Klasse fähig genug sein wird, heute, da fast jeder sechste Einwohner unseres Planten Inder ist und da für Indien in nächster Zukunft die zweite Position in der Weltwirtschaft (nach China) faktisch gesichert ist, den Erfolg ihrer Vorgänger zu nutzen? Zurzeit wird gerade diese Frage entschieden.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 14. August 2007;
http://de.rian.ru



Zurück zur Indien-Seite

Zur Russland-Seite

Zurück zur Homepage