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Krasse Kontraste zwischen zwei Welten

60 Jahre unabhängiges Indien – bemerkenswerte Fortschritte und ein ungelöstes Grundproblem

Brinda Karat, erste und einzige Frau im Politbüro der KP Indiens (Marxistisch), zieht im ND-Gespräch eine Bilanz zum 60. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens. Die 59-jährige Politikerin ist seit August 2005 Abgeordnete im Rajya Sabha, dem Oberhaus des Parlaments. Seit 1971 ist sie Parteiarbeiterin. Sie war in den 80er Jahren Sekretärin der Textilarbeiter-Union des Zentralen Indischen Gewerkschaftsbundes CITU und Mitglied der Führung des Allindischen Demokratischen Frauenverbandes. Im November 1975 heiratete sie Prakash Karat, heute Generalsekretär der KPI(M). Unser Indien-Korrespondent Hilmar König befragte Brinda Karat in Delhi.
Wir dokumentieren im Folgenden das Interview sowie einige ergänzende Informationen über Indien.



ND-Interview mit Brinda Karat, Kommunistin und Abgeordnete des indischen Oberhauses *

ND: Wie schätzen Sie die Entwicklung der Republik Indien in 60 Jahren Unabhängigkeit ein?

Karat: Meine Antwort finden Sie zunächst vielleicht komisch: Es ist ein Gemischtwarenladen. Verglichen mit anderen Staaten Südasiens hat sich Indien bemerkenswert entwickelt, Fortschritte gemacht. Die Nation hat Selbstsicherheit erlangt und die Unabhängigkeit bewahrt. Das scheint mir das Wertvollste. Wir können auf Errungenschaften verweisen – etwa in der Wissenschaft, der Kosmosforschung, der Informationstechnologie. Wir haben großartige Ärzte. Auf erfolgreiche Inder trifft man überall in der Welt.

Und die andere Seite?

Die andere ist das Grundproblem, der Kampf gegen die Armut, um Gleichheit und Gleichberechtigung. Da muss ich leider ein spektakuläres Versagen des politischen Kurses nach Erlangen der Unabhängigkeit konstatieren. Der Kontrast zwischen den beiden indischen Welten – den Wohlhabenden und den Habenichtsen – ist krass und äußerst beunruhigend. Das trifft übrigens auch auf die Frauen zu. Wir hatten eine Frau als energische Regierungschefin. Wir haben Frauen an der Spitze von Parteien. Trotzdem ist das Patriarchat noch quicklebendig und schlägt zu, wo und wann immer es kann.

Indien hat seit Kurzem eine Frau als Staatsoberhaupt – Pratibha Devi Singh Patil. Wird sich das auf die Rolle der Frauen in der indischen Gesellschaft auswirken?

Das wird keine 1:1-Gleichung sein: heute eine Präsidentin, morgen die Gleichberechtigung. Aber immer mehr Frauen in öffentlichen Positionen, das wird allmählich Wirkung zeigen. Das Beispiel der Staatspräsidentin trägt dazu bei, Stereotype zu brechen.

Seit Jahren schmort im Parlament der Gesetzentwurf über eine Frauenquote von 33 Prozent in den Volksvertretungen der Unionsstaaten und im Zentralparlament. Was verhindert den Durchbruch?

Abgeordneter zu sein bringt Privilegien, Macht, Ansehen. Die meisten Parteien werden von Männern dominiert, auch das Parlament. Die Frauenquote würde bedeuten, sie müssten rund 180 Abgeordnetensitze abgeben. Dagegen sträuben sie sich.
Außerdem wollen Koalitionen – die Regierung wird ja von der Vereinten Progressiven Allianz gebildet und von uns Linken von außen unterstützt – in strittigen Fragen Konsens erzielen. Das ist jedenfalls bislang die Haltung der Regierung und der Kongresspartei, die in der Koalition den Ton angibt. Leider lehnt einer der Allianzpartner, die Partei Rashtriya Janata Dal, die Quotenregelung strikt ab. Ich glaube nicht, dass Konsens erforderlich ist. Das scheint mir lediglich ein Feigenblatt für Parteien zu sein, die sich vor der Entscheidung drücken. Wir sind für eine Abstimmung im Parlament. Meine Partei und die anderen Linken sind entschlossen, die Quote demnächst zu einer Hauptfrage im Parlament zu machen. Ich bin nicht gerade zuversichtlich, dass wir Erfolg haben, aber wir lassen nicht nach.

Ist die Unterstützung der Linken für die Regierung der Allianz nicht ein Balanceakt?

Überhaupt nicht. Wir unterstützen das Gemeinsame Minimalprogramm der Vereinten Progressiven Allianz. Wo die Regierung es verwirklicht, kann sie unserer Zustimmung sicher sein. Alles andere lehnen wir ab, eindeutig, ohne Balanceakt. Zum Beispiel sagen wir strikt nein zur Privatisierung von Renten und Versicherungen, zum Abbau des staatlichen Sektors in der Wirtschaft oder zur Aushöhlung der Arbeitsgesetze. Da sage ich nur: Nicht mit uns!

Wie steht es um Indiens Außenpolitik im 60. Jahr?

Wir erleben in der Außenpolitik eine generelle Bewegung nach rechts. Deutlich sind die Bemühungen der Regierung, Indien zum Juniorpartner der USA in Südasien zu machen. Die Dominanz der USA und die aggressive Nutzung ihrer militärischen Macht sowie das Fehlen einer Gegenkraft wirken sich nachteilig auf die Entwicklungsländer aus. Meine Partei tritt für eine Außenpolitik ein, die ganz den nationalen Interessen entspricht. Wir sind gegen jeden Schritt, der die traditionelle unabhängige Außenpolitik Indiens aufweicht. Wir begrüßen die Belebung der Beziehungen mit China und den anderen Nachbarstaaten, wir sind für den Friedensdialog mit Pakistan und äußern zugleich unsere Besorgnis, dass terroristische Gruppen Basen auf dem Gebiet Pakistans und Bangladeschs nutzen, um unschuldige Menschen in Indien anzugreifen. Das schafft Hindernisse im Friedensprozess.

Hat die KPI(M) eine Definition, was Terrorismus ist und wer als Terrorist gelten muss?

Wir kennen den Kontext, die sozialen Gründe und Hintergründe für Terrorismus, aber wir rechtfertigen, akzeptieren ihn nicht. Im Übrigen betrachte ich USA-Präsident Bush als größten Terroristen, weil er anderen seine Ansichten mit militärischer Stärke aufzwingt.

60 Jahre unabhängiges Indien sind auch 60 Jahre Entwicklung der Linken, trotz des Einschnitts 1964, als sich die Kommunisten in KPI und KPI(M) teilten.

Ich spreche nur für meine Partei. Unsere Grundlinie – taktisch und strategisch – führte dazu, dass wir im Unionsstaat Westbengalen nun 30 Jahre die Regierung stellen. Das ist eine historische Errungenschaft. Sie wurde nur möglich, weil wir starke ideologische Wurzeln haben, auf solidem marxistisch-leninistischem Fundament stehen und die indischen Bedingungen berücksichtigen. Dank unserer Stärke haben wir Einfluss auf die indische Regierungspolitik. Gemeinsam mit anderen linken Parteien konnten wir Maßnahmen der Regierung verhindern, die nachteilig für die Werktätigen gewesen wären. Ich erwähnte die Privatisierung der Rentenfonds. Das versuchen die Neoliberalen seit zehn Jahren. Wir haben es durchkreuzt.
Sicherlich haben wir nicht die Fortschritte gemacht, die wir uns vorgenommen hatten. Unsere Hochburgen sind in Westbengalen, Kerala und Tripura. In Andhra Pradesh und Tamil Nadu sind wir auch ganz gut vertreten. Aber in Nordindien ist unser Einfluss noch zu gering. Insgesamt haben wir jedoch in Indien trotz des Rückschlags der sozialistischen Bewegung Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre zugelegt.

Gibt es Aussichten auf die Wiedervereinigung beider Parteien?

Von unserer Seite gibt es keine Bewegung in diese Richtung. Aber praktisch arbeiten wir auf vielen Gebieten zusammen. Es gibt gemeinsame Massenaktionen, beide Parteien wirken in Westbengalen in der Linksfront. Und wir unterstützen die Zentralregierung gemeinsam auf die erläuterte Weise.

Links ist doch aber links. Welche unüberwindbaren Hürden gibt es?

Nein, links ist nicht gleich links. Wir haben einen marxistisch-leninistischen Organisationsrahmen, einen prognostischen Standpunkt, eine Strategie für die indische Revolution und eine Definition von Klassen und möglichen Bündnispartnern. Da gibt es Unterschiede.

Zurück zur Regierung der Linksfront in Westbengalen. 30 Jahre, wie hat sie das geschafft?

Mit einer Bodenreform, der Einführung des Panchayati Raj, der Übertragung von Verantwortung und der Mitbestimmung der Menschen in den ländlichen Gebieten. Wir haben in Indien viele Spalterkräfte, dank unseres Wirkens nicht aber in Westbengalen. Das Kastenproblem der Unberührbarkeit besteht nicht. Es herrscht Harmonie zwischen den verschiedenen Gemeinschaften.

Harmonie? Das Industrialisierungskonzept von Chefminister Buddhadeb Bhattacharjee hat scharfe Auseinandersetzungen hervorgerufen, bei denen mehr als ein Dutzend Menschen starben.

Industrialisierung ist Teil der Wirtschaftspolitik der KPI(M). Sie ist nötig für Fortschritt und Beschäftigung. Kontroversen sind da nicht verwunderlich. Wir agieren mit begrenzten Möglichkeiten in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem. Wir haben ja keine sozialistische Republik Westbengalen. Unser Konzept enthält die weitere Entwicklung der Agrarwirtschaft, Investitionen zur Stärkung der Kleinindustrie und die Ansiedlung von Produktionsbetrieben, Konzernen wie mittelständischen Unternehmen. Da es in Westbengalen kaum ungenutztes Land gibt, müssen Bauern ihren Boden für Industrieprojekte zur Verfügung stellen. Dabei ist unsere Prämisse: Wer Ackerland verkauft, soll danach einen besseren Lebensstandard haben. Industrialisierung muss mit dem Einverständnis und der Teilnahme der betroffenen Bauern und Landarbeiter geschehen.

Als Abgeordnete verfügen Sie über einen Entwicklungsfonds. Für welche Projekte nutzen Sie ihn?

Das wird mit der Partei abgestimmt. Ich setze das Geld im westbengalischen Distrikt East Midnapore ein, wo es viele Stammesangehörige gibt. Da geht es um Solarenergieprojekte und Sanitäreinrichtungen für Mädcheninternate in solchen Stammesgebieten.

Aus der Chronik des Subkontinents

  • Am 15. August 1947 erlangte Indien nach einem nahezu gewaltlosen Freiheitskampf, inspiriert und geleitet von Mahatma Karamchand Gandhi, seine Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht – um den Preis der Teilung und der gleichzeitigen Gründung Pakistans.
  • Am 26. Januar 1950 wurde die Republik ausgerufen, die dem nationalen Motto »Einheit in der Vielfalt« folgen sollte.
  • 1952 fanden die ersten Parlamentswahlen statt. Erster Premierminister des freien Indiens wurde Pandit Jawaharlal Nehru, Mitbegründer der Bewegung der Blockfreien, die für die Durchsetzung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz eintrat. Nach seinem Tod 1964 bestimmte seine Tochter Indira Gandhi über viele Jahre als Premierministerin und Chefin der Kongresspartei die Geschicke des Landes. Mitte der 70er Jahre büßte sie allerdings durch die Verhängung des Ausnahmezustands für einige Jahre stark an Popularität ein.
  • 60 Jahre Unabhängigkeit sind auch von Kriegen gekennzeichnet: 1962 mit China, 1965 ein 16-Tage-Krieg mit Pakistan, 1971 der Krieg, der zur Unabhängigkeit Bangladeschs führte, 1984 die Besetzung des im nördlichen Kaschmir gelegenen Siachen-Gletschers durch die indische Armee und im Sommer 1999 das pakistanische Militärabenteuer in Kargil. Indien testete 1974 und 1998 Atombomben, Pakistan 1998.
  • 1991 wurden marktwirtschaftliche Reformen begonnen, die Wirtschaft öffnete sich dem ausländischen Kapital, der Einfluss indischer Privatfirmen gegenüber dem staatlichen Sektor nahm spürbar zu.
[Zur jüngsten Entwicklung siehe die Chronik auf der Website der AG Friedensforschung: Chronik Indien/Pakistan]

Zahlen und Fakten

  • Mit 3,29 Millionen Quadratkilometern Fläche bildet Indien die Hauptmasse des südasiatischen Subkontinents. 2001 wurden bei einer Volkszählung 1,028 Milliarden Inder registriert.
  • In dem multireligiösen Staat leben Hindus (80,5 Prozent), Muslime (13,4), Christen (2,3), Sikhs (1,8), Buddhisten (0,7), Jains (0,4) und Angehörige anderer Religionen (0,6 Prozent). Es werden 18 Hauptsprachen und 1650 Dialekte gesprochen.
  • Zur Republik mit der Hauptstadt Delhi gehören 28 Unionsstaaten und sieben Unionsterritorien.
  • Die Legislative besteht aus dem Oberhaus (Rajya Sabha – Rat der Staaten) mit 250 Abgeordneten und dem Unterhaus (Lok Sabha – Haus des Volkes) mit 552 Abgeordneten. Der Präsident als Staatsoberhaupt ist zugleich Oberkommandierender der Streitkräfte. Seit Ende Juli ist Pratibha Patil die erste Frau an der Staatsspitze.
  • Seit 2003 erreicht Indien jährliche Wirtschaftswachstumsraten von mehr als 8,5 Prozent. Die Devisenreserven belaufen sich derzeit auf über 225 Milliarden Dollar. Zum »Wirtschaftswunder« trägt maßgeblich die Informationstechnologie mit Exporterlösen von jährlich rund 40 Milliarden Dollar bei. Die IT-Branche beschäftigt direkt 1,6 Millionen und indirekt sechs Millionen Menschen. Im Gegensatz dazu kommen aus der Landwirtschaft, in der 64 Prozent aller arbeitsfähigen Inder beschäftigt sind, Exporterlöse von etwa acht Milliarden Dollar.
  • Indien verfügt über 15 Kernkraftwerke. Acht weitere sind im Bau. Acht Satelliten sind in Betrieb. Stolz der Raumfahrtindustrie sind die beiden Trägerraketensysteme PSLV und GSLV.
  • Die Alphabetenrate – 1951 ganze 18 Prozent – liegt heute bei 65 Prozent. Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg von 36,7 auf 64,6 Jahre. Gewinner der marktwirtschaftlichen Reformen sind die Ober- und die Mittelklasse. Inzwischen gibt es 100 000 indische Millionäre. Die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößerte sich. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung leben dagegen noch immer unter oder an der Armutsgrenze.
H.K.



* Aus: Neues Deutschland, 15. August 2007


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