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Rechte gewinnt Wahlen in den Niederlanden

VVD knapp vor Sozialdemokraten / Auch Wilders legte zu / Absturz der Christdemokraten / Schwierige Koalitionsbildung erwartet

Von Tobias Müller, Amsterdam *

Die Niederlande stehen nach den Parlamentswahlen von Mittwoch (9. Juni) vor deutlichen Verschiebungen der politischen Landschaft.

Siegerin des vorgezogenen Votums wurde die rechtsliberale Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), die sich mit 31 der 150 Parlamentssitze (20,4 Prozent) denkbar knapp vor den Sozialdemokraten (PvdA, 30 Sitze, 19,6 Prozent) behauptete. Die bislang oppositionelle VVD, angetreten mit einem neoliberalen Programm aus radikaler Haushaltssanierung und Sozialeinschnitten, gewann damit neun Sitze hinzu. Spitzenkandidat Mark Rutte interpretierte dies als »Botschaft der Hoffnung, dass die Niederlande gestärkt aus der Krise kommen«.

Die PvdA, die angesichts der Krise eher auf Kaufkraft und langsame Konsolidierung der Staatsfinanzen setzt, verlor zwei Sitze.

An dritter Stelle liegt die xenophobe Partij voor de Vrijheid (PVV) des Anti-Islam-Aktivisten Geert Wilders mit 24 Sitzen (15,5 Prozent). Dass die PVV trotz eines schlecht verlaufenen Wahlkampfs und deutlich schlechterer Prognosen einen Zuwachs von 15 Sitzen verzeichnen konnte, verschiebt die politische Achse der Niederlande deutlich nach rechts. Wilders sprach vor begeisterten Anhängern von einem »glorreichen Tag für die ganzen Niederlande«. 1,5 Millionen Menschen hätten für »unsere Agenda von Hoffnung und Optimismus gestimmt: mehr Sicherheit, weniger Kriminalität, weniger Immigration und weniger Islam.«

Abgestürzt sind dagegen die Christdemokraten (CDA), die bisher mit 41 Sitzen die größte Partei waren. Nach Verlust von nahezu der Hälfte der Stimmen erzielte sie mit 20 Sitzen (13,7 Prozent) das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Dieses erklärt sich nicht nur aus der Tatsache, dass die Niederlande nach acht Jahren der CDA-Regierung überdrüssig sind. Aus dieser Position indes vermochte der CDA sich im Wahlkampf auch kaum wie gewünscht als Reformpartei in Szene zu setzen, zumal der VVD in Sachen Haushalt deutlich mehr Kompetenz zugeschrieben wird. Der bisherige Premierminister Balkenende trat unmittelbar nach den ersten Hochrechnungen von sämtlichen Ämtern zurück.

Weniger stark als erwartet waren die Verluste der Sozialisten (SP), 2006 mit 25 Sitzen noch drittstärkste Partei, die jetzt 15 Sitze (10,2 Prozent) erreichten. Spitzenkandidat Emile Roemer zeigte sich mit dem Abschneiden zufrieden. Neben den Rechtspopulisten hatte sich die SP als einzige Partei gegen eine Erhöhung des Rentenalters ausgesprochen. Gewinne gab es auch für die linksliberalen Democraten66 (von 3 auf 10 Sitze) und GroenLinks (7 auf 10). Die Wahlbeteiligung lag bei 74,5 Prozent.

In den Sternen steht bislang, welche Koalition künftig in Den Haag regieren wird. Ein von PvdA- Chef Job Cohen favorisiertes »möglichst progressives Kabinett« liegt wie erwartet unterhalb der nötigen 75 Sitze. Eine Rechtskoalition aus VVD, PVV und CDA hätte eine knappe Mehrheit, doch haben die Christdemokraten Wilders als Regierungspartner so gut wie ausgeschlossen. Alles deutet darauf hin, dass mit VVD und PvdA die beiden größten Parteien für eine Mehrheit zusammen arbeiten müssten. Angesichts der unterschiedlichen wirtschaftlichen Standpunkte verspricht diese Option erneut eine Koalition mit enormen inneren Spannungen.

* Aus: Neues Deutschland, 11. Juni 2010


Am Scheideweg

Von Tobias Müller, Amsterdam **

Nein, die Niederlande sind nicht mit einem Mal ein völlig rückwärts gewandter, einwandererfeindlicher Staat geworden. Weder gab es hier früher ein buntes, kosmopolitisches Wunderland, noch ist das seit dem Aufstieg der Rechtspopulisten ins Gegenteil umgeschlagen. Davon zeugt schon, dass vor den Wahlen mit Ausnahme der rechtsliberalen VVD alle Parteien eine Koalition mit Wilders ausschlossen. Zumindest die Hälfte der Bevölkerung lehnt die Agenda seiner PVV entschieden ab. Trotzdem haben die Niederlande allmählich ein Problem, wenn die PVV selbst nach einem Wahlkampf, in dem sie abgemeldet war, so zulegt. Hier hat sich rechtsaußen jenseits zeitweiliger Höhenflüge ein stabiles Elektorat gebildet. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass sich diese Bewegung nicht in Luft auflösen wird, ist er nun erbracht.

Doch auch der steile Aufstieg der Wahlsiegerin VVD hat es in sich. Ihre Zuwanderungspolitik kommt zwar ohne die verbalen Entgleisungen der PVV aus, ist aber kaum weniger rigide. Nicht umsonst gingen mit Wilders und Rita Verdonk die beiden xenophoben Protagonisten der vergangenen Jahre aus der VVD hervor. Allerdings - »chancenlose Migranten«, wie die Rechtsliberalen sie nennen, sind in diesen Krisentagen überall in der Eurozone nicht allzu gerne gesehen. Da geht es auch um die Frage, wie sozial die EU-Länder mit der Verteilung der Krisenlasten umgehen. Gerade wegen ihres harten Sparkurses wurde die VVD ja gewählt. Ihr Wahlsieg spricht für einen neoliberalen Ansatz, der knappe zweite Platz der Sozialdemokraten erhält zumindest die Option schonenderer Reformen. Auch hier stehen die Niederlande an einem Scheideweg.

* Aus: Neues Deutschland, 11. Juni 2010 (Kommentar)


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