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Haiti ohne Wahl

Ab Februar 2006 soll in Port-au-Prince wieder demokratisch regiert werden. Der Weg dahin ist völlig unklar

Von Harald Neuber"

Haiti kommt nicht zur Ruhe. Inmitten von bewaffneten Auseinandersetzungen und steigenden Kriminalitätsraten sollen in dem Karibikstaat noch bis Jahresende ein neuer Präsident, 27 Senatoren und 90 Parlamentsabgeordnete gewählt werden. Aufgrund der chaotischen Lage wurde der Termin von einem neunköpfigen »Außerordentlichen Wahlrat« (CEP) aber bereits zweimal verschoben: Zunächst sollte der Urnengang am 13. November stattfinden. Dann war vom 20. November die Rede. Nun ist ein Wahltermin »bis Ende des Jahres« im Gespräch.

Wenig beeindruckt von den immensen Problemen zeigt sich der Übergangspräsident, Gérard Latortue: »Wenn wir sagen, daß die Wahlen stattfinden, dann finden sie auch statt«, äußerte der ehemalige UN-Mitarbeiter und TV-Moderator nach seiner Rückkehr von einer internationalen Geberkonferenz im Brüssel Ende Oktober. Bis zum 7. Februar will er die Macht in die Hände eines neuen Präsidenten legen. Koste es was es wolle.

Problematisch ist das, weil auch einen Monat nach Ende der ursprünglichen Einschreibefrist erst ein Drittel der insgesamt 4,4 Millionen Wahlberechtigten registriert ist. Vor allem in den ländlichen Gebieten kann die Wählerschaft wegen mangelnder Infrastruktur nur schwer erreicht werden.

Die Frage ist darüber hinaus, ob diese extrem armen Teile der Bevölkerung überhaupt einbezogen werden sollen: Immerhin hatte die Lavalas-Bewegung des Ende Februar 2004 gestürzten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide vor allem hier ihre Basis. Nach offiziellen Angaben sind außerhalb der Städte erst zehn Prozent der Stimmberechtigten erfaßt. In Haiti leben 70 Prozent der Menschen in ländlichen Gebieten. Ungeachtet dessen hat der CEP am 31. Oktober die 35 Kandidaten für das Amt des Präsidenten bekanntgegeben. Unter den Anwärtern befinden sich der ehemalige Präsident René Preval (1996–2001), der Bürgermeister der Hauptstadt Port-au-Prince, Evans Paul, und Guy Phillipe. Der einstige Polizeichef gehört zu den Anführern des bewaffneten Aufruhrs gegen die letzte gewählte Regierung. Dieser Aufstand diente den USA und Frankreich im Februar 2004 als Anlaß, Haiti militärisch zu besetzen und Aristide ins Exil zu schicken. Allein der damalige Premierminister kann nicht wie geplant für die Partei Fanmi Lavalas zu den Wahlen antreten. Yves Neptune sitzt seit einem Jahr in Haft – ohne ein Verfahren.

Auch die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der UN-Blauhelmtruppe und haitianischen Gruppen dauern an. Am Dienstag gab das brasilianische Kommando der »UN-Stabilisierungsmission für Haiti« (MINUSTAH) bekannt, daß bei Gefechten im Stadtteil Cité Militaire im Norden von Port-au-Prince vier Personen erschossen wurden.

Ob der Widerstand gegen die MINUSTAH in jedem Fall politisch motiviert oder in der ausufernden Kriminalität begründet ist, läßt sich nur schwer ausmachen. Tatsache ist, daß sich Teile der Lavalas-Bewegung militärisch organisiert haben. Im Juni trat erstmals eine Gruppe mit dem Namen »Dessalinische Armee zur nationalen Befreiung« (ADLN) mit Angriffen auf Polizeistationen in Erscheinung. Unlängst bekannte sich die ADLN erneut zu einem Überfall auf eine Polizeistation in der Ortschaft Limbé im Norden des Inselstaates. Dabei war im Oktober ein Polizist getötet worden.

* Aus: junge Welt, 16. November 2005

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