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Die Kleinfürsten senkten den Daumen

Haitis Senat stürzte Regierungschefin

Von Hans-Ulrich Dillmann *

Nach dem Sturz der bisherigen haitianischen Ministerpräsidentin Pierre-Louis ist Planungsminister Jean-Max Bellerive zum neuen Regierungschef ernannt worden. Präsident René Préval hatte Bellerive bereits am Sonnabend beauftragt, so schnell wie möglich eine neue Regierung zu bilden.

Faktisch ist Michelle Pierre-Louis ihre Effizienz im Regierungsgeschäft zum Verhängnis geworden. 13 Monate stand die 62-jährige Wirtschaftswissenschaftlerin an der Spitze der haitianischen Regierung. International war sie zwar anerkannt wegen ihrer Zuverlässigkeit und ihrer kompromisslosen Haltung gegenüber Korruption, die Mitglieder des aus zwei Kammern bestehen haitianischen Parlaments verfolgten ihre Regierungspolitik jedoch mit zunehmender Ablehnung. Nach einer turbulenten Sitzung enthoben am Freitag 18 der 29 Senatoren bei einem Misstrauensvotum die gesamte Regierung ihres Amtes. Die Mehrzahl der Minister gehörte der Regierungspartei Lespaw (Hoffnung) von Staatspräsident René Preval an.

Den partikulären Interessen der Mitglieder des haitianischen Abgeordnetenhauses und des Senats hatte Pierre-Louis wenig Beachtung geschenkt. Sie stellte sich taub für Spezialwünsche des einen Deputierten, der mehr Geld für seine Provinz reklamierte, und unwillig, den Forderungen des anderen Senators nachzukommen, der Finanzspritzen für seine Klientel forderte. Dass die Frau an der Regierungsspitze die Anerkennung der internationalen Hilfsorganisationen genoss, hatte, wie diplomatische Kreise in Port-au-Prince bestätigen, die Ablehnung der Parlamentarier noch verstärkt.

Die Senatoren forderten Rechenschaft über die Verwendung von Geldern aus einem Nothilfefonds in Höhe von 197 Millionen Dollar, der nach den schweren Überschwemmungen im vergangenen Jahr eingerichtet worden war. Ein Machtspiel. Aber Pierre-Louis lehnte ihr Erscheinen vor dem Senat ab und provozierte damit indirekt das Misstrauensvotum. Die Entscheidung, sie zu entlassen, stehe ja bereits fest, verteidigte sie die Missachtung der Parlamentarier.

Schon die Wahl von Pierre-Louis war von heftigen Diskussionen begleitet. Evangelikalen Kreisen nahestehende Parlamentarier denunzierten die damalige Chefin der Nichtregierungsorganisation »Stiftung für Wissen und Freiheit« (Fondasyon Konesans Ak Liberte – FOKAL) als Lesbe und lehnten eine Berufung an die Spitze der Regierung wegen deren »unmoralischen Lebenswandels« ab. Erst nach langen Debatten gelang es, eine parlamentarische Mehrheit sowohl im Unter- als auch im Oberhaus des Parlaments für die enge Vertraute von Staatspräsident Preval zu erreichen. Aber schon damals war klar, dass die Parlamentarier, die ihre Wahlbezirke eher wie Kleinfürsten beherrschen denn als politische Vertreter ihrer Wähler agieren, der ungeliebten Ministerpräsidentin die Rechnung präsentieren würden.

Der Vorgänger von Pierre-Louis, Jacques-Edouard Alexis, war im April 2008 vom Parlament nach »Hungerrevolten« aufgrund der hohen Lebensmittelpreise gestürzt worden. Nach wie vor leben rund zwei Drittel der rund neun Millionen Einwohner der Karibikrepublik unterhalt der Armutsgrenze.

Im Armenhaus Lateinamerikas sind seit dem Sturz des Präsidenten Jean-Bertrand Aristide mehr als 9000 UN-Soldaten und -Polizisten stationiert, die die Sicherheit im Land garantieren sollen. Bereits wenige Stunden nachdem Pierre-Louis ihren Chefsessel räumen musste, wurde der Planungsminister ihres Kabinetts, Jean-Max Bellerive, zum neuen Ministerpräsident berufen. Allerdings fehlt ihm noch die Zustimmung sowohl der Deputiertenkammer als auch des Senats.

* Aus: Neues Deutschland, 3. November 2009


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