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Aristides begrenzte Macht

Haitis Opposition fordert Rücktritt des Präsidenten

Der Unmut über die Präsidentschaft des einstmals charismatischen Jean-Bertrand Aristide, der vor 10 Jahren infolge einer - ausnahmsweise von den Vereinten Nationen mandatierten - US-Intervention wieder an die Macht kam, macht sich immer häufiger in mächtigen Demonstrationen der Opposition bemerkbar. Aristide will aber nicht weichen. Für den 21. Januar 2004 ist ein internationaler Vermittlungsgespräch vorgesehen. Günter Pohl gibt einen Überblick über die augenblickliche Situation in einem der ärmsten Länder Lateinamerikas.


Von Günter Pohl

In Haiti dauern die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Anhängern des Präsidenten Jean-Bertrand Aristide und Oppositionsgruppen an. Gegen Ende vergangener Woche wurden bei der Auflösung von Demonstrationen gegen Aristide erneut drei Menschen zum Teil schwer verletzt. Trotz des Druckes von der Straße will Aristide bis Anfang Februar 2006 an der Regierung bleiben.

In der vergangenen Woche hatte der erste frei gewählte, in allen politischen Lagern jedoch umstrittene Präsident Neuwahlen des Parlaments angekündigt. Dies ist mitnichten ein Zugeständnis an die Protestierenden. Die Legislaturperiode hätte offiziell ohnehin am 13. Januar geendet. Beide Seiten stehen sich also nach wie vor unversöhnlich gegenüber. Am kommenden Mittwoch nun wollen Vertreter der Regierung und der Opposition in Nassau (Bahamas) mit Vermittlern der Karibikgemeinschaft CARICOM zusammenkommen.

Haiti blickt auf eine lange Geschichte der politischen Gewalt zurück: Zwischen 1957 und 1986 wurde die ehemalige französische Kolonie diktatorisch vom Duvalier-Clan regiert. Zunächst von François Duvalier, und nach dessen Tod 1971 von Sohn Jean-Claude, der sich »Baby Doc« nennen ließ. Unter beider Herrschaft, die 1986 mit dem Sturz von »Baby Doc« endete, wurden von paramilitärischen Verbänden etwa 30 000 Menschen ermordet. Nach einer turbulenten Übergangsphase, in der erste Reformen eingeleitet wurden, gewann 1990 der Priester und Befreiungstheologe Aristide die Präsidentschaftswahlen. Er wurde getragen von der Lavalas (»Lawine«)-Koalition, einem Bündnis mit der OPL, der Organisation des kämpfenden Volks, und der Arbeiterpartei PLB. Sein Eintreten für die Interessen der völlig verarmten Bauern, die weit mehr als die Hälfte der arbeitsfähigen Menschen ausmachen, wurde jedoch durch einen Militärputsch beendet. Erst nach US-Invasion 1994 brachten die Wahlen im Juni und August 1995 Aristides »Lavalas« einen Sieg mit Zwei-Drittel-Mehrheit im Abgeordnetenhaus und im Senat. 1999 übergab Aristide gemäß einer Absprache die Präsidentschaft an René Preval, kandidierte aber 2000 erneut und gewann mit 91 Prozent, was im In- und Ausland zu Spekulationen über Wahlbetrug führte, die aber selbst von der OAS nicht geteilt wurden.

Aristides Bilanz heute: Nach wie vor sind mehr als die Hälfte der Haitianer Analphabeten, ebenso hoch ist die Arbeitslosigkeit. Die Lebenserwartung beträgt nur 52 Jahre. Der durchschnittliche Tagesverdienst liegt bei fünfzig Gourde (etwa ein US-Dollar) – bei rasanter Inflation. Denn Aristides Wiedereinsetzung durch die USA 1994 war an Bedingungen geknüpft: Zollsenkungen, Lohnstopp und Privatisierungen um die Schuldenrückzahlungen zu garantieren. Linke Kritiker dieser Kompromisse weist Aristide auf seine »Taktik der Verzögerung« hin, und tatsächlich sind bis heute nur unrentable Bereiche wie Zement- und Mehlproduktion privatisiert worden. Damit zog sich Aristides Regierung den Unmut der US-Regierung zu. Dem Vorwurf der Wahlfälschung folgte Druck auf Geberländer Haitis bei gleichzeitiger Unterstützung rechter Oppositionsgruppen. Die zur Umsetzung des Regierungsprogramms benötigten Hilfen blockierten die USA, wie 512 Millionen Dollar der Interamerikanischen Entwicklungsbank, oder ließen sie reduzieren, wie Gelder der Weltbank und der EU. Die Schuldenrückzahlung geht zu Lasten von Sozialprogrammen wie der dringlichen AIDS-Bekämpfung, wie der Haiti-Forscher Tom Reeves, ehemals Professor des Bostoner Roxbury College, nachweist. Für die 32 Millionen Dollar, die Haiti im Juli mit nahezu dem Rest seiner Kapitalreserven zurückzahlte, haben die USA 34 Millionen für Investitionen ins Gesundheitssystem, die Wasserversorgung und den Straßenbau zugesagt – die Aufträge dafür gehen an US-Firmen.

Reeves hat auch die haitianische Opposition analysiert: Die »Demokratische Konvergenz«, ein Haufen von Marktliberalen über Duvalier-Anhänger bis hin zu Maoisten, wird von USAID, der Internationalen Entwicklungsagentur der USA, und vermutlich auch aus Europa finanziert. Über das »Internationale Republikanische Institut« (IRI) fließen der rechten Opposition jährlich drei Millionen Dollar zu. Unter dem Zauberwort »Nichtregierungsorganisationen« firmieren 184 Gruppen und Institutionen. Die meisten gehören der Rechten an, aber auch die linke Minderheit in der Gruppe der 184 protestiert gegen Aristide und fordert seinen Rücktritt, so Yves Dorestal, Dekan der Ethnologiefakultät in Port-au-Prince. Die bewaffneten Teile der Opposition sind ihr Geld wert: Im Juli und im Dezember 2001 wurden Staatsstreiche versucht; 2003 ermordeten Unbekannte mehrere Funktionäre der Aristide-Partei »Famille Lavalas« und griffen die Hauptenergieerzeugung des Landes an. In fast allen Fällen wurde die Planung in der Dominikanischen Republik vorgenommen, an deren Grenze zu Haiti die USA 900 Soldaten stationiert haben.

Jean-Bertrand Aristide, der die wenigen Mittel des ärmsten Staats Amerikas selbstherrlich verwaltet, wehrt sich auf allen Ebenen gegen seinen Sturz. In den vergangenen vier Monaten starben bei Demonstrationen 36 Menschen, viele nach Angriffen von Aristide-Anhängern. Die Reformen in seiner ersten Amtsperiode vor dem Putsch – Steuerreform, Importbesteuerungen, Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns – sind kein Grund mehr für Parteien wie die Nationale Volkspartei (PPN) oder die OPL, deren Generalsekretär führendes Mitglied der aufgelösten KP war, die Regierung zu unterstützen. Gegenstand der Kritik sind neben Korruptionsvorwürfen auch die Freihandelszone mit der Dominikanischen Republik in Maribaroux und die Ankündigung einer zweiten in Ouanaminthe, die von Premierminister Neptune mit dem Arbeitsplatzangebot begründet werden. Die »Haitianische Plattform zur Verteidigung einer Alternativen Entwicklung« fordert stattdessen eine stärkere Kooperation mit Kuba, das derzeit 800 Ärzte nach Haiti entsandt hat, und Venezuela. Von dort kommt bereits Öl zu Vorzugspreisen.

Offenbar hat der charismatische Aristide immer noch eine Mehrheit des Volkes hinter sich. Ob er aber noch einmal die Unterstützung der Linken gewinnt, wie 1990, ist trotz des offenkundigen Drucks der USA und – sollte Aristide stürzen – der Aussicht auf eine rechte Regierung unwahrscheinlich.

Aus: junge Welt, 19.01.2003


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