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Frankreich und USA lassen Aristide fallen

Haiti: Präsident soll nationaler Einheitsregierung weichen

Von Ralf Klingsieck, Paris

Haitis Präsident Jean-Bertrand Aristide sitzt in der Klemme. Frankreich und die USA fordern seinen Rücktritt, nachdem ihr Friedensplan von der Opposition abgelehnt wurde – nicht von Aristide.

In Paris fielen gestern schöne Worte. Die Bevölkerung Haitis müsse eine »Regierung der nationalen Einheit einsetzen«, sagte der Pariser Außenamtssprecher Hervé Ladsous nach einem einstündigen Gespräch zwischen dem französischen Außenminister Dominique de Villepin und seinem haitianischen Kollegen Joseph Philippe Antonio in Paris. Aristide müsse erkennen, dass der Machtkampf der vergangenen Wochen in eine »Sackgasse« geführt habe und daraus »die Konsequenzen« ziehen. Schon gestern legten die USA Aristide angesichts des Vorrückens der Aufständischen den Rücktritt nahe.

Rebellenführer droht

In der Tat steckt Haiti in einer Sackgasse. Ob der Weg in eine bessere Zukunft durch einen Rücktritt von Aristide wieder frei würde, ist indes fraglich. Die Rebellen rückten unterdessen weiter vor. Sie eroberten Mirebalais im Norden der Hauptstadt Port-au-Prince und mit Les Cayes erstmals auch eine Großstadt im Süden. Und sie sind – gestützt von alten Seilschaften aus dem von Aristide aufgelösten Militär – weder an Friedensverhandlungen beteiligt noch an ihnen interessiert.

Wie eine Regierung der nationalen Einheit aussehen soll, blieb in Paris unbeantwortet. Der Anführer der bewaffneten Rebellen im Norden Haitis, Guy Philippe, hat mehrfach mit einem Angriff auf Port-au-Prince gedroht. In jüngsten Erklärungen versicherte er, dass die Stadt im Prinzip schon eingeschlossen sei und seine Leute nur noch auf ein Signal zum Angriff warteten. Er gab allerdings auch zu verstehen, dass er im Falle eines Rücktritts Aristides die Waffen niederlegen werde.

Frankreich und die USA haben in der Krise um Haiti ähnliche Interessen. Die ehemalige Kolonialmacht hat traditionell starke wirtschaftliche und kulturelle Bindungen zum Bürgertum auf der Insel. Auch außenpolitisch hat Frankreich über Jahrzehnte seine schützende Hand über die Diktatur von Vater und Sohn Duvalier gehalten. »Baby Doc« genießt sogar seit seinem Sturz 1986 ein diskretes politisches Asyl an der Côte d'Azur. Die USA, die 1994 im UNO-Auftrag den 1991 nach nur sieben Monaten Amtszeit durch einen Putsch gestürzten Präsidenten Aristide mittels einer Eingreiftruppe von 20000 Mann zurück an die Macht brachten und ihn seitdem politisch gestützt haben, müssen jetzt eine Welle zehntausender »Boatpeople« aus Haiti in Richtung Florida befürchten, wenn die Insel im blutigen Chaos versinkt.

Hektische Reisediplomatie

Die US-Küstenwache griff in den vergangenen Tagen nahezu 500 Flüchtlinge aus Haiti auf. Die meisten Flüchtlingsboote seien in der Windward-Passage zwischen Haiti und Kuba aufgebracht worden, sagte ein Sprecher der Küstenwache. US-Präsident George W. Bush hatte die Haitianer gewarnt, vor der Gewalt in ihrer Heimat Zuflucht in den USA zu suchen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erklärte dazu, die Vereinigten Staaten dürften gemäß der Flüchtlingskonvention die Haitianer nicht zurückschicken, wenn deren Leben in ihrer Heimat in Gefahr sei.

Aristide widersetzt sich indes nach wie vor der Forderung Frankreichs und der USA, zurückzutreten. Frankreich setzte bisher auf eine Übergangsregierung unter Einbeziehung der politischen Opposition mit Aristide als Präsident. Nachdem die Opposition dies kategorisch ablehnte, soll dasselbe Vorhaben nun ohne Aristide realisiert werden. Um eine solche Lösung durchzusetzen, entfaltet Außenminister de Villepin eine hektische Reisediplomatie. Vor dem UNO-Sicherheitsrat plädierte er für die Entsendung einer »Internationalen Friedenstruppe« zur Wiederherstellung der Ordnung und zur Absicherung sowohl der humanitären Hilfslieferungen aus dem Ausland als auch der Vorbereitung von Neuwahlen im Land.

Frankreich wäre auch bereit, wie beispielsweise in Côte d’Ivoire eigenes Militär zu entsenden, um die verfeindeten Parteien zu trennen, einen Bürgerkrieg zu verhindern – und eine politische Lösung im eigenen Sinne zu befördern. Für Montag erwartet de Villepin Delegationen der Opposition. Jene hat Gesprächen erst zugestimmt, nachdem Frankreich erklärt hatte, dass es keine Lösung mit Aristide geben werde.

Aus: Neues Deutschland, 28. Februar 2004

Putschversuch in Haiti: Eine große Verschwörung?

jW sprach mit Kim Ives, Redakteur des New Yorker Büros der haitianischen Wochenzeitschrift Haiti Progres*

Interview: Harald Neuber

F: In einem Leitartikel des Haiti Progres wurde die derzeitige Situation Haitis mit der Lage im Kongo 1960 kurz vor der Ermordung Patrice Lumumbas verglichen. Wo sehen Sie die Parallelen?

In beiden Fällen präsentieren sich ausländische Regierungen als Retter in einer Notlage, während gerade sie über Jahre hinweg die Opposition gegen eine legitime Regierung befürwortet, finanziert und mit Waffen versorgt haben. Die bewaffnete Oppositionsbewegung arbeitete lange Zeit von der Dominikanischen Republik aus. Nachgewiesen ist, daß Louis Jodel Chamblain, der militärische Anführer der sogenannten Opposition, von der CIA geschult und ausgerüstet wurde, als er die FRAPH-Todesschwadrone der Duvalier-Diktatur aufbaute. Nach einer kürzlichen Aussage Chamblains ist die FRAPH-Struktur nach wie vor funktionstüchtig – neun Jahre nach ihrer offiziellen Auflösung. Auch beim zweiten Anführer der Opposition, Guy Philippe, lassen sich direkte Verbindungen zu den USA nachweisen: Er wurde vor 1994 von US-Militärs in Ecuador trainiert, um ihn nach der US-geführten Intervention in jenem Jahr in den Polizeiapparat Haitis einzusetzen. In dieser Funktion war er im Jahr 2000 an einem Putschversuch beteiligt. Das beweist deutlich, daß es sich bei den derzeitigen Ereignissen nicht um eine Bewegung gegen Aristide, sondern gegen die Demokratie handelt.

F: Was aber sind die konkreten Konfliktlinien?

Mit dem ersten Machtantritt von Jean-Bertrand Aristide wurde Anfang der neunziger Jahre eine jahrhundertelange Tradition serviler Regime gebrochen, die mit den einstigen Kolonialmächten kollaborierten. Politisch betrachtet, verloren die ländliche Oligarchie und die städtische Bourgeoisie mit der Wahl Aristides ihren Zugang zum Machtapparat. Dieser Umstand hat von Beginn an die Opposition gegen den amtierenden Präsidenten genährt. Die USA haben lange Zeit eine Doppelstrategie gefahren, die mit der Unterstützung der Opposition nun beendet scheint.

F: Seit Beginn der Revolte hat Präsident Aristide mehrfach um internationale Hilfe gebeten. Weshalb blieb die bislang aus?

Weil sie von den imperialistischen Mächten, vor allem den USA und Frankreich, die sich in diesem Fall wieder sehr gut verstehen, an Konditionen geknüpft wird. Am Freitag konnten wir das hier in der New York Times lesen: Der französische Außenminister forderte erneut eine UN-Intervention, um im gleichen Atemzug den Rücktritt von Präsident Aristide zu verlangen. Sollte die Intervention einer Schutztruppe aber nicht gerade zum Schutz einer demokratisch gewählten Regierung stattfinden?

F: Wird Aristide diese Krise also überstehen?

Das wird nur schwer möglich sein. 1991 wurde er ja schon einmal durch einen Staatsstreich aus der Regierung entfernt. Daß er drei Jahre später wieder nach Port-au-Prince zurückkehrte, war dem Umstand geschuldet, daß er seine Legitimität nie verloren hat. Der Widerstand gegen die damalige Diktatur blieb über Jahre hinweg bestehen. Aktuell wurde die Lage unter internationaler Verantwortung nun so weit zur Eskalation gebracht, daß das Land in einem kriegsähnlichen Zustand versinkt. In dieser Situation stellen die imperialistischen Mächte Aristide jetzt vor die Wahl zwischen dem Stift für die Unterschrift unter die Rücktrittserklärung oder dem Revolver mit einer Kugel in der Trommel. Es hat zwar den Anschein, als ob ein friedlicher Ausweg aus der Krise gesucht werde, doch tatsächlich ist diese Krise geschaffen worden, um Aristide zu stürzen.

* Haiti Progres erscheint seit 1984 auf französisch, englisch und kreolisch. Die Redaktion unterstützt die Regierung Aristide.

Aus: junge Welt, 28.02.2004


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