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Militär und Hilfe - ein Widerspruch in sich

Der Aufbau Haitis muss in die Hand der Bewohner und ihrer Organisationen gelegt werden

Katja Maurer ist Sprecherin der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international (www.medico.de). Mit ihr sprach für das Neue Deutschland (ND) Harald Neuber.



ND: Medico international hat in einer der jüngsten Stellungnahmen zu Haiti eine stärkere Arbeit mit der dortigen Zivilgesellschaft gefordert. Weshalb ist das nötig?

Maurer: Trotz des ungeheuren Ausmaßes der Katastrophe und unseres verständlichen Impulses, als ohnmächtige Betrachter schnell Abhilfe schaffen zu wollen, müssen die Hilfsmaßnahmen vor allen Dingen die Haitianerinnen und Haitianer selbst zu Akteuren des Wiederaufbauprozesses machen. Das heißt: Wir dürfen uns nicht von den Medien das Tempo für die Hilfsmaßnahmen aufzwingen lassen. Der Bedarf und die möglichen einheimischen Strukturen, die sich jetzt in der Katastrophe neu herausbilden, müssen erst ermittelt werden.

Die USA sind mit 10 000 Soldaten im Lande, darunter rund 2000 Mitglieder des Marine-Corps. Wie wirkt sich das auf die Arbeit dort aus?

Nachdem das, was als haitianischer Staat und Infrastruktur existierte, systematisch durch Finanzauflagen und ausländische Interventionen diverser Art abgeschafft wurde, ist es nun möglicherweise unumgänglich, auch nach Formen polizeilicher Absicherung zu suchen. Das wirft aber wichtige Fragen auf: Kann dies Teil einer Selbstermächtigung Haitis werden? Wer kontrolliert diese Truppen? Welche eigenen Interessen sind im Spiel? Angesichts der US-amerikanischen Geschichte gegenüber Haiti gibt es keine positiven Traditionen, auf die dieser Einsatz zurückgreifen könnte. Die Ankündigung, man wolle eine Abwanderung der Haitianer in die USA verhindern, lässt nichts Gutes erhoffen.

Können Militärs überhaupt effektiv helfen?

Wenn nachhaltige Hilfe das Credo ist, dann sprechen die Strukturen von Armeen dagegen. Das Militär ist hierarchisch von oben nach unten organisiert. Eine nachhaltige Hilfe und Unterstützung muss koordiniert sein. Aber die Vielfalt der Interessen, der Handelnden und vor allen Dingen der Betroffenen muss im Sinne einer nachhaltigen Veränderung berücksichtigt werden. Hilfe ist eigentlich per se eine fast basisdemokratische Angelegenheit. Sonst gibt es viele Entwicklungsruinen. Gemeint sind Projekte, die von außen realisiert wurden und dann von der einheimischen Bevölkerung nicht genutzt werden. Das haben wir schon überall erlebt. Insofern ist Militär und Hilfe ein Widerspruch in sich. Bei einer Katastrophe wie in Haiti kann Militär auf einer logistischen Ebene hilfreich sein. Aber ein ziviler Katastrophenschutz ist besser und billiger.

Die Entsendung der US-Truppen wurde von Berichten über Plünderungen und Gewalt begleitet. Fühlen sich Ihre Kollegen bedroht, brauchen sie bewaffneten Begleitschutz, um zu helfen?

Immer wieder ist in den Medien die Rede von Sicherheitsgefahren. Mein Eindruck ist: Das wird fast herbeigeschrieben. Wir stellen aber bei den Maßnahmen, die unsere Partner im Lande ergreifen, fest, dass überall dort, wo die Hilfe in Absprache und unter Einbeziehung der Selbsthilfe-Infrastrukturen verteilt wird, die Sicherheit weitestgehend gewährleistet ist.

Südamerikanische Staaten beklagen die »US-Intervention« in Haiti. Welche Motivation vermuten Sie hinter der massiven Truppenentsendung der US-Regierung?

Die UN-Mission MINUSTAH war weitestgehend von lateinamerikanischen Staaten getragen. Es hat sehr viel Kritik und Protest aus Haiti daran gegeben. Der Rassismus gegen Schwarze ist Teil einer machistischen Kultur in vielen lateinamerikanischen Ländern. Trotzdem sind die Befürchtungen der Lateinamerikaner nachvollziehbar. Bislang ist die USA-Regierung eine neue Politik für Lateinamerika schuldig geblieben. Der Antidrogenkrieg geht weiter, auch in Haiti. Auch beim Putsch in Honduras sind die Hoffnungen auf Obama nicht erfüllt worden. Die Kritik der Lateinamerikaner hat Gewicht und vielleicht auch Einfluss auf die Ausrichtung der Politik der USA in dieser Hinsicht.

Was muss sich in Haiti ändern, damit die Bevölkerung mit den Folgen von Naturkatastrophen besser zurechtkommt?

Es muss eine staatliche Infrastruktur aufgebaut werden, die soziale Infrastruktur sichert: Schulen, Universitäten, Gesundheitssysteme, eine ökonomische Entwicklung, an der alle partizipieren können. Das ist eine Aufgabe mehrerer Generationen. Das bislang herrschende Entwicklungskonzept, der freie Markt als Regulator und Motor, wird dabei nicht hilfreich sein.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Januar 2010


Kuba verstärkt Hilfe für Haiti

An der Südküste des Inselstaates wurde ein weiteres Feldhospital eingerichtet

Von Enrique Torres (Prensa Latina), Jacmel **


Vor dem Saint-Michele-Krankenhaus in Jacmel an die Südküste Haitis stehen kanadische Soldaten. Die schwer bewaffneten Militärs kontrollieren den Eingang und mehrere Durchgänge des Hospitals. Außerhalb des Gebäudes haben Mitglieder der kubanischen Ärztemission ein Feldhospital aufgebaut, um den Opfern der Erdbebenkatastrophe zu helfen.

In der Nacht zum Freitag (22. Jan.) hat das Feldhospital seine Arbeit aufgenommen, nachdem es eilends, in einem Wettlauf gegen die anbrechende Nacht errichtet worden war. Es ist das zweite kubanische Lazarett in Haiti. Darüber hinaus sind kubanische Mediziner in mehr als zehn regulären Krankenhäusern des Landes tätig.

Vor dem Feldkrankenhaus bereitet sich der Arzt Daniel Loriet, Mitglied der medizinischen Hilfsbrigade »Henry Reeve« aus Kuba, auf seine Arbeit vor. Der Orthopäde hat lange Erfahrungen mit Hilfseinsätzen. Er war schon in Pakistan, Indonesien und Peru. Nach Loriets Angaben sind in Jacmel 25 kubanische Helfer im Einsatz. Viele von ihnen waren schon vor der Katastrophe im Lande. Nach dem Beben hatten sie erste Nothilfe geleistet.

Das neue Feldhospital verfügt über einen chirurgischen Saal und weitere Behandlungsräume, um dem Andrang der Hilfebedürftigen gerecht zu werden. In Jacmel an der Südküste Haitis sind die Verwüstungen besonders schwer. »Wir haben hier derzeit 30 Patienten, die auf orthopädische Eingriffe warten«, sagt Loriet im Interview mit Prensa Latina. Deswegen sei der Aufbau der Hilfsstrukturen dringend notwendig gewesen. Sein Team sei »zu allen notwendigen Eingriffen« bereit, über die Reihenfolge werde nach der Schwere der Fälle entschieden.

Vor dem Eingang des benachbarten Saint-Michele-Krankenhauses und im Inneren des Gebäudes sind kanadische Soldaten postiert. Lediglich der Bereich, in dem die kubanischen Ärzte arbeiten, kommt ohne diesen bewaffneten Beistand aus. Vor dem Erdbeben am Dienstag der vergangenen Woche waren in dem Haus ohnehin nur haitianische und kubanische Ärzte tätig. Seit der Katastrophe arbeiten Hilfsteams aus verschiedenen Staaten im Hospital, darunter die medizinisch-militärische Einheit aus Kanada. Um ihre Funktion auszuüben, heißt es, bedürfe sie des bewaffneten Schutzes.

Manche Patienten scheuen die Betreuung durch die Kanadier. Um in die Behandlungsräume zu gelangen, müssen sie die schwer bewaffneten Soldaten passieren, was nicht jedem angenehm ist. Vertretern von Prensa Latina und anderen Nachrichtenmedien wollten die Uniformierten den Zugang zum Krankenhaus zunächst verwehren. »Angesichts dieser Truppenpräsenz in einem Krankenhaus fühlen sich Patienten nicht mehr wie Patienten«, glaubt Daniel Loriet. Die militärische Besatzung schaffe ein Klima der Bedrohung. »Ein Patient benötigt medizinische Betreuung, keine Soldaten mit Gewehren und Messern«, sagt der Mediziner. Die einzigen sinnvollen Messer seien die Skalpelle im Operationssaal, mit denen Leben gerettet werden.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sind in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince derweil 13 Krankenhäuser funktionsfähig. Die haitianischen Behörden beziffern die Zahl der Opfer des Erdbebens nach wie vor auf 100- bis 200 000. Gut 75 000 Todesopfer wurden bereits in Massengräbern beigesetzt.

Inmitten des Chaos versuchen sich die Überlebenden in Port-au-Prince zu organisieren. Die Wiederöffnung erster Bankfilialen und die Wiederaufnahme der Gasversorgung in Teilen der Hauptstadt sind erste schwache Anzeichen einer Erholung nach der Katastrophe. Nach den Worten des haitianischen Präsidenten René Préval befindet sich auch die Regierung in einem Prozess der Reorganisation. Ziel sei es, die internationale Hilfe bald wieder selbst zu koordinieren.

Dessen ungeachtet haben die USA eine weitere Verstärkung ihrer Truppen in Haiti angekündigt. Zu den knapp 12 000 bereits jetzt entsendeten Angehörigen der US-Armee sollen noch einmal 4000 Soldaten kommen.

(Übersetzung: Harald Neuber)

** Aus: Neues Deutschland, 23. Januar 2010


Haiti-Flüchtlinge »zurückgeführt«

Etwa 15000 US-Soldaten sind inzwischen auf der Karibikinsel stationiert ***

Trotz des schweren Erdbebens wollen die USA Flüchtlinge aus Haiti weiter kompromißlos zurückschicken. Ihr Land nehme keine Haitianer auf, die »illegal in die Vereinigten Staaten einreisen«, sagte Außenministerin Hillary Clinton am Donnerstag in Washington. Die Flüchtlinge würden »zurückgeführt« und die bestehenden US-Einwanderungsgesetze angewendet.

Inzwischen haben die USA bereits 15000 Soldaten auf der Karibikinsel stationiert, vorgeblich zum Wiederaufbau der Infrastruktur und zur »Sicherung der öffentlichen Ordnung«. Der für Washingtons Besatzungstruppen im Irak und in Afghanistan zuständige General David Petraeus erklärte dazu, daß die »Entsendung der Soldaten keine Auswirkungen auf die dortigen Missionen« habe. Die über 30000 für Afghanistan geplanten zusätzlichen GIs würden Ende August dort auch stationiert sein, sagte er am Freitag.

Auf Haiti selbst wurden umfangreiche Umsiedlungspläne bekannt. Etwa 500000 obdachlos gewordene Menschen sollen in temporären Behausungen außerhalb von Port-au-Prince eine neue Unterkunft finden, teilte Innenminister Paul Antoine Bien Aime am Donnerstag mit. 34 Busse würden Erdbebenopfer in den Süden und den Norden von Haiti bringen. Am Freitag (22. Jan.), zehn Tage nach dem Beben, sollte zwar der Hafen der schwer beschädigten Hauptstadt teilweise wieder eröffnet werden, doch kommen die meisten Hilfsgüter immer noch auf dem Luftweg nach Haiti. Die Kontrolle des gesamten Flugverkehrs wird inzwischen von den US-Streitkräften durchgeführt. Diese erklärten, es gebe inzwischen eine Liste mit 1 400 internationalen Flügen, die auf eine Landegenehmigung für die einzige Rollbahn in Port-au-Prince warteten.

Ebenfalls am Freitag teilte das UN-Kinderhilfswerk UNICEF in Genf mit, daß auf Haiti 15 Kinder aus Krankenhäusern verschwunden sind. Es bestehe der Verdacht, daß sie verschleppt wurden. Netzwerke von Kinderhändlern, die den illegalen »Adoptionsmarkt« bedienten, seien nach Naturkatastrophen besonders aktiv, teilte UNICEF mit. Viele Regierungen hatten in den vergangenen Tagen Adoptionsverfahren beschleunigt, doch warnen Kinderschutzgruppen vor leichtsinnigem Handeln. Zu schnelle Entscheidungen könnten noch bestehende Familien für immer zerstören, Kinder entwurzeln und in Depressionen stürzen.

*** (AFP/apn/jW, 23.01.2010)


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