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Haiti im stetigen Kreislauf seiner Krisen

Anmerkungen zu den historischen Ursachen der politischen Instabilität im Armenhaus der Karibik

Von Oliver Gliech*

Länder der "Dritten Welt", die in regelmäßigen Abständen im Chaos versinken, lösen bei ausländischen Betrachtern für gewöhnlich Ratlosigkeit aus. Befassen sich die Medien überhaupt mit ihnen, so beschränken sie sich zumeist darauf, die jeweils neueste Katastrophe zu beschreiben, die sich dort ereignet. Ihre tiefer liegenden Ursachen kommen hingegen nur selten zur Sprache.

Haiti fällt in diese Kategorie: auf Grund seiner geringen Größe fristet es ein Schattendasein am Rande der medialen Wahrnehmung. Von der Fläche her mit Belgien vergleichbar, zählt es mit gegenwärtig sieben bis acht Millionen Einwohnern zu den ärmsten Ländern der westlichen Hemisphäre. Da sein geopolitisches Gewicht eher unbedeutend ist, gibt es allem Anschein nach keinen triftigen Grund, sich näher mit ihm zu befassen. So ist es nur als Schauplatz von Naturkatastrophen und sinnlosen Bürgerkriegen in unseren Nachrichten präsent.

Der jüngste haitianische Staatskollaps liegt erst kurze Zeit zurück: Präsident Jean-Bertrand Aristide, der als demokratischer Hoffnungsträger begonnen und als Autokrat geendet hatte, stürzte das Land durch seinen Führungsstil in schwerwiegende Turbulenzen. Anfang 2004 erzwangen politische Unruhen seinen Gang ins Exil; seither bemühen sich die Vereinten Nationen, die Verhältnisse im Lande zu stabilisieren. Die bevorstehenden Wahlen sollen diese Initiative unterstützen. Will man die Erfolgschancen solcher Stabilisierungsbemühungen realistisch bewerten, so macht es Sinn, sich mit den historischen Wurzeln der haitianischen Gesellschaftskrise auseinander zu setzen. Denn diese markiert den vorläufigen Endpunkt einer dramatisch verlaufenen Geschichte.

Haiti ging aus einer Revolution afrikanischer Sklaven hervor, denen es Ende des 18. Jahrhunderts gelang, diese für ihren Reichtum berühmte französische Kolonie in ihre Gewalt zu bringen. Sie riefen 1804 eine eigene Nation ins Leben, die sich in der feindseligen Umgebung Sklaven haltender Nachbarländer behaupten musste. Zu dieser Staatsgründung durch ehemalige Zwangsarbeiter gibt es in der jüngeren Geschichte keine Parallele.

Obwohl die Ereignisse mehr als 200 Jahre zurückliegen, haben sie Haiti doch bis in die Gegenwart geprägt. Ein Volk aus ehemaligen Sklaven - mithin aus gewaltsam zusammengefügten Menschen mit denkbar unterschiedlichem ethnischen, kulturellen und sozialen Hintergrund - hat mit anderen Völkern wenig gemein, die die Gelegenheit hatten, über viele Generationen hinweg gemeinsame Normen und Institutionen zu entwickeln. Kaum eine Nation fand zu Beginn ihrer Existenz ähnlich ungünstige Startchancen vor.

Vormals St. Domingue genannt, galt Haiti vor der Unabhängigkeit als wertvollste französische Besitzung in Übersee. Seine Plantagenwirtschaft beruhte vollständig auf Sklavenarbeit und beherrschte im späten 18. Jahrhundert die Zucker- und Kaffeemärkte Kontinentaleuropas. Unsere Kaffeehauskultur - ein wichtiger Resonanzboden der Aufklärung - verdankte ihre Existenz karibischen Importen. Um 1789 lag die Kolonie mit 500 000 schwarzen Zwangsarbeitern in einer ähnlichen Größenordnung wie die Südstaaten der USA. Nachdem die Französische Revolution in St. Domingue zum Zusammenbruch der politischen Ordnung geführt hatte, erhob sich 1791 ein großer Teil dieser Sklaven gegen ihre Herren; zwei Jahre darauf erzwangen sie die Abschaffung der Sklaverei.

Mit Toussaint Louverture stieg einer der Aufstandsführer in den Rang eines Gouverneurs auf. Er leitete die Unabhängigkeit der Kolonie in die Wege und bemühte sich, die Plantagenwirtschaft zu erhalten. Auf diese Weise wollte er die Mittel gewinnen, um den von ihm erstrebten karibischen Modellstaat notfalls militärisch verteidigen zu können. Die schwarzen Feldarbeiter widersetzten sich jedoch einer Restauration der Plantagenwirtschaft, die sie zu sehr an die Zeiten der Sklaverei erinnerte. Sie strebten stattdessen ein Dasein als freie Kleinbauern an. Hier zeichneten sich früh Konfliktlinien ab, die die haitianische Geschichte bis ins 20. Jahrhundert hinein kennzeichnen sollten: Auf der einen Seite standen die neuen schwarzen Eliten, die die Erbschaft der vertriebenen weißen Zuckerbarone antreten wollten, auf der anderen Seite standen die Kleinbauern, die die Rückkehr kolonialer Arbeitsverhältnisse nicht akzeptieren wollten. Die Vision vom reichen afro-karibischen Modellstaat zerbrach an diesem Gegensatz.

1802 versuchte Napoleon, die Sklaverei wiederherzustellen und die Kolonie, die in die Unabhängigkeit abdriftete, zu unterwerfen. Das Unternehmen endete mit einem Desaster. Die französischen Truppen wurden in einen zermürbenden Guerillakrieg verwickelt, der in einer totalen Niederlage der alten Kolonialmacht endete. Die Haitianer gründeten auf den Trümmern der Kolonie einen eigenen Staat.

Die junge Nation hatte mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Viele Nachbarstaaten isolierten das Land, da sie ein Übergreifen der Sklavenrevolte auf ihr eigenes Territorium befürchteten. Die Zerstörung der noch bestehenden Zuckerplantagen war eine Maßnahme des Selbstschutzes: sie sollte den alten Kolonialherren die Lust auf einen zweiten Landungsversuch nehmen. Frankreich erkannte Haiti 1825 nur gegen die Zahlung einer hohen Entschädigung als souveränen Staat an. Damit gerieten die Haitianer früh in eine Schuldenfalle. Zwischen 1915 und 1934 herrschten die USA als Besatzungsmacht und setzten dort ihren imperialen Führungsanspruch durch.

Sklaverei und Krieg waren die wichtigsten Gemeinschaftserfahrungen der haitianische Gründergesellschaft; die sozialen Gruppen, aus der sie sich zusammensetzte, waren ansonsten außerordentlich heterogen. Ihre Interessengegensätze, die sich früh offenbarten, erwiesen sich als ebenso unüberbrückbar wie beständig. Geografische, soziale, ökonomische und "rassische" Divergenzen stellten Haiti vor immer neue Zerreißproben. Die innere Logik hinter den Herrschaftspraktiken der autoritären Präsidialregime bis zur Zeit Aristides, den zahlreichen Aufständen und Eingriffen des Militärs in die Politik erschließt sich, wenn man sie als Ausdruck widerstreitender Partikularinteressen interpretiert, die sich aus diesen Divergenzen ergaben.

Die geografischen Eigenheiten Haitis erschwerten die räumliche Integration. Sein Staatsgebiet besteht aus zwei lang gezogenen Halbinseln, die durch eine breite Landbrücke und das nach Osten hin auslaufende Hochland verbunden sind. Drei in Ost-West-Richtung verlaufende hohe Gebirgszüge untergliedern das haitianische Territorium in mehrere weitgehend isolierte küstennahe Ebenen. Die einzelnen Provinzen des Landes lebten infolgedessen in verschiedenen Welten. Die gesamte Infrastruktur der Kolonie war auf den Export ausgerichtet, eine innere Erschließung unterblieb hingegen.

Haiti erbte diese Struktur. Der Zerfall der kolonialstaatlichen Ordnung trieb die territoriale Desintegration der Gesellschaft voran und erschwerte die innere Nationenbildung. Jenseits der küstennahen Ebenen konnte sich kein dauerhafter Großgrundbesitz durchsetzen. In den einzelnen Regionen entstanden zahlreiche kleine Machtpole, die von Clans oder Offizieren beherrscht wurden. All dies trug dazu bei, dass es haitianischen Politikern bis in die Gegenwart nur selten gelang, sich eine überregionale Machtbasis aufzubauen.

Viele politische Probleme des Landes erklären sich aus diesen geografischen Fliehkräften: die haitianischen Präsidenten verfügten nur eine schmale regionale Hausmacht, und oppositionelle Gegenkräfte waren zusammengenommen grundsätzlich stärker als der Staatschef. Die Politik beruhte traditionell auf zeitlich befristeten Zweckbündnissen. Um die strukturelle Schwäche ihrer Macht zu überspielen, versuchten die Präsidenten, die jeweilige Opposition zu lähmen, statt sie als Teil des Systems zu akzeptieren.

Dies führte dazu, dass sich in Haiti nach 1804 ein eigentümlicher Herrschaftszyklus ausbildete, der mit Ausnahme der Duvalier-Diktatur (1957-86) das politische Leben prägte. Kaum an die Macht gekommen, setzten die meisten Präsidenten wichtige Verfassungsrechte außer Kraft, um möglichst schnell oppositionelle Gruppen ausschalten und ihre Herrschaft rasch befestigen zu können. Zumeist erfüllte diese Strategie zunächst ihren Zweck. Nach einiger Zeit pflegte die Opposition ihre Differenzen zu überwinden; sie organisierte einen Aufstand gegen den Staatschef und brachte einen eigenen Kandidaten an die Macht.

Die "anti-tyrannische" Koalition zerfiel ebenso schnell, wie sie entstanden war, und die neue Präsidentschaft durchlief den beschriebenen Zyklus in veränderter personeller Besetzung von neuem. Mit der Reorganisation der haitianischen Armee unter US-Ägide entstand 1915 bis 1934 ein neuartiges Machtinstrument, das die Präsidenten in die Lage versetzte, den beschriebenen Zyklus zu durchbrechen. Sie erlaubte es der Duvalier-Dynastie, nach 1957 eine dauerhafte Diktatur zu errichten. Unter Präsident Aristide erlebte der beschriebene Herrschaftszyklus hingegen eine Renaissance.

Nach dem mit großer Grausamkeit geführten Unabhängigkeitskrieg mochten die schwarzen Sieger nicht länger mit Weißen in einem Land zusammenleben; die Masse von ihnen wurde vertrieben. Vor der Revolution beherrschten die Franzosen Wirtschaft, Verwaltung und Militär der Kolonie. Das administrative und technische Know-how lag bei ihnen, das zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und zum Betrieb der Zuckerplantagen erforderlich war. Mit der Flucht der Weißen wanderten ihr Kapital und ihr Wissen ab.

Angesichts dieser Lage war Haiti gezwungen, Staat und Wirtschaft auf eine völlig neue Basis zu stellen. Während sich die Kaffeekultur auf niedrigem Niveau stabilisieren konnte, gingen mit der Zuckerökonomie hoffnungsvolle Ansätze einer agrargestützten Industrialisierung unter.

Eine neue Elite teilte sich die Macht, die aus hellhäutigen "freien Farbigen" - Nachkommen von weißen Pflanzern und Sklavinnen - und schwarzen Offizieren bestand, die aus dem Aufstand hervorgegangen waren. Erstere verfügten oftmals noch aus Kolonialzeiten über Grundeigentum, letztere erzwangen unter Hinweis auf ihre militärischen Leistungen den Aufstieg in die Grundbesitzerklasse. Spannungen zwischen beiden Gruppen nahmen mehrfach den Charakter von Rassenkonflikten an. Sozial wie kulturell unterschieden sie sich maßgeblich von der neuen Unterschicht. Während in der Oberschicht Kreolen dominierten, war ein Großteil der armen Landbevölkerung noch in Afrika geboren (die so genannten Bossales). Sie setzten sich aus über hundert verschiedenen afrikanischen Ethnien zusammen. Im Gegensatz zu den Oberschichten, die sich des Französischen bedienten, sprachen die Unterschichten Créole, eine afrikanisch-französische Mischsprache.

Sprache und fehlende Bildung errichteten eine unüberwindliche kulturelle Barriere zwischen ihnen und den haitianischen Eliten, die sich bis heute erhalten hat. Die Landbevölkerung sabotierte jeden Versuch, Latifundien zu errichten, und organisierte sich in auf Selbstversorgung ausgerichteten ländlichen Gemeinden (Lakous), die ihren Mitgliedern Respekt und ein angemessenes, aber geringes Konsumniveau garantierte. Der Gegensatz zwischen Kreolen und Bossales sowie parallel dazu zwischen Großgrundbesitz und Lakou lag den meisten haitianischen Sozialkonflikten bis ins 20. Jahrhundert hinein zugrunde.

Die Lebenssphären von Eliten und Kleinbauern blieben weitgehend getrennt. Das einfache Volk griff gelegentlich in Form von Aufstandsbewegungen in die Politik ein oder wurde von Teilen der Eliten als Fußvolk für eigene Machtambitionen rekrutiert. Ernsthafte Versuche, es in das politische System zu integrieren, blieben vor 1987 hingegen eine Seltenheit.

Nach einer Serie autoritärer Präsidialregime und der fast dreißig Jahre währenden Diktatur der Duvaliers trat Haiti 1986 in eine Transitionsphase ein, die angesichts fortdauernder politischer Instabilität noch nicht abgeschlossen ist. Trotz der Bemühungen, das politische System zu öffnen und die bislang weitgehend ausgeschlossenen Unterschichten besser einzubinden, war doch eine Rückkehr zu politischen Praktiken der Vergangenheit zu verzeichnen: präsidialer Herrschaftszyklus mit seinen Formen der Herrschaftssicherung auf der einen Seite, fehlende Kooperationsbereitschaft der Opposition sowie militärischer Interventionismus auf der anderen Seite.

Die negativen Konsequenzen solcher anachronistischen Konfliktformen sollten der politischen Klasse Haitis inzwischen anschaulich vor Augen geführt haben, dass es keine Alternative zu einer rechtsstaatlichen Ordnung gibt, in der Regierung und Opposition die Rechte des jeweils anderen respektieren. Daneben müssen ernsthafte Initiativen ergriffen werden, die materielle Situation und die politischen Partizipationschancen der breiten Bevölkerungsmehrheit zügig zu verbessern. Gelänge dies, hätte Haiti gute Chancen, aus seinem Krisenzyklus auszubrechen.

* Oliver Gliech, ist Lehrbeauftragter am Lateinamerika-Institut der FU Berlin (LAI). Von 2000 bis 2003 arbeitete der Sozialhistoriker am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Freien Universität Berlin. Gegenwärtig schreibt er seine Dissertation zur Geschichte der Sklavenrevolution von Haiti.
Bei dem Text handelt es sich um die gekürzte und überarbeitete Fassung eines Beitrags für das geplante Buch: Klaus Stüwe und Stefan Rinke (Hg.) "Politische Systeme in den Amerikas in Geschichte und Gegenwart", Wiesbaden: VS Verlag 2006.

Dieser Beitrag erschien am 1. Februar 2006 auf der Dokumentationsseite der Frankfurter Rundschau.
Mit freundlicher Genehmigung durch den Autor.


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