Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Mit der Schubkarre in die Klinik

Cholera-Epidemie forderte auf Haiti allein seit Januar 360 Menschenleben

Von Hans-Ulrich Dillmann, Santo Domingo *

Unter unerträglichen hygienischen und sanitären Bedingungen steigt in Haiti die Zahl der Cholera-Erkrankungen wieder sprunghaft an.

In einer Schubkarre lieferten die Nachbarn aus einem Zeltlager in der Nähe von Miragoâne, der Hauptstadt des haitianischen Departments Nippes, das jüngste Opfer der Cholera-Epidemie im Krankenhaus ab. Der junge Mann wurde in einem Raum gelagert, in dem bereits ein Dutzend Erkrankter auf Feldbetten lag und mit Infusionen und Medikamenten versorgt wurde. Seit es fast täglich regnet, ist auch in der Kleinstadt im Südwesten Haitis die Zahl der Erkrankten sprunghaft angestiegen.

360 Menschen sind bisher in diesem Jahr an der bakteriellen Infektionskrankheit gestorben. Sie grassiert seit Ende Oktober 2010 wieder in Haiti, nachdem sie über fünf Jahrzehnte nicht mehr festgestellt worden war. »Wir müssen alles tun, um ein weiteres Ausbreiten zu verhindern«, sagte die Direktorin des Ministeriums für Öffentliche Gesundheit und Bevölkerung (MSPP), Guyrlaine Raymond Charite. Auch das Koordinierungsbüro der Vereinten Nationen für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) läutet die Alarmglocken.

Die Mitarbeiter des OCHA sind vor allem dadurch aufgeschreckt, dass die Zahl der Neuerkrankten seit Mitte des Jahres wieder stetig zunimmt. Im August waren es 5300 Cholera-Fälle, im Folgemonat erhöhte sich die Zahl der Patienten um 300. Seit Januar wurden insgesamt fast 42 000 Bakterieninfektionen angezeigt. In einigen Regionen habe sich die Zahl der Neuerkrankten wieder verdreifacht, meldet die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenze (MSF). Auf der einen Seite macht MSF die nach wie vor prekären hygienischen und sanitären Verhältnisse in der Erdbebenzone und in den Armutsregionen des Landes dafür verantwortlich. Auf der anderen Seite sieht die internationale Hilfsorganisation eine Ursache für diese Entwicklung in der mangelnden Finanzierung von Gesundheitszentren und ärztlicher Versorgung. Häufig bleibt der haitianische Staat die Gehälter für die Ärzte und das Pflegepersonal der Zentren schuldig.

Obwohl finanzielle Mittel für ein groß angelegtes Präventionsprogramm in Höhe von 2,2 Milliarden US-Dollar zugesagt sind, wurde der Großteil der Gelder noch immer nicht ausgezahlt. Der Schwerpunkt des von OCHA vorgeschlagenen Hilfsprogramms liegt mit 1,9 Milliarden US-Dollar in der Sanierung der Wasser-, Sanitäts- und Hygieneversorgung der Bevölkerung des Armenhauses Lateinamerikas.

In dem Land, das sich mit der Dominikanischen Republik die zweitgrößte Karibikinsel Hispaniola teilt, leben rund zehn Millionen Menschen, etwa 80 Prozent müssen täglich mit weniger als einem Euro ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Die Cholera-Epidemie wurde nach Erkenntnissen der US-Seuchenkommission von Bakterienstämmen ausgelöst, die in Asien vorkommen und allem Anschein nach von der nepalesischen UN-Blauhelmtruppe MINUSTAH ins Land eingeschleppt wurden. An ihr sind nach Informationen des haitianischen Gesundheitsministeriums bisher insgesamt 684 094 Menschen erkrankt, die Zahl der Toten wird mit 8352 angeben.

Auch in der Artibonite-Tiefebene rund um St. Marc und Gonaïves wächst die Zahl der Infektionen. Dort war vor knapp drei Jahren die Cholera zum ersten Mal festgestellt worden. Aufgrund der starken Regenfälle seien auch Latrinen überspült worden. »Wir müssen das Bewusstsein der Nachbarschaftsorganisationen, Führern von Gemeinschaften, Institutionen, Dienstleistern sensibilisieren«, sagte MSPP-Direktorin Guyrlaine Raymond Charite.

Auch die Hygienebedingungen in den Obdachlosenlagern in und um die Hauptstadt Port-au-Prince sind katastrophal. Dort leben seit dem Erdbeben im Januar 2010 noch immer mehr als 170 000 Menschen in zum Teil unerträglichen Zuständen. Mehr als 45 000 Menschen – so wird geschätzt – verfügen über keine Latrinen und weniger als fünf Prozent leben inmitten von Abfall und Abwässern. Die Hälfte der Lagerbewohner, so fürchtet das OCHA, ist angesichts ihre Lebenssituation davon bedroht, an Cholera zu erkranken.

Diese Entwicklung wirft auch ein neues Licht auf die Vereinten Nationen mit ihrer MINUSTAH-Truppe, die keine finanzielle Verantwortung für den Ausbruch der Seuche übernehmen will. Anfang Oktober haben mehrere Tausend Cholera-Opfer die UN-Verantwortlichen auf Entschädigung für ihre Erkrankung verklagt. Sie verlangen 50 000 US-Dollar. Den Nachkommen der Todesopfer sollen 100 000 Dollar ausgezahlt werden.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 25. Oktober 2013


Zurück zur Haiti-Seite

Zurück zur Homepage