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Spielball der Weltmächte

Hans Christoph Buch und sein Nachruf auf den gescheiterten Staat Haiti

Von Helge Buttkereit *

Nach dem verheerenden Erdbeben am 12. Januar dieses Jahres in Haiti gehörte Hans Christoph Buch zu den viel befragten Experten. Sein neues Buch ist ein »Nachruf auf einen gescheiterten Staat«. Ein Nachruf, der in der Geschichte nach den Problemen der Gegenwart sucht, diese aber viel zu einseitig interpretiert.

Für den Berliner Schriftsteller und Journalisten Hans Christoph Buch ist der kleine Karibikstaat Haiti das Lebensthema. Mehrere seiner Romane spielen in dem Land in der Karibik, wo sein Großvater einst als Apotheker tätig war.

Sein jüngstes Buch beginnt dabei mit knappen reportagehaften Sequenzen, die die Hoffnungslosigkeit in dem ärmsten Land Amerikas darstellen. Die Menschen haben das Lachen verlernt, was sie bislang trotz aller Armut ausgezeichnet hatte. An diesen Stellen blitzt Buchs Gabe zur genauen Beobachtung auf. Er kennt das Land, er könnte es dem Leser in Deutschland wohl wie kaum ein Zweiter vermitteln. Für die Gegenwart bleibt aber zu wenig Zeit. Schließlich kommt das Buch relativ kurz nach der Katastrophe. Außerdem könnte eine Darstellung der Gegenwart auch die These von Buch erschüttern, dass Haiti selber schuld an der katastrophalen Lage sei. Das schreibt er nicht explizit, er legt es aber nahe.

Der Schwerpunkt des Buches liegt in einer Dokumentation des Freiheitskampfes der Sklaven, die vor mehr als 30 Jahren verfasst wurde. Dabei beschreibt der Autor zunächst die Grausamkeiten der weißen Sklavenhalter. Der Reichtum der französischen Kolonie beruhte auf einer brutalen Ausbeutung von Sklaven, die stetig aus Afrika nachgeholt werden mussten. Im Zuge der französischen Revolution brachen mehrere Freiheitskämpfe aus. Die Mulatten, Kinder weißer Herren und schwarzer Sklavinnen begehrten ebenso dagegen auf wie die Sklaven selbst. Gewalt war allgegenwärtig, und sie blieb es auch in der Folge.

Es steht außer Zweifel, dass viele der heutigen Probleme schon beim Entstehen des Staates angelegt waren. Entstand der Staat doch in einer gewalttätigen Gegenbewegung ohne selbst ein Projekt eines Standes, einer Klasse zu sein. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zur Französischen Revolution, die die Erhebungen in der Karibik auslöste. Dort, wo der Kampf um die Freiheit ein Kampf um das Leben war, brauchte es keine Idee, kein Programm für einen befreiten Staat. Als dieser aus dem Kampf ums Überleben der Sklaven entstanden war, setzte sich das Gewaltregime der Kolonialherren fort. Dennoch stand der Niedergang in einem größeren Zusammenhang. Schließlich wurde Haiti im 19. Jahrhundert von den USA aber auch von den europäischen Kolonialmächten lange boykottiert, weil der erfolgreiche Aufstand der Sklaven ein gefährlicher Präzedenzfall war.

Im 20. Jahrhundert blieb der Staat ein Spielball der Weltmächte. Unter Diktator »Papa Doc« François Duvalier sollte Haiti Gegenpol zum benachbarten Kuba werden. Er öffnete den Markt für US-amerikanisches Kapital und Agrarprodukte. So wurde die lokale bäuerliche Landwirtschaft zerstört, die Landflucht nahm zu und die Slums der Hauptstadt Port-au-Prince wuchsen. Dass der äußere Einfluss bis hin zur Besatzung durch die UN-Truppen im Jahr 2004 mindestens so viel Anteil am Elend Haitis hat, dass es eine Wechselwirkung zwischen Gewalt und von außen bestimmter Ökonomie gibt, fehlt bei Buchs knappen Betrachtungen nach der Unabhängigkeit fast völlig. Der einstige Marxist hat sich scheinbar so sehr von seiner politischen Vergangenheit gelöst, dass er solcherart Zusammenhänge nicht mehr sieht oder nicht sehen will. Die These des aus sich selbst heraus gescheiterten Staates übersieht beispielsweise den Einfluss der von den USA auf der Karibikinsel forcierten neoliberalen Politik, die Privatisierungen vorantrieb und auf Tourismus und ausbeuterische Textilbetriebe setzte. Vermutlich deshalb lässt sie Buch komplett aus. So liest sich sein Werk in den historischen Teilen spannend. Je näher es der Gegenwart kommt, desto weniger mag man ihm aber folgen.

Hans Christoph Buch, Haiti. Nachruf auf einen gescheiterten Staat, Verlag Klaus Wagenbach, 192 Seiten, 12,90 Euro.

* Aus: Neues Deutschland, 14. Dezember 2010


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