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Haitis Arme gehen leer aus

Präsident Michel Martelly gerät immer stärker unter Druck und verliert vor den Teilwahlen im Januar weiter an Zustimmung

Von Hans-Ulrich Dillmann, Santo Domingo *

In Haiti nimmt die Unzufriedenheit mit der Regierung von Staatspräsident Michel Martelly zu – Demonstranten fordern seinen Rücktritt.

Die Demonstranten schwenken grüne Astzweige und die haitianische Staatsfahne, in Sprechchören rufen sie »Weg mit Martelly«. Seit Tagen demonstrieren wieder meist Jugendliche durch die Straßen der Hauptstadt sowie den großen Städten des Landes und fordern den Rücktritt des derzeitigen Staatschefs Michel Martelly. »Er bereichert sich und seine Freunde und wir bleiben arm«, ruft ein Protestierer in das Objektiv des Kameramanns der haitianischen Tageszeitung »Le Nouvelliste«.

Gegendemonstranten, Anhänger des staatsmännisch gewordenen ehemaligen Musikers Martelly tauchen auf. Kurze Zeit später fliegen Steine, Schüsse sind zu hören. Die Antiaufruhrpolizei schießt mit Gummigeschossen und Tränengasgranaten in die mehrere Tausend zählende Personenansammlung. Mit einem Motorrad wird ein verletztes Mädchen ins Krankenhaus gefahren. Ein mit einer Schusswunde am Bein verletzter Mann wird davon getragen.

Nach Monaten relativer Ruhe im Armenhaus Lateinamerikas, scheinen die Anhänger des 2004 gestürzten Ex-Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide wieder Zulauf zu bekommen. Während nach wie vor über zwei Drittel der Bevölkerung von weniger als einem Eurocent ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. »Wir kämpfen für bessere Lebensbedingungen«, sagt einer der Manifestanten. »die Reichen in Petion-Ville lassen es sich gut gehen und wir in den Ghettos haben nichts.« Immer wieder lassen sie den Ex-Präsidenten Aristide hochleben.

Aber die Proteste beschränken sich nicht nur auf die haitianische Metropole. Auch in anderen Großstädten wie Cap-Haïtien, Gonaïves, Les Cayes, Jacmel mehren sich die Proteststimmen gegen die Zentralregierung, ihre Klientelpolitik und die Korruption. Während in Port-au-Prince neue Häuser und Luxushotels gebaut werden, bei Martelly die Bänder zur Einweihung durchschneidet, versinken die Slums und Armenregionen im Schlamm. Nach wie vor leben 170 000 Menschen, die nach dem Erdbeben im Januar 2010 obdachlos geworden waren, in provisorischen Zeltlagern, die vor fast vier Jahren errichtet worden sind.

Die Diskrepanz zwischen Arm und Reich ist besonders in Port-au-Prince deutlich: Mit seinen unzähligen Elendsviertel, die im Dreck und Abfall versinken und den chromblitzenden Nobelkarossen, in denen die »nouveau riche«, die Neureichen und die alt eingesessene Elite ihren Wohlstand zur Schau tragen. Aber nicht nur das schürt die Wut. Im Januar des kommenden Jahres stehen dem Land Teilsenats- und Regionalwahlen bevor, die der 52-jährige »Sweet Micky«, wie der regierende Ex-Musiker Martelly von seinen Anhängern gerufen wird, bereits mehrmals hinausgezögert hat. Schon jetzt verfügt er über keine Mehrheit im Kongress und muss sich für jedes Gesetz Unterstützer zusammensammeln. Neuwahlen dürften seine dünne Machtbasis noch weiter schmälern, zumal die einst von Jean-Bertrand Aristide mitbegründete Bewegung Fanmi Lavalas, »Erdrutsch-Familie« im Aufwind erscheint. Sie rief vergangene Woche rund um ihren Parteikongress zur »nationalen Mobilisierung gegen die Regierung« auf. Martelly ist gewarnt.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 14. November 2013


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