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"Sweet Micky" will an die Macht

Der populäre Sänger geht als Favorit in Haitis Stichwahlen / Expräsident Aristide zurück

Von Martin Ling *

Im krisengeplagten Haiti stehen nach langem Hin und Her am Sonntag die Stichwahlen um die Präsidentschaft an. Die ehemalige First Lady Mirlande Manigat (71) triftt dabei auf den Schlagersänger Michel Martelly (50). Ob mit einer neuen Regierung die ersehnte Stabilität einkehrt, ist ungewiss. So wie die Auswirkung der Rückkehr von Expräsident Jean-Bertrand Aristide nach sieben Jahren Zwangsexil in Südafrika.

Es ist noch nicht so lange her, da gab sich der Sänger Michel Martelly betont desinteressiert an Politik. Martelly firmiert unter seinem Künstlernamen »Sweet Micky« als der »böse Bube« des Compas, der meistgespielten Musikrichtung Haitis. In einem Porträt der Monatszeitung »ila« bekannte Martelly 2004 unverblümt, dass er über Politik nicht gut informiert sei. Das hindert ihn sieben Jahre später nicht daran, das höchste Amt auf der Karibikinsel anzustreben.

Martellys Chancen bei den am Sonntag (20. März) angesetzten Stichwahlen um die Präsidentschaft stehen gut. Er liegt laut Umfragen knapp bis deutlich vor der Juraprofessorin Mirlande Manigat, und erst vor wenigen Tagen haben sich fünf der 17 in der ersten Runde unterlegenen Kandidaten für ihn ausgesprochen. Josette Bijou, Wilson Jeudy, Genard Joseph, Chavanne Jeune und Eric Smarki Charles lobten Martelly für seinen »Geist der Offenheit« und forderten ihre Anhänger auf, »massenhaft« Martelly zu wählen.

Günstig dürfte sich für Martelly auch auswirken, dass ihn der US-amerikanisch-haitianische Hip-Hop Musiker und ehemalige Bandleader der Fugees, Wyclef Jean, unterstützt. Jean wollte ursprünglich selbst an den Wahlen teilnehmen. Da der in der Nähe von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince Geborene seinen Lebensmittelpunkt aber längst in New Yersey hat, war ihm dies gerichtlich untersagt worden. Sein Auftritt am vergangenen Wochenende in Haitis drittgrößter Stadt Gonaïves sollte der Wahlkampagne Martelly Schwung auf der Zielgerade verleihen.

Dass Martelly überhaupt am Sonntag antreten darf, stand lange Zeit nicht fest. Die erste Runde auf der Insel, die unter der Erdbebenkatastrophe vom Januar 2010 und seit Herbst auch noch unter einer Cholera-Epidemie leidet, fand bereits am 28. November statt. Die Umstände und das Ergebnis waren dubios, die Wahlkommission verkündete erst am 7. Dezember ihr erstes Ergebnis. Demnach erreichte Mirlande Manigat, die Frau des ehemaligen Präsidenten Leslie Manigat, 31,37 Prozent während Martelly mit 21,89 Prozent nur an dritter Stelle einlief – hinter Jude Célestin, dem Zögling des amtierenden Präsidenten René Préval.

Erst nach massiven und gewalttätigen Protesten gegen Célestin und einer Überprüfung des Wahlergebnisses gab die Wahlkommission Anfang Februar bekannt, dass Célestin doch nur Dritter geworden sei und damit aus dem Rennen wäre.

Gewalt war auch im Stichwahlkampf kein Fremdwort. Am 8. März wurden drei Männer, die Plakate für Manigat klebten, tot aufgefunden. Nach Angaben des Nationalen Netzwerks zur Verteidigung der Menschenrechte in Haiti (RNDDH) wurden die Opfer gefoltert und hingerichtet. Sowohl Manigat als auch Martelly haben die Gewalt während des Wahlkampfes verurteilt und beteuerten ihre Anteilnahme für die Plakatkleber.

Beide sprachen sich für einen schrittweisen Abbau der UNO-Stabilisierungsmission MINUSTAH aus. Die MINUSTAH ist seit dem 1. Juni 2004 im Land, erfreut sich aber keiner großen Beliebtheit bei der Bevölkerung, obwohl die Notwendigkeit einer externen Stabilisierung durchaus gesehen wird. Die UNO-Soldaten werden jedoch von vielen als Teil des Sicherheitsproblems und nicht der Lösung angesehen. Die Vorwürfe reichen von Untätigkeit über Diebstahl von Gemüse und Ziegen bis hin zu Vergewaltigungen.

Zu schlechter Letzt ist inzwischen wissenschaftlich dokumentiert, dass der Cholera-Erreger von nepalesischen UN-Soldaten eingeschleppt wurde. Bis zum 10. März waren 4672 Menschen dieser Epidemie zum Opfer gefallen, die Schätzung der Infizierten beläuft sich auf mindestens 400 000 und könnte laut dem Wissenschaftsmagazin »The Lancet« noch fast das doppelte Ausmaß annehmen.

Wie Haiti seine Sicherheitsfunktionen aus eigener Kraft erfüllen kann, wie es Martelly und Manigat vorschwebt, ist freilich eine unbeantwortete Frage. Unbeantwortet ist auch die Frage, wie sich die Rückkehr haitianischer Exregenten aus dem Exil auswirkt. Schon im Januar kehrte Exdiktator Jean-Claude »Baby Doc« Duvalier (1971-1986) zurück, und auch Jean-Bertrand Aristide, auf dem nach seinem ersten Wahlsieg 1990 immense Hoffnungen der armen Bevölkerung ruhten, ist Freitag aus dem südafrikanischen Exil heimgekehrt. Dorthin war er 2004 als gewählter Präsident mit Hilfe der USA und Frankreichs vertrieben worden. »Der große Tag ist gekommen«, sagte Aristide vor seiner Abreise im südafrikanischen Johannesburg. In Port-au-Prince rief Aristides Partei »Fanmi Lavalas« zu Willkommenskundgebungen auf.

Ruhige und stabile Zeiten sind in dem krisengeplagten Land so schnell nicht in Sicht, wer auch immer das Ruder ergreift. Das ist weit sicherer als die geplante Bekanntgabe des vorläufigen Endergebnisses der Stichwahl am 31. März.

* Aus: Neues Deutschland, 19. März 2011


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