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"Uns haben sie vergessen"

Das karibische Haiti hat ein Jahr katastrophaler Extreme hinter sich

Von Hans-Ulrich Dillmann, Port-au-Prince *

In der an Katastrophen wahrlich nicht armen Geschichte Haitis nimmt das Jahr 2010 eine besondere Stellung ein. Dem Erdbeben im Januar folgten im letzten Jahresdrittel eine Cholera-Epidemie und chaotische Wahlen. Für einen Großteil der Bevölkerung geht es nach wie vor ums Überleben.

Stefanie Gilleaume schüttelt nur ungläubig den Kopf und klatscht in die Hände »Was hier passiert ist?« Dann beginnt sie gemeinsam mit ihrer Cousine lauthals über eine solche Frage zu lachen. »Nichts, wirklich überhaupt nichts. Die dicken Fahrzeuge der Hilfsorganisationen fahren jeden Tag hier vorbei, Hilfe haben wir nur am Anfang bekommen. Jetzt gibt es noch nicht einmal mehr kostenlos Trinkwasser.«

Seit dem 13. Januar lebt die inzwischen 18 Jahre alte Schülerin im provisorischen Zeltlager. Unter der zeltartig gespannten Plane drängen sich auf einer Fläche von vielleicht gerade zwei mal zweieinhalb Metern ihre Mutter, ihre Schwester, ihr Bruder und zwei Cousinen. In dem kleinen Wäldchen direkt am Flughafenzubringer haben sich ein paar Tausend Menschen angesiedelt. Wie viele es wirklich sind, weiß niemand.

Ein alltägliches Leben in Provisorien

Im April, drei Monate nach dem Erdbeben am 12. Januar, stand Stefanie Gilleaume noch der Schreck im Gesicht. Sie hatte sich unter den Küchentisch gerettet, als das kleine Haus mit den zwei Zimmern über ihr zusammenbrach. Nachbarn zogen sie aus den Trümmern. Wo sie früher wohnte, in Delmas 33, sind die meisten Häuser in sich zusammengebrochen. »Wir können nicht zurück, denn wir haben keine Alternative und kein Geld«, sagt Gilleaume. Längst ist aus dem provisorischen Lager eine Zeltstadt geworden, in dem nicht nur Nägel für rund 2,50 Euro manikürt, die Haare zum Preis von 75 Gourdes (rund 1,50 Euro) geschnitten und ein eisgekühltes Bier für 60 Gourdes (1,29 Euro) getrunken werden kann, sondern in dem Jugendliche auch in einem »Internetzelt« per Messenger mit Freunden in aller Welt chatten oder twittern können.

Stefanie Gilleaume geht wieder in die Schule. Die Klassenräume wurden mit Pressspanplatten und Wellblech wieder für den Unterricht hergerichtet. Aber der damalige Schrecken im Gesicht ist ein halbes Jahr später einem Ausdruck der Hoffnungslosigkeit gewichen. Schulterzuckernd und resigniert zeigt sie über das Lager, das bei jedem Regenguss im Schlamm versinkt. »Schau dich um im Land. Uns haben sie vergessen.« Keine 400 Meter weiter nördlich landet gerade auf der Landebahn des internationalen Flughafens von Port-au-Prince eine Frachtmaschine.

Fast ein Jahr nach dem Erdbeben, bei dem vermutlich rund 300 000 Menschen starben, leben noch immer etwa 1,3 Millionen Menschen in Provisorien. Ein Großteil der Obdachlosenlager hat sich längst zu neuen Stadtvierteln entwickelt. Alternativen sind nicht in Sicht. Die Regierung brütet seit Monaten über Aufbauplänen, die noch immer niemand kennt. Und die internationale Gemeinschaft hält die versprochenen Gelder für den Wiederaufbau zurück, weil ihnen die Versprechungen der Regierung unter René Préval zu nebulös und unkonkret sind. Die Menschen bleiben sich selbst überlassen.

Als ob die Zeit stehen geblieben wäre: Vor dem Präsidentenpalast im Zentrum der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince flattert zwar wieder die Fahne des Landes im Wind. Aber das am 12. Januar weitgehend zusammengestürzte, einst imposante Gebäude mit den drei Kuppeln, liegt noch so da, wie es der amtierende Staatspräsident René Préval in Panik an jenem Dienstag um 16.53 Uhr verlassen hat. Nur die Mittelkuppel wurde abgetragen. Und auf dem Marsfeld vor und in den Parks rund um den Palast wohnen inzwischen geschätzte 60 000 Obdachlose. Immer wieder halten Pick-ups mit freiwilligen Helfern aus dem Ausland, die noch ein Erinnerungsfoto an ihren Katastropheneinsatz in Haiti mit nach Hause nehmen wollen.

Aber in der Innenstadt wird im Gegensatz zu den Wohnvierteln aufgeräumt. »Haiti Recovering Group« steht auf schweren Lastkraftwagen und Baufahrzeugen. »Unser Ziel: schnelle, wirksame und umfassende Aufbauhilfe, damit Haiti eine stärkere, fähigere und wohlhabendere Nation wird.« Die US-amerikanischen Vorarbeiter sehen zwar aus, als ob sie in Haiti Zwischenstation von einem Irak- oder Afghanistaneinsatz machen würden, nur dass sie keine Tarnuniform tragen. Aber dafür klappt alles. Ganze Straßenzüge sind in den Nebel des Baustaubs gehüllt – der Abraum wird teilweise ins Meer geschüttet oder in der Umgebung der Drei-Millionen-Metropole verteilt. Riesenbagger rollen durch die Grand Rue, knabbern mit ihren eisernen Zähnen an Fensterhöhlen und Mauerresten in der Rue du Centre oder verwandeln mit lautem Knall ein schmales, einsturzgefährdetes Gebäude in der Rue Pavée zu einem Schutthaufen in einer stickigen Staubwolke.

»Eisengeier« und »Betonspechte«

Innerhalb von zwei Stunden sind die Trümmer verschwunden und die Baukolonne rollt zum nächsten Einsatz. »Sie gönnen uns nicht mal das Alteisen«, schimpft dagegen Wilson Fabian – ein »Eisengeier«. Wie die Aasvögel sitzen zwei Dutzend Männer auf den Resten eines Hauses und lauern auf ihren Einsatz, im Hosenbund eine Eisensäge versteckt. Kaum dass die Bagger mit ihrem endgültigen Zerstörungswerk begonnen haben, stürzen sie sich auf den Schutthaufen wie Geier auf ein waidwundes Tier, um in Windeseile die Eisenteile zu zersägen und wie Trophäen davonzutragen. Es gilt, den Abraumfahrzeugen zuvorzukommen. »Oft setzt die haitianische Polizei Tränengas gegen uns ein«, sagt der 21-Jährige, »dabei wollen wir doch nur unseren Lebensunterhalt verdienen.«

Rechts und links der Durchgangsstraße Delmas 32 arbeiten sich die »Betonspechte« mit Fäusteln und Vorschlaghämmern durch die zusammengefallenen Gebäude. Wochenlang hämmern die einen auf den Beton, um ihn zu zerbröseln, während andere die Moniereisen in transportfreundliche Stücke zersägen. Der wagemutige Wilson Fabian wird oft mit bis zu 400 Gourdes (rund acht Euro) Tageseinkommen belohnt. Die Männer freuen sich schon über fünf Euro Durchschnittsverdienst, wenn sie das Eisen an die Großhändler verkaufen.

Im Gegensatz zu dem Moloch Port-au-Prince ist Haut-Miton, ein Vorort von Leógâne, ein idyllischer Fleck. Zweieinhalb Stunden dauert die Fahrt dorthin. Riesige Mangobäume spenden Schatten, dazwischen Avocadobäume. Majestätisch recken sich Königspalmen in die Höhe. Den Wegesrand säumen Hibiskus- und Bougainvilleasträucher. Nur der enge Schlammweg macht den Besuch des Dorfes zur Tortur.

Unter den Büschen und Bäumen sind die blauen und grauweißen Planen einer Zeltstadt auszumachen. Das »Centre D'Hergement de Haut-Miton Petit Viviene de Léogâne« beherbergt fast 700 Menschen. Feste Häuser für die Menschen sind nicht in Aussicht. Die knapp zwei Kilometer entfernte Kleinstadt Léogâne mit ihren 40 000 Einwohnern lag im Epizentrum, sie ist weitgehend zerstört.

»Am Anfang wurde uns sehr gut und auch halbwegs ausreichend geholfen«, erzählt Elizabeth Senatus. Sie ist Sprecherin des Lagers und Mitglied in einer weiteren Frauengruppe »Group de Fanm Ankourajèz«. Die »mutigen Frauen« haben die Organisation im Lager übernommen. »Wir kümmern uns um die Sauberkeit, die Wasserversorgung, die medizinische Betreuung und auch um die Sicherheit, um uns vor Übergriffen durch Männer zu schützen«, erzählt die 34-jährige Mutter einer 13 Jahre alten Tochter. »Einmal wollten die Hilfsorganisationen Ansprechpartner haben«, sagt Senatus. »Zum anderen wurde uns schnell klar, dass wir uns selbst organisieren mussten, um die wichtigsten Dinge im Lager zu regeln.«

So entstanden Namen wie »Frauengruppe Sternenglanz«, die »Mutigen Frauen« oder die »Wachsamen Frauen«. Längst kümmern sie sich nicht mehr nur um die Regelung des Lageralltags, sondern bemühen sich auch, für die meist arbeitslosen Frauen Einkommensquellen zu erschließen. »Viele sind Marchants, Händlerinnen. Aber nicht alle verdienen damit genug Geld«, sagt Elizabeth Senatus. Sie stammt eigentlich aus Port-au-Prince und hat als Journalistin gearbeitet. Aber nachdem sie in der haitianischen Metropole eine Woche lang entführt war, will sie dort nicht mehr leben.

Inzwischen haben die Frauen begonnen, Kosmetika herzustellen. Haarcremes, um ihr Haar zu glätten, werden jetzt in Eigenregie produziert. Nagellackentferner gibt es aus kollektiver Produktion, ebenso wie Flüssigseife mit Avocado- oder Limonengeruch. Waschmittel werden zwischen den Zelten zusammengemischt, auch Hygieneartikel auf Basis von Zwiebeln, die bei Haut- und Vaginalentzündungen helfen. Daneben stellen einige Frauen Kunstgewerbeartikel wie Engel, Kerzen und Figuren her, die sie an die vielen ausländischen Helfer als Souvenirs aus Haiti verkaufen.

Keine Alternative zur Selbstorganisation

»Die Frauen sind stolz darauf, dass sie damit einen Teil ihres Lebensunterhalts bestreiten können«, berichtet Elizabeth. In den fast 1400 Obdachlosensiedlungen, die seit dem Erdbeben am 12. Januar in der Gegend von Port-au-Prince und im südwestlichen Dreieck von Carrefour, Jacmel und Petit Goâve entstanden sind, passiert inzwischen kaum noch etwas. Die Situation wäre noch dramatischer, wenn sich nicht ein paar Entschiedene zusammengefunden hätten, um das Lagerleben in notdürftigen Strukturen zu organisieren, die es allen ermöglichen, zu überleben.

»Wir helfen uns gegenseitig«, versichert Elizabeth Senatus. Trotzdem gibt es in dem Lager von Haut-Miton immer mal wieder Streit. Manche beäugen die »mutigen« Frauen mit Misstrauen, weil sie Ansprechpartnerinnen von Organisationen sind, die Hilfe und Unterstützung bringen. »Es gibt welche, die glauben, wir würden Geld bekommen, dass wir nicht verteilen, oder uns Vorteile verschaffen«, sagt Senatus. Das Misstrauen ist einfach da. Wie sollen es die Menschen auch anders wissen, wenn sie täglich erleben müssen, wie sich Politiker die eigenen Taschen füllen? »Trotzdem, für jemanden von außen ist das vielleicht nichts Bedeutsames, was wir machen«, gibt Elizabeth Senatus zu. »Für die Frauen hier aber sind es Riesenschritte, die sie unternehmen.«

* Aus: Neues Deutschland, 24. Dezember 2010


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