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"Indígenas können sehr wohl regieren"

Eine Reise durch den Ixcán zehn Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs in Guatemala

Von Markus Plate und Nils Brock *

Vor zehn Jahren, im Dezember 1996, unterzeichneten die guatemaltekische Regierung und die URNG-Guerilla die Friedensabkommen, die den 35-jährigen Bürgerkrieg mit 200 000 Toten, 40 000 Verschwundenen und über einer Million Flüchtlingen beendeten. Der Ixcán im Nordwesten Guatemalas ist eine der Regionen, in denen die Armee am längsten und heftigsten wütete. Die Bevölkerung hatte große Hoffnungen in die Friedensabkommen gesetzt. Wenige haben sich erfüllt.

Wer im Nordwesten Guatemalas mit dem Auto unterwegs ist, sollte genug Sitzfleisch mitbringen. Die 250 Kilometer von Guatemala-Stadt vorbei an Cobán bis nach Chisec sind zwar asphaltiert und in rund fünf Stunden zu bewältigen. Danach jedoch, Richtung Osten, rütteln die überfüllten Minibusse ihre Passagiere weitere fünf Stunden lang auf mit Schlaglöchern übersäten Schotterpisten kräftig durch. Ihr Ziel heißt Playa Grande, das Zentrum des Ixcán.

Ein Produkt des Kriegs der Generale

Auf der Hauptstraße von Playa Grande erwartet uns Alfredo Cacao, der Pressesprecher der Bezirksregierung. Dass Alfredo Mitglied der URNG ist und diese hier den Bürgermeister stellt, macht den Ixcán zu einer Besonderheit in Guatemala. Die ehemalige Guerilla und heutige Linkspartei Guatemalas leidet auf nationaler Ebene seit den Friedensabkommen unter massivem Bedeutungsverlust, vor allem bedingt durch interne Rangeleien und die Entfernung von der sozialen Bewegung Guatemalas.

Im Ixcán jedoch wurde der URNG-Bürgermeister Marco Ramírez vor sieben Jahren mit großer Mehrheit gewählt und vor drei Jahren im Amt bestätigt. Das habe viel mit der Geschichte der Region zu tun, sagt Alfredo, der uns einlädt, seinen Ixcán näher kennenzulernen.

Playa Grande, immerhin Verwaltungssitz des Ixcán, fehlt es an vielem, was einem guatemaltekischen Städtchen Charme verleiht: Einen zentralen Platz mit kolonialer Kirche und farbig getünchten Häusern gibt es hier nicht, dazu ist Playa Grande zu jung. Die Straßen sind breit, baumlos und ungeteert, Plastikmüll gräbt sich in das Schotterbett, und der Staub beißt in Nase und Augen. Gerade zwanzig Jahre ist es her, dass aus ein paar Fincas am Ufer des Cantabal das Handels- und Verwaltungsstädtchen Playa Grande wurde. »Früher gab es hier nur Urwald und ein paar Q'eqchí-Gemeinden«, erklärt der Pressesprecher. »Dann kam die Armee, errichtete direkt am Fluss einen großen Militärstützpunkt und begann ihren Terror gegen die Bevölkerung.«

Der Ixcán liegt in der Tiefebene zwischen der mexikanischen Grenze im Norden und der Bergkette der Cuchumatanes im Süden. Dahinter liegt das Herzland des überwiegend indigen geprägten Quiché. Dort begannen Armee und Paramilitärs in den achtziger Jahren unter dem Oberbefehl des Militärmachthabers Efrain Rios Montt, ganze Gemeinden zu massakrieren. In der Folge flüchteten Hunderttausende über die Cuchumatanes in den Ixcán und von dort aus zur mexikanischen Grenze. Im bis dahin fast unberührten Ixcán agierte die Guerilla, vor allem das Ejercito Guerillero de los Pobres, das Guerillaheer der Armen, Teil der Guerillakoalition URNG. Der Verwaltungsbezirk Ixcán sei also ein Produkt des Krieges der Generale gegen die eigene Bevölkerung, erläutert Alfredo. Sie wollten die Gegend kontrollieren, die Guerilla bekämpfen, und sie wollten die Flüchtlinge abfangen. So entstand Playa Grande.

Am nächsten Morgen begleiten wir Alfredo im alten Geländewagen der Bezirksverwaltung. Die Straße führt entlang des Rio Negro oder Chixoy, wie er auf Q'eqchí genannt wird, nach Primavera, zwei Stunden südlich von Playa Grande. Das Dörfchen hat seine ganz besondere Kriegsgeschichte. Die gesamte Gemeinde, insgesamt über fünfzig Familien, versteckte sich zwölf Jahre lang vor der Armee in den Bergen. Mateo Baltazar Mateo, heute Mitte vierzig, erzählt, wie die Übergriffe der Armee auf die Gemeinden immer mehr zunahmen und wie aus der Übergangslösung im Wald schließlich zwölf Jahre wurden.

Wie organisiert man ein solches Leben im Urwald, immer in Gefahr, von der Armee entdeckt und angegriffen zu werden? »Es gab Monate«, erinnert sich Mateo, »in denen wir uns nur von Wurzeln ernährten. Nur wenn keine Hubschrauber zu sehen waren, konnten wir auf den Lichtungen unsere Kleidung trocknen. Und kochen konnten wir nur nachts, weil uns sonst der Rauch verraten hätte.« Erst 1999 wurde das heutige Dorf gegründet. Der alte Zusammenhalt besteht immer noch. »Wir sind nach wie vor sehr gut organisiert und solidarisch. Wir haben eine selbst verwaltete Schule, wir besitzen umfangreiche Kenntnisse in Naturmedizin, uns gehören kollektiv bewirtschaftete Flächen, und wir können uns Gehör verschaffen.« Heute sei Primavera Vorbild für viele Gemeinden in der Region, sagt der heutige Sozialarbeiter Mateo Baltazar Mateo. Und nicht von ungefähr stammt auch der Bürgermeister des Ixcán, Marco Ramírez, aus Primavera.

Die Dörfer entlang der Straße weiter Richtung Süden gleichen sich: Holzverschläge zwischen kleinen Maisfeldern, mittendrin noch Fleckchen von Urwald. Die Fahrt nach San Juán Chactelá dauert noch einmal über eine Stunde – und das für läppische 20 Kilometer. San Juán Chactelá ist eines von vielen Beispielen dafür, wie wenig sich seit Friedensschluss in Guatemala getan hat, wie viele Hoffnungen enttäuscht wurden und wie sehr die traditionellen autoritären Machtstrukturen fortbestehen.

Schlimme Erinnerungen werden geweckt

Der Rat, der uns in dem kleinen Gemeindesaal empfängt, besteht aus Repräsentanten aus einem halben Dutzend Weilern in der Umgebung, die um ihre Existenz kämpfen. Dreißig Dörfer sollen nach dem Willen der Regierung in den nächsten Jahren einem Stausee weichen. Gemeindesprecher Lorenzo Pou ist wütend, dass wieder einmal über die Köpfe der Bevölkerung hinweg entschieden wird: »Es interessiert die Regierung nicht, dass hier Menschen am Fluss leben. Es geht ihr nur darum, Strom nach Mexiko und in die USA zu verkaufen.« Die indigene Bevölkerung werde nicht informiert und schon gar nicht in Entscheidungen einbezogen. Rechtliche Ansprüche können die Gemeinden kaum geltend machen: Sie haben wie die meisten Kleinbauern nicht einmal Besitztitel. Ob sie der Staat entschädigen würde, steht in den Sternen. Zumal die Gangart der Regierung und einiger Geschäftsleute in Playa Grande härter geworden ist, seit sich die Gemeinden gegen das Staudammprojekt zur Wehr setzen. »Seit Monaten polemisiert das kommerzielle Radio im Ixcán gegen uns, gegen die Kirche, den Bürgermeister und gegen unsere Freunde im Baskenland, die uns unterstützen. Wir seien Terroristen, wird da gesagt«, erregt sich Sprecher Pou. Ein Muster, das bei vielen in der Gegend schreckliche Erinnerungen weckt. Bei dem Bauern Guillermo zum Beispiel, der im Alter von elf Jahren zusehen musste, wie die Armee seine Eltern ermordete: »Ich habe Angst, dass sich das alles wiederholen könnte. Da sind wieder diese Verleumdungen. Und dann darf man nicht vergessen, dass wir am Rio Negro sind. Am selben Rio Negro, an dem jenseits der Berge die Armee in den achtziger Jahren die Dörfer niedergemetzelt hat – auch wegen eines Staudammprojektes.«

Und immer noch werden soziale Führer in Guatemala ermordet, auch zehn Jahre nach den Friedensabkommen. Im Ixcán können die Bewohner der bedrohten Gemeinden zumindest auf die Unterstützung des Bürgermeisters setzen. Wir treffen Marco Ramírez, den Mann aus der Gemeinde Primavera, in seinem Büro in der Municipalidad. Auch der URNG-Mann beschwert sich über die Zentralregierung: »Natürlich wollen die keinen Gemeinderat, der sich für die Menschen einsetzt. Seit wir regieren, kürzt uns die Hauptstadt die Mittel, so dass wir nicht einmal Trink- und Abwasserleitungen legen können, geschweige denn die Straßen asphaltieren.« Die Regierung und die Oligarchie wollten mit dem Ixcán Geld machen, Strom verkaufen und an das Erdöl kommen. Eine Entwicklung der indigenen Bevölkerung interessiere sie nicht. »In dieser Hinsicht hat sich in Guatemala seit Jahrhunderten nichts geändert!«, so Ramírez.

Der Bürgermeister wirkt müde, als er uns aus dem Rathaus verabschiedet. Gerade versuchen seine Lokalregierung und die Bevölkerung aus dem Ixcán, eine Volksabstimmung gegen den Staudammbau durchzusetzen. Auch wenn der Ausgang dieses Votums offen ist, zeigt sich der Vorsteher von Playa Grande optimistisch: »Ich glaube, die Früchte unseres Kampfes und unserer Arbeit sind, dass wir heute im Rathaus das Sagen haben. Viele meinen, dass Indígenas, Bauern und Analphabeten nicht denken, nicht planen und schon gar nicht einen Bezirk regieren könnten. Aber wir haben bewiesen, das wir das sehr wohl können.«

* Aus: Neues Deutschland, 3. Januar 2007


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