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"Griechenland wird wie eine Kolonie behandelt"

Die Wirtschaft des Landes hat nach den Auflagen der EU keine Chance, wieder auf die Beine zu kommen. Ein Gespräch mit Annette Groth *


Annette Groth (Die Linke) ist Menschenrechtspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag und Vorsitzende der Deutsch-Griechischen Parlamentariergruppe.

Am Freitag wird der Bundestag in einer Sondersitzung über ein drittes Rettungspaket für Griechenland abstimmen. Wie werden Sie sich verhalten?

Ich werde mit Nein stimmen. Dieses Diktat der EU-Eliten gegen Griechenland wird das Elend dort noch verschlimmern. Die extrem hohe Arbeitslosigkeit und die Rezession werden als Folge der Auflagen weiter massiv zunehmen. Die griechische Wirtschaft hat so keine Chance, wieder auf die Beine zu kommen. Im Rahmen einer »Treuhandanstalt« sollen die Privatisierungen durchgesetzt und damit der Ausverkauf Griechenlands forciert werden. Die Entscheidung der Mehrheit der Griechen, die vor einer Woche mit 61,3 Prozent der abgegebenen Stimmen den letzten Vorschlag der Institutionen abgelehnt haben, wird mit Füßen getreten. Genau diese undemokratischen, nicht gewählten Institutionen diktieren Griechenland Rentenkürzungen und fordern weiter Einschnitte im öffentlichen Dienst. Dem darf kein Volksvertreter, dem die Demokratie am Herzen liegt, zustimmen.

Aber Griechenland ist doch dringend auf finanzielle Hilfen angewiesen.

Die bisherigen »Hilfen« waren Bankenrettungspakete, bei denen private Kredite in Staatskredite umgewandelt wurden. Die internationalen Privatbanken und ihre Manager lachen sich über diese Politik ins Fäustchen. Die EU-Eliten werfen den Banken Milliarden Steuergelder hinterher, damit die Profite der Aktionäre steigen. Das ist der eigentliche Skandal!

Welchen Ausweg sehen Sie?

Griechenland braucht dringend einen Schuldenschnitt. Die Profiteure des Desasters müssen endlich an den Kosten der Finanzkrise beteiligt werden. Wir brauchen die Vergesellschaftung des Bankensektors. Bankdienstleistungen sind Leistungen der Daseinsvorsorge und müssen der Profitmaximierungsstrategie der Spekulanten und Profiteure entzogen werden. Griechenland muss Kapitalverkehrskontrollen einführen können, damit die Superreichen endlich zur Kasse gebeten werden. Die anderen EU-Staaten müssen sich verpflichten, die ausländischen Bankguthaben der reichen Oberklasse Griechenlands an die Steuerbehörden in Athen zu melden, damit die Regierung mit einer Vermögensabgabe die Sanierung der Staatsfinanzen einleiten kann. Mehr als 40 Milliarden Euro wurden von diesen Superreichen mit Hilfe der Privatbanken aus Griechenland herausgeschafft. Das muss ein Ende haben!

Die Bundesregierung führt sich zur Zeit auf, als sei Griechenland ein deutsches Bundesland. Was ist dieser Anmaßung entgegenzusetzen?

Wenn die Bundesregierung Griechenland als 17. Bundesland behandeln würde, hätte sie sich für Transferzahlungen an Griechenland eingesetzt, wie das im Länderfinanzausgleich in Deutschland grundgesetzlich geregelt ist. Griechenland wird jedoch von der Bundesregierung nicht als gleichberechtigter Teil der EU, sondern wie eine Kolonie behandelt. Die Bundesregierung setzt die Interessen der Exportindustrie und der Großbanken durch. Dafür nimmt sie die Verelendung großer Teile der griechischen Bevölkerung in Kauf. Die Linke muss dieser imperialen Strategie Widerstand entgegensetzen. Wir müssen uns gemeinsam für internationale Widerstandsformen einsetzen, mit denen die Kämpfe in Griechenland, Spanien oder auch Italien mit den Kämpfen der Betroffenen in Deutschland zusammengeführt werden. Da liegt noch ein weiter Weg vor uns.

Rächt es sich jetzt nicht auch, dass Ihre Partei sich nicht dazu durchringen konnte, die EU als imperialistischen Zusammenschluss zu charakterisieren und rundum abzulehnen?

Kurz und bündig: Ja! Innerhalb der Linken gibt es bei manchen noch immer die Illusion von den »europäischen Werten«, die es zu retten gelte. Umgekehrt wird jedoch ein Schuh daraus: Wir müssen die vertraglichen Grundlagen der EU grundsätzlich in Frage stellen. Die heutige Politik der EU ist einer der Hauptgründe für die zunehmenden nationalistischen und rassistischen Übergriffe in immer mehr Mitgliedstaaten. Wir müssen diese falsche Politik fundamental kritisieren und für eine Neugründung der EU werben.

Interview: Markus Bernhardt

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 16. Juli 2015


Anweisungen abgenickt

Griechisches Parlament verabschiedet Kürzungsdiktat der EU. Tsipras verliert Regierungsmehrheit und droht mit Rücktritt. Wütende Proteste in Athen **

Das griechische Parlament hat in der Nacht zum Donnerstag die ersten der von der Eurogruppe verlangten Kürzungsgesetze verabschiedet. 229 Abgeordnete des 300 Sitze zählenden Parlaments stimmten mit »Ja«, 64 votierten mit »Nein«, sechs enthielten sich. Gleichzeitig verlor Ministerpräsident Alexis Tsipras seine Regierungsmehrheit: 38 der 149 Abgeordneten von Syriza verweigerten dem Regierungschef die Gefolgschaft. Zu den Abweichlern in der Fraktion der Regierungspartei Syriza zählte Parlamentspräsidentin Zoe Konstantipoulou. Auch der ehemalige Finanzminister Giannis Varoufakis verweigerte seine Zustimmung, so dass Tsipras auf die Unterstützung konservativer, sozialdemokratischer und liberaler Oppositionsparteien angewiesen war. Vor Beginn der Abstimmung hatte der Ministerpräsident mit seinem Rücktritt gedroht, sollte er nicht die Zustimmung seiner Koalition bekommen. Er sei von den Gläubigern erpresst worden, die Kürzungen zu akzeptieren, erklärte er.

Mit den Worten »Alexis, ich kann nicht mehr weitermachen« hatte am Abend bereits die stellvertretende Finanzministerin Nadja Valavani aus Protest gegen die Einschnitte ihren Rücktritt erklärt. Beobachter rechneten damit, dass Tsipras auch andere Regierungsmitglieder entlassen könnte, die gegen das Reformpaket stimmen. Als Kandidat hierfür galt Energieminister Panagiotis Lafazanis vom linken Syriza-Flügel. Dieser hatte seine Ablehnung des Pakets mit den Worten begründet, die »Wahl zwischen Rettung oder Katastrophe« sei eine »Wahl im Angesicht des Terrors«.

Die Gesetze sehen unter anderem eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und die Einleitung einer »Rentenreform« vor. Die Staats- und Regierungschefs der Euroländer hatten die Verabschiedung im Eilverfahren zur Bedingung dafür gemacht, dass die Kreditgeber mit Athen über neue Milliardenkredite verhandeln.

Am Abend demonstrierten Tausende Menschen in Athen gegen die Kürzungen. »Nein zu Privatisierungen, rettet die Häfen, die (staatliche Elektrizitätsgesellschaft) DEI, die Krankenhäuser«, stand auf einem Transparent vor dem Parlamentsgebäude. »Annulliert das Memorandum, streicht die Schulden«, forderte die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, ADEDY. »Ich bin hier, weil die Regierung unser Votum vom 5. Juli nicht respektiert hat, und auch nicht, was wir seit fünf Jahren durchmachen. Ich habe studiert und finde keine Arbeit, nur hier und da ein paar Stunden, schlecht bezahlt«, sagte die 28jährige Heleni mit Blick auf das Referendum, in dem sich eine klare Mehrheit der Griechen gegen weitere Kürzungsprogramme ausgesprochen hatte. »Wir haben kein Geld mehr, Millionen von Arbeitslosen, wir können ein drittes Programm nicht mehr aushalten«, sagte auch Maria Dimitri, die im Protestzug der Kommunistischen Partei KKE mitlief.

Deren Generalsekretär Dimitris Koutsoumbas kritisierte in der Parlamentsdebatte die Regierung für die Unterzeichnung der neuen, »barbarischen« Kürzungen. Das Volk müsse den Preis für »Tsipras\' elendes Memorandum« bezahlen, so Koutsoumbas. »Zu deinem Unglück ist das schöne Märchen von den harten, stolzen Verhandlungen vorüber. Niemand ist überzeugt.«

In Berlin demonstrierten am Mittwoch abend etwa 1.200 Menschen für Solidarität mit Griechenland. Sie marschierten vom Oranienplatz im Stadtteil Kreuzberg zum Sitz des Bundesfinanzministeriums im Bezirk Mitte. Zu Zwischenfällen kam es nicht.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 16. Juli 2015




Wenig Hoffnung in Athen

Totale Abhängigkeit oder allein zu Haus? Griechisches Parlament stellt Weichen für Zukunft des Landes ***

Am gestrigen Abend (15.07.2015) hatte Griechenlands Parlament die Wahl: Folgt es mehrheitlich Ministerpräsident Alexis Tsipras? Noch vor knapp zwei Wochen wäre das eindeutig zu beantworten gewesen. Mit Ja. Über 60 Prozent der Wähler hatten beim Referendum am 5. Juli gegen die Bedingungen der »Geldgeber« gestimmt. Zehn Tage später schien das vergessen. Nach dem »EU-Krisengipfel am Wochenende empfahl Tsipras den Abgeordneten, das »neue« Angebot aus Brüssel anzunehmen. Es war keine überzeugende Präsentation. Der Ministerpräsident gestand, er selbst sei von dem »Vorschlag« nicht überzeugt.

Nach einer für Mittwoch nachmittag angesetzten Parlamentsdebatte sollten die Abgeordneten gegen 23 Uhr über höhere Mehrwertsteuern entscheiden, Frühverrentungen größtenteils abschaffen und einige, auf dem Papier als Auflagen für Vermögende geltende, Maßnahmen auf den Weg bringen – als Vorleistungen für weitere Verhandlungen über etwas, das »drittes Hilfspaket« genannt wird. Die beiden Vorgänger dieses Programms hatten seit 2010 rund 240 Milliarden Euro nach Griechenland fließen lassen, ein Großteil davon hat das Land längst wieder verlassen, ob als Rückzahlung an westliche Banken oder als Beute griechischer Oligarchen und Spekulanten.

Tsipras bekam bereits vor der Abstimmung heftigen Gegenwind zu spüren. Die stellvertretende Finanzministerin Nadia Valavani verkündete ihren Rücktritt. »Alexis, ich kann nicht mehr«, schrieb sie ihrem Chef. Aus Protest gegen die neuen Auflagen waren griechische Staatsbedienstete gestern in einen 24stündigen Streik getreten, dem sich auch Personal staatlicher Krankenhäuser und Eisenbahner anschlossen. Für den Abend waren Demonstrationen im Athener Stadtzentrum und vor dem Parlament geplant. In Thessaloniki hatten am Nachmittag Anhänger der kommunistischen Gewerkschaft PAME ein Ministeriumsgebäude besetzt.

*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 16. Juli 2015


Widerstand statt Unterwerfung

Mikis Theodorakis fordert »Volksfront« der Linken und der Kommunisten gegen »das System«

Von Hansgeorg Hermann ****


Der griechische Komponist und ehemalige Widerstandskämpfer Mikis Theodorakis hat die griechische Linke und die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) aufgefordert, in einer breiten »Volksfront« gegen »das System« des Finanzkapitalismus und seine politischen Helfer aufzustehen. In einer junge Welt übermittelten Erklärung bedauerte Theodorakis am Mittwoch den »historischen Fehler« der Syriza-Regierung bei den Verhandlungen mit den mächtigen Vertretern der sogenannten Euro-Gruppe. Die fünf Monate Amtszeit des im Januar gewählten Ministerpräsidenten Alexis Tsipras hätten »bewiesen, dass es unmöglich ist, das System von innen heraus – als Parlament und Regierung – zu bekämpfen«. »Das System« werde jegliche griechische Regierung, sei sie auch demokratisch gewählt, »immer dazu zwingen, den Handlanger zu machen«.

Im besten Fall werde man Athen die Rolle »des Verwalters« der Interessen einer »fremden Macht« gegen den Widerstand des Volkes zubilligen. »Sie werden dich also zwingen, das genaue Gegenteil von dem zu tun, wofür du mit deinem Programm angetreten bist.« Die Verantwortlichen des dritten Griechenland-Memorandums und die hinter ihnen stehenden global vernetzten finanzkapitalistischen Wortgeber sind nach Ansicht des fast 90 Jahre alten, in Griechenland nach wie vor hoch geachteten und gehörten Musikers und früheren Politikers der Kommunistischen Partei nur zu schlagen, »wenn eine Regierung im Einklang mit dem Volk die reaktionäre Macht bekämpft und sich nicht statt dessen zum Organ des Systems machen lässt«.

Das habe auch Tsipras’ Partei erklärt, bevor sie gewählt worden sei und Regierungsverantwortung übernommen habe. Leider fließe mit der Regierungsmacht »soviel Honig (in Griechenland auch Synonym für Korruption, jW), dass ihr schnellstens euer eigenes Ich vergesst, sobald ihr Abgeordnete und Minister seid«. Theodorakis nannte es »ein Verbrechen«, dass die Regierung in den Monaten seit der Wahl und vor allem in den vergangenen Wochen das »Sterben der kleinen Produzenten und des Mittelstands« zugelassen habe. Mit ihnen sei auch die seelische und die moralische Kraft des Volks gestorben, das – indem es laut »Oxi« (nein) gerufen habe – »seinen Körper und seine Psyche erschöpfte, es hat alles gegeben«.

Inzwischen habe Griechenland einen nationalen Nullzustand erreicht. »Wir liegen am Boden.« Das sei es, was ihn so grausam verwundet habe, »weil ein Volk kein Pferd ist, das fällt und wieder aufsteht – ein Volk hat Unendlichkeit und ein ungeheueres Gewicht«. Wenn das Volk, wie in seinem Land, »eins wird mit der Erde, dann wird es viele Jahre dauern, bis es wieder aufzustehen vermag«.

Syriza habe beim Wahlsieg im Januar von den »frischen Kräften« einer Massenbewegung profitiert. »Als aber Syriza Regierungsmacht wurde, verwandelte sich die Massenbewegung automatisch in regierungsgebundene Macht. Das heißt, sie verlor im wesentlichen ihre Stoßkraft. Sie wurde zu einer Art Angestellten.«

Die KKE haben im gleichen Atemzug das Ziel verfolgt, die Massenbewegung, die zum »Oxi« geführt habe, an sich zu binden. Er kenne – »denn auch ich bin Kommunist« – die politischen Einzelheiten, »die uns trennen«. Wichtiger seien allerdings die »dringenden gemeinsamen Ziele, die uns einen«. In diesem Moment sei es das gemeinsame Ziel, »dem Volk wieder auf die Beine zu helfen«. Es stelle sich die Frage, was die Linke von der KKE trenne – es sei dies, »wie immer, der Klassenkampf«. Er sei allerdings davon überzeugt, dass – indem gemeinsam »das System« bekämpft würde – gleichzeitig der Klassenkampf gegen eine Plutokratie geführt werde, die er als »das Herz des Systems« schlechthin definiere.

Er hoffe, schreibt Thedorakis, dass eine »patriotisch-klassenbewusste Front« der Linken in die »Gründung einer neuen EAM« (Volksbefreiungsfront) münden könne – einst im Weltkrieg erbitterter und erfolgreicher Gegner der deutschen Besatzer.

**** Aus: junge Welt, Donnerstag, 16. Juli 2015


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