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Bis zu 18 Monate "Hölle auf Erden"

Ärzte ohne Grenzen prangern unhaltbare Zustände in griechischen Flüchtlingslagern an

Von Anke Stefan, Athen *

Laut der Hilfsorganisation seien die Unterkünfte die »Hölle auf Erden«. Den Flüchtlingen würde selbst ein Mindestmaß an Hygiene und medizinischer Versorgung verweigert.

»Seit ich in Griechenland angekommen bin, habe ich viele schlimme Dinge gesehen. Viele Nächte habe ich Albträume. Ich würde mir wünschen, dass Sie meine Geschichte lesen. Und sich fragen, wie es sein kann, dass ein Kind in meinem Alter, ohne dass es irgendetwas verbrochen hat, so lange im Gefängnis eingesperrt wird.« Die Worte eines 16-jährigen Jungen, der bereits neun Monate in einem Auffanglager für Flüchtlinge in Griechenland verbringt, zeugen von der Verzweiflung, die viele der Tausenden bei der illegalen Einreise nach Europa aufgegriffenen Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten verspüren. Bis zu 18 Monate können sie laut Gesetz in Auffang- und Abschiebelagern, aber auch in lichtlosen Arrestzellen griechischer Polizeistationen verbringen, bevor sie entweder abgeschoben oder freigelassen werden.

Das sind 18 Monate, die sie nach Ansicht der international tätigen Menschenrechtsorganisation Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF) unter unmenschlichen und gesundheitsschädlichen Bedingungen verbringen müssen. Die am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Athen vorgestellten Bilder zeugen von unhaltbaren Zuständen: In unterirdischen Polizeizellen mit Stockbetten zusammengepferchte Menschen, Auffanglager, in denen selbst grundlegende sanitäre Einrichtungen nicht funktionieren. So werden in einem Lager die Abwässer aus der Toilette im oberen Stockwerk mangels Rohrleitung in Plastiksäcken in die Toiletten des Erdgeschosses geleitet.

MSF prangert insbesondere das Fehlen jeglicher medizinischer Versorgung an. Seit 2008 betreue die Organisation die vom Staat im Stich gelassenen Migranten zumindest sporadisch. Im Zuge von sieben Kampagnen wurden in verschiedenen Lagern fast 10 000 Kranke behandelt.

Bei ihren Besuchen stellten die Ärzte fest, dass viele der Krankheiten entweder durch die Haftbedingungen verschlimmert oder erst hervorgerufen werden. »Es herrscht hohe Luftfeuchtigkeit. Ich habe Kranke gesehen, die auf feuchten Matratzen schlafen müssen«, berichtet einer der Mediziner. In den überfüllten Lagern grassiere die Krätze, verschlechterten sich Erkrankungen der Atemwege, breiteten sich Magen- und Darmerkrankungen aus. Die Bedingungen schlagen auch auf die Psyche: Depressionen und Angstzustände, die bis hin zu Selbstmordversuchen führen, sind an der Tagesordnung. Allein im Februar und März vergangenen Jahres habe die Organisation neun Selbstmordversuche erlebt, erklärte die Beraterin für Migrationsfragen von MSF, Ioanna Kotsioni.

Er habe bei seiner letzten Visite im nordgriechischen Fylakio einen schwer zuckerkranken Mann zurückgelassen, der jederzeit ins Koma fallen könne, berichtete der Leiter des in den Lagern arbeitenden Ärzteteams Apostolos Veizis. Doch nur 22 definitiv nicht in ein solches Lager gehörende Personen wurden auf Intervention von Ärzte ohne Grenzen in all den Jahren aus medizinischen Gründen entlassen.

Marietta Provopoulou, Griechenland-Chefin von MSF, forderte die Regierung in Athen auf, den Flüchtlinge Zugang zu einem funktionierenden Asylverfahren und zu medizinischer Versorgung zu verschaffen. Außerdem müsse olle die »generelle und systematische« Inhaftierung aller illegal Eingewanderten beendet werden. Griechenland sei aber nicht allein für die verheerende Situation verantwortlich, betonte Provopoulou. Auch die anderen EU-Länder müssten sich an der Einrichtung eines menschenwürdigen Systems zur Versorgung der aus Krisen- und Kriegsgebieten fliehenden Menschen beteiligen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 3. April 2014


"Wir müssen das Land vom Nazi-Biest befreien"

Der Politikwissenschaftler Dimitris Christopoulos über seine neue Studie zur Verbreitung von Rechtsextremismus in Griechenland **

Dimitris Christopoulos lehrt und forscht an der Panteion Universität in Athen. Im Auftrag der Rosa- Luxemburg-Stiftung erstellte er mit Kollegen die Studie »Herde des Rechtsextremismus und fremdenfeindliches oder rassistisches Gedankengut im griechischen Staat«. Bei der Vorstellung in Brüssel am Dienstag sprach mit ihm für »nd« Katharina Strobel.

Ihre Studie reicht zurück bis zu den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Was sind die wichtigsten Ergebnisse?

Der Rückblick auf das vergangene Jahrhundert ist wichtig, um zu erkennen, dass der Rechtsradikalismus in Europa eine lange Tradition hat. Das 20. Jahrhundert war Zeuge der grausamsten Diktaturen, die wir kennen. Das Nazi-Biest lebt immer mit uns. In ruhigen Zeiten schläft es. In Zeiten der Krise wacht es auf. In Griechenland ist es hellwach.

Wie äußert sich das im Alltag?

Der Rechtsextremismus unterläuft alle Bereiche. Die Studie hat ergeben, dass Bereiche der Justiz, der Armee, der Kirche und des Polizeiwesens dem rechten Gedankengut gegenüber aufgeschlossen sind und sich von ihm leiten lassen.

Heißt das auch, dass Polizei und Justiz die Augen verschließen, wenn Straftaten mit rechtsradikalem Motiv begangen werden?

Genau. Bis zum Herbst vergangenen Jahres konnten Antifaschisten oder Homosexuelle zum Beispiel auf den Straßen nicht sicher sein. Vorwürfe gegen die Polizei und die Regierung gab es schon lange. Auch die ausländische Presse machte auf die Missstände aufmerksam. Vergeblich. Eine Reaktion kam erst durch den Tod von Pavlos Fyssas. Der griechische Antifaschist wurde von Mitgliedern der rechtsradikalen Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgendämmerung) umgebracht. Sein Tod änderte den Kurs der Regierung schlagartig. Unsere konservative Regierung bekam Angst vor der übermächtigen extremen Rechten. Sie verurteilte die Goldene Morgendämmerung – viel zu spät natürlich – als kriminelle Partei und brachte viele Mitglieder in Haft.

Ist der Bedrohung von Rechts dadurch Einhalt geboten?

Nein. Der Boden für rechtes Gedankengut bleibt in der gegenwärtigen Lage weiter fruchtbar. Nach der Goldenen Morgendämmerung kommt vielleicht die nationale oder die silberne oder wie auch immer sie sich nennen. Es gibt viele rechtsradikale Gruppierungen. Sie bleiben eine große Gefahr. Allerdings wäre es zu leicht, die sogenannte Krise, unsere wirtschaftliche Lage, für die rechten Auswüchse verantwortlich zu machen. Die Krise fungierte vielleicht als Auslöser.

Welche Auswege halten Sie für möglich?

Die Menschen wollen den politischen Willen der Regierung sehen. Den Willen, der extremen Rechten die Stirn zu bieten und zu handeln. Zwar geht sie gegen die Goldene Morgendämmerung vor, aber viel zu spät. Sie muss auch in den eigenen Reihen aufräumen. Wir müssen das Land vom Nazi-Biest befreien.

Wie realistisch ist das?

Wir können die rechte Ideologie nicht auslöschen. Aber die Ideologie muss aus der Politik verschwinden, weil sie uns nicht sein lässt, wer wir sind.

Könnte die EU dabei helfen?

Das Rezept der EU für den Süden Europas ist ein Rezept für einen blühenden Rechtsradikalismus. Das wird sich in den Europawahlen niederschlagen. Besser wäre eine EU, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt. Man kann nicht erwarten, dass die Leute die neoliberalen Umstellungen mitmachen, ohne dass sich etwas ändert. Die Leute reden immer von der Krise, als könne man sie durch ein rigides Sparen oder irgendwelche Maßnahmen überwinden und dann ist wieder alles wie vorher. Wir müssen begreifen, dass wir es mit einer gesellschaftlichen Umwälzung zu tun haben. Wir haben es mit einem Übergang in eine neue Phase zu tun, dies ist der Anfang von etwas Neuem. Wovon genau, wissen wir noch nicht.

Sehen Sie die griechische Demokratie in Gefahr?

Nein, so weit ist es noch nicht. Aber wir müssen jetzt den Alarmknopf drücken, bevor es zu spät ist. Die Studie soll einen Beitrag dazu leisten.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 3. April 2014


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