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"Der EU-Plan bedroht den Frieden"

Unter der Syriza- Regierung werden Flüchtlinge an Griechenlands Meeresgrenzen nicht mehr zurückgedrängt, Sammellager wurden aufgelöst. Ein Gespräch mit Tasia Christodoulopoulou *


Tasia Christodoulopoulou (Syriza) ist Vizeinnenministerin Griechenlands für Migrationspolitik.

Was haben Sie bei Übernahme ihres Ministeramts vorgefunden?

Im Grunde nichts, denn vor dem Wahlsieg von Syriza gab es kein Ministerium für Migrationspolitik in Griechenland. Statt dessen haben die Vorgängerregierungen versucht, dieses so wichtige politische und gesellschaftliche Problem mit Hilfe von Repression zu lösen. Vorhanden waren lediglich über diverse Ministerien verstreute Dienststellen: eine im Innenministerium, die für die Ausstellung und Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigungen von legalisierten Migranten zuständig war, zwei im Ministerium für Öffentliche Ordnung beziehungsweise Bürgerschutz, denen die Asylverfahren unterstanden, zwei weitere im Arbeitsministerium, zuständig für die Eingliederung von Migranten und die Verwaltung von Einrichtungen für die Unterbringung von Flüchtlingen, sowie eine im Gesundheitsministerium, die sich um ihre medizinische Versorgung kümmerte.

Seit 1990, als zum ersten Mal massiv Flüchtlinge in Griechenland ankamen, hatte es keine Migrationspolitik in Griechenland gegeben. Das wollen wir mit dem neu eingerichteten Ministerium für Migrationspolitik ändern. In ihm werden alle Zuständigkeiten zusammengefasst, so dass eine einheitliche Strategie bei diesem wichtigen Thema möglich wird.

Kurz nach Regierungsantritt wurde berichtet, dass die Sammellager für Migranten geschlossen werden sollen. Was haben Sie in den ersten drei Monaten Linksregierung bereits konkret verändern können?

In der Tat haben wir zunächst vor allem die Politik der bisherigen Regierung, zu deren Prioritäten die Sammellager gehörten, unter die Lupe genommen. Und festgestellt, dass in diesen Lagern Menschen eingesperrt waren, die nach europäischen und griechischem Recht gar nicht hätten eingesperrt werden dürfen: Asylbewerber, unbegleitete Minderjährige, kranke und alte Menschen sowie viele, die aus humanitären Gründen nicht abgeschoben werden dürfen und somit Anspruch auf Duldung haben. Wir haben sofort begonnen, all diese Menschen Schritt für Schritt freizulassen. Von den etwa 3.800 Betroffenen sind heute etwa 3.000 aus den Lagern entlassen.

Freilassen ist eine Sache, aber wohin sollen all diese Menschen? Wer kümmert sich um sie?

Die Regierung Samaras war von der Europäischen Kommission verpflichtet worden, bis Ende 2014 insgesamt 2.500 Plätze zur Unterbringung von Flüchtlingen und Migranten zu schaffen, hat aber keinen einzigen erstellt und sich statt dessen auf den Bau von Internierungslagern konzentriert. Trotzdem sind diese Menschen von uns nicht – wie fälschlicherweise in den Medien verbreitet – einfach auf die Straße gesetzt worden.

Die allermeisten hatten vor ihrer Internierung bereits in Griechenland gelebt, hatten Wohnung und Familie und kehrten nun dahin zurück. Darüber hinaus hatten wir vor der Öffnung der Lager mit den hiesigen migrantischen Gemeinden Kontakt aufgenommen. Diese haben sehr viel für die Unterbringung und Versorgung ihrer Landsleute getan. Und natürlich haben wir mit der Gemeinde von Athen gesprochen, die über eine ganze Reihe von Gebäuden für die Unterbringung von Obdachlosen verfügt, damit dort so viele wie möglich untergebracht werden konnten. Anderen wurden freie Plätze zugewiesen, die Minderjährigen in dafür geeignete Einrichtungen verlegt.

Vor kurzem riefen Sie die Bürgermeister ganz Griechenlands zur Hilfeleistung auf. Was hat das gebracht?

Wir stehen vor einem doppelten Problem: Wir haben keine Strukturen und wir haben kein Geld. Denn auch wenn uns die Gemeinden Räume zur Verfügung stellen können, braucht es Geld, um diese nutzen zu können. Manche müssen vielleicht renoviert oder umgebaut werden. Gleichzeitig braucht es Mittel für das nötige Personal und für die Kosten von Strom, Wasser etc.

Die vorherige Regierung wäre verpflichtet gewesen, bis zum Oktober 2014 ihre Anträge auf die EU-Finanzierung von 2014 bis 2020 der Europäischen Kommission vorzulegen. Sie hat nichts eingereicht, die entsprechenden Anträge werden nun von uns gestellt. Wir sind also in ein Finanzloch gefallen.

Bei meinen Gesprächen sowohl mit den Bürgermeistern als auch mit den Präfekten habe ich zunächst einmal nach Räumen gefragt, dann ob sie finanziell in der Lage wären, auch einige der Leistungen zu übernehmen. Manche haben Bereitwilligkeit gezeigt, andere nicht.

Aus objektiven Gründen oder wegen der Parteizugehörigkeit?

Beides spielt eine Rolle. Aber wir haben einige Zusagen bekommen, auch von Privatpersonen. Erste Priorität hat für uns die Unterbringung der Minderjährigen, denn sie obliegen als besonders Schutzbedürftige unserer besonderen Verantwortung. Hier haben wir zum Beispiel auch mit der Kirche und Kinderschutzbünden gesprochen. Heute können wir zumindest sagen, dass die meisten von ihnen bereits sicher untergebracht sind.

Wie stehen Sie zur EU-Migrationspolitik? Was halten Sie davon, dass ihr Ministerpräsident und Syriza-Genosse Alexis Tsipras auf dem Migrationsgipfel der EU im April die Aufstockung der Mittel für die Grenzagentur Frontex begrüßte?

Als Syriza hatten wir eine sehr schlechte Meinung von der Rolle von Frontex, was deren Präsenz in Griechenland und ihre Rolle bei der Migrationspolitik angeht. Seit Amtsübernahme zumindest wissen wir, dass die Aufgabe von Frontex die Beaufsichtigung der Arbeit der griechischen Küstenwache ist. Und die macht ihre Aufgabe sehr gut. Seit unserer Regierungsübernahme hat es bis auf eine Ausnahme keine Todesfälle mehr gegeben. Bei den drei Toten auf Rhodos am 20. April handelte es sich um einen Unfall. Flüchtlinge werden heute nicht mehr zurückgedrängt, ihre Leben sind an unseren Meeresgrenzen nicht mehr gefährdet. Die Aufgabe von Frontex besteht lediglich darin, die Rettungsaktionen der griechischen Küstenwache zu beobachten und ihre Berichte darüber an die EU zu schicken, sie greift nicht ein. Ich denke, dass Tsipras sich darauf bezogen hat.

Zu Europa: Nach den vor Italien Ertrunkenen ist Europa tatsächlich aktiv geworden, aber die auf den entsprechenden Gipfelkonferenzen entwickelten Lösungen sind sehr zaghaft. Man versucht, das Problem zu verschieben, vor allem aber bekämpft man die Auswirkungen und nicht die Ursachen. Sie könnten jetzt fragen, ob man Kriege, Armut, Gewalt und Klimaveränderungen überhaupt beseitigen kann. Ich denke schon, allerdings nur unter Voraussetzungen, die weder in Europa, noch sonst irgendwo erfüllt sind. Eine derartige Vision wird von einigen von uns, wird von Linken geteilt, aber sie ist nicht die der EU. Trotzdem aber wäre es möglich anzuerkennen, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der Migration ist. Aber auch davor scheut man zurück, da die jeweiligen Regierungschefs immer die politischen Kosten in ihren nach rechts abrutschenden Gesellschaften im Blick haben. Dabei ist der Rassismus in der EU lange vor dem Aufstieg der rechtsradikalen von den regierenden Parteien kultiviert worden. Die tragen also sowohl die Verantwortung für den institutionellen Rassismus als auch für den der rechtsradikalen Parteien.

Dennoch spricht man jetzt über eine Verteilung von Migranten innerhalb der EU und darüber, dass man verpflichtet ist, auch Flüchtlinge aus den Ländern aufzunehmen, in denen sie auf eine Einreise in die EU warten. Dies würde zumindest garantieren, dass sie nicht mehr ertrinken.

Andererseits sollen Flüchtlingsboote in Libyen bombardiert werden.

Dieser Plan ist äußerst gefährlich und bedroht den Frieden in der Mittelmeerregion, selbst wenn Libyen ein zerstörter Staat ist. Europa darf sich darauf nicht einlassen, auch wenn Schleuser sich am menschlichen Schmerz bereichern. Von daher hoffen wir darauf, dass der UN-Sicherheitsrat seine Zustimmung zu so etwas verweigert. Für Griechenland gibt es einen zusätzlichen Grund, sich dagegenzustemmen: Wenn die in Libyen wartenden Menschen an der Überfahrt nach Italien gehindert werden, weichen sie sicherlich über die Türkei nach Griechenland aus.

Zuletzt die unvermeidliche Frage: Was ist Ihre Meinung zu den laufenden Verhandlungen über eine Vereinbarung zwischen Griechenland und seinen Gläubigern?

Wir sollten bis zuletzt an unseren Prinzipien, unseren Werten und unserer Politik festhalten. Syriza sollte der EU Unterricht in Sachen Demokratie erteilen. Und darauf bestehen, dass das, was zum Wahlsieg von Syriza geführt hat, auch bei der Übereinkunft eingehalten wird, die die Partei eingehen wird.

Das Gespräch führte Heike Schrader in Athen

* Aus: junge Welt, Freitag, 15. Mai 2015


Mobilmachung gegen Flüchtlinge

Die Europäische Union will weiter militärisch gegen Flüchtlinge vorgehen. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sieht nach wie vor Chancen für ein UN-Mandat für den geplanten EU-Armeeinsatz gegen vermeintliche Schlepper im Mittelmeer. Nach seinem Eindruck gebe es für ihn kein »prinzipielles Veto« einer der fünf ständigen Mächte im UN-Sicherheitsrat, sagte Steinmeier am Donnerstag bei einem Treffen der NATO-Außenminister im türkischen Antalya. Es sei laut Steinmeier, »eher eine Frage der Formulierung«. Russland hatte bisher ein solches Vorgehen abgelehnt.

Die EU-Staats- und Regierungschefs hatten nach den jüngsten Flüchtlingskatastrophen auf einem Sondergipfel im April unter anderem beschlossen, Boote von Schleppern zu zerstören. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini legte inzwischen ein Konzept vor, das Militäreinsätze im Mittelmeer vorsieht, aber auch die Möglichkeit, Schiffe von Schleppern durch Einsätze an Land unbrauchbar zu machen (jW berichtete). Der Vorschlag für die Mission unter dem Namen »Euronavfor Med« wird am Montag beim Treffen der EU-Außen- und Verteidigungsminister beraten.

Neben Offiziellen der beiden libyschen Regierung hat jedoch auch Russland sich gegen die Zerstörung von Booten ausgesprochen. Das ständige Mitglied im Sicherheitsrat will dem Vernehmen nach keinen Einsätzen an Land zustimmen. Mogherinis Konzept sieht unter anderem die militärische Aufklärung und das Vorgehen in internationalen Gewässern und in einem weiteren Schritt in libyschen Territorialgewässern vor. Auch Einsätze an Land, um Schiffe zu zerstören, werden nicht ausgeschlossen.

Unterdessen geht in der EU der Streit über die Verteilung von Flüchtlingen weiter. Die EU-Kommission hat am Mittwoch eine »gerechtere« Verteilung von Asylsuchenden anhand einer festen Quote vorgeschlagen. Großbritannien reagierte mit dem Vorschlag, Bootsflüchtlinge zurückzuschicken.

Den Anteil an Migranten, den die Mitgliedstaaten künftig aufnehmen sollen, will die EU anhand von vier Kriterien festlegen: der Bevölkerungszahl des Landes, seiner Wirtschaftskraft, der Anzahl der proportional zur Einwohnerzahl bereits aufgenommenen Flüchtlinge sowie der Arbeitslosenquote. Nach dem von Brüssel vorgeschlagenen Schlüssel soll Deutschland 18,4 Prozent der Asylbewerber aufnehmen – gut 30 Prozent waren es im vergangenen Jahr.

Ab Mai soll das System getestet werden. Ende des Jahres soll ein Gesetzesvorschlag für ein dauerhaftes Quotensystem folgen. Dieses würde immer dann greifen, wenn in der EU auf einen Schlag sehr viele Migranten eintreffen.




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