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"Es geht um das Machbare"

SYRIZA-Vorsitzender Alexis Tsipras stellt Regierungsprogramm für eventuelle Machtübernahme vor

Von Anke Stefan, Athen *

Möglicherweise wird im Frühjahr in Griechenland neu gewählt. Alexis Tsipras von SYRIZA setzt mangels Koalitionspartner auf eine Alleinregierung seiner Partei.

Kostenlose Gesundheitsfürsorge für alle, Wiederaufstockung des von Regierung und Gläubigern auf 586 Euro gekürzten Mindestlohns auf 751 Euro, Wiedereinführung des Steuerfreibetrags von 12 000 Euro für Lohnabhängige und Selbstständige sowie die Rücknahme der Streichung des 13. Monatsgehalts – zumindest für die etwa 1,3 Millionen Bezieher einer Rente bis zu 700 Euro. Dies sind einige der Maßnahmen, die Alexis Tsipras, verbunden mit der Forderung nach sofortigen Neuwahlen, am Wochenende in Thessaloniki für den Fall einer Regierungsübernahme ankündigte. Anlässlich der dortigen Internationalen Messe stellen die griechischen Parteichefs hier jährlich ihr Programm für die nächsten zwölf Monate vor. Die Rede des Vorsitzenden der bei den Europawahlen im vergangenen Mai zur stärksten Partei des Landes aufgestiegenen griechischen Linkspartei SYRIZA bekommt dabei besondere Bedeutung zu. Denn möglicherweise wird bereits im Frühjahr 2015 ein neues Parlament gewählt. Und zwar dann, wenn es der über 153 Sitze im 300-köpfigen griechischen Parlament verfügenden Regierungskoalition aus Nea Dimokratia und PASOK nicht gelingt, bis zum März 180 Stimmen für die Wahl eines neuen Republikpräsidenten zusammenzubekommen.

Wer angesichts des recht radikalen SYRIZA-Wahlprogramms im Sommer 2012 von Tsipras den Aufruf zum Sturm auf den Winterpalast erwartetet hatte, wurde enttäuscht. Es gehe nicht darum, was die Partei gerne wolle, sondern darum, was machbar sei, erklärte Tsipras. Doch die neben den eingangs erwähnten weiteren Maßnahmen, wie zum Beispiel die Schaffung von 300 000 Stellen im öffentlichen Dienst und privater Wirtschaft, kostenlosem Strom und die Bezuschussung von Mieten für unter der Armutsgrenze lebende Familien, brächten Millionen von Menschen eine spürbare Verbesserung ihrer prekären Lebensverhältnisse. Langfristig soll durch die Umsetzung dieser Politik die Kaufkraft der Bevölkerung gestärkt und damit das durch Krise und Austerität abgewürgte Wachstum des Landes wieder angekurbelt werden.

Für die griechischen Schulden forderte Tsipras einen Schnitt, wie er 1953 von den Alliierten auch für Deutschland durchgeführt worden war. Die Rückzahlung des verbleibenden Betrags solle dem selben Beispiel folgend abhängig von der Steigerung der Wirtschaftsleistung Griechenlands erfolgen. Der Noch-Oppositionsführer gab sich überzeugt, dass die EU Griechenland auch auf diesem Weg unterstützen und nicht etwa den Ausschluss des Landes aus der EU und dem Euro-Raum beschließen würde.

Im Inland dagegen kann SYRIZA im Falle eines Wahlsieges nicht auf Koalitionspartner hoffen. Eine Zusammenarbeit mit Parteien, die den Gläubigermemoranden zugestimmt haben, wird von SYRIZA ausgeschlossen. Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) lehnt nach wie vor jede Zusammenarbeit mit der aus ihrer Sicht nur eine weitere Verwalterin von Kapitalinteressen repräsentierenden Linkspartei ab. Vor diesem Hintergrund zeigt sich SYRIZA zwar nach wie vor offen für die Zusammenarbeit mit eventuellen anderen fortschrittlichen Kräften im Parlament, setzt aber auf ein Wahlergebnis, das der Partei eine Alleinregierung ermöglichen würde.

Die von vielen mit Interesse erwartete Rede des griechischen Oppositionsführers wurde von einem kleinen Skandal begleitet. Die nur auf dem Papier unabhängige, von der griechischen Regierung erst im Mai dieses Jahres in Betrieb genommene öffentlich-rechtliche Sendeanstalt NERIT hatte zwar die Rede von Ministerpräsident Antonis Samaras und die Pressekonferenz von Vizepremier und Außenminister Evangelos Venizelos zum Auftakt der Messe übertragen. Jedoch eine Übertragung der führenden Oppositionspartei abgelehnt.

* Aus: neues deutschland, Dienstag 16. September 2014


Tsipras will regieren

Griechenland: Syriza-Vorsitzender stellt Programm für mögliche Neuwahlen vor

Von Heike Schrader, Athen **


Alexis Tsipras, Chef der griechischen Linkspartei Syriza, hat am Samstag abend im Parlament das Programm einer möglichen, von ihm geführten Regierung vorgestellt. Seine Partei hat in allen Umfragen die Regierungspartei von Ministerpräsident Antonis Samaras um mehrere Prozent überflügelt und auch bei den EU-Wahlen im Mai fast vier Prozent mehr als die Nea Dimokratia errungen. Da es der Regierung aus Nea Dimokratia und PASOK wahrscheinlich nicht gelingen wird, die notwendigen 180 Stimmen im Parlament für die im nächsten März anstehende Wahl des Staatspräsidenten zusammenzubekommen, sind Neuwahlen für das Parlament im nächsten Frühjahr sehr wahrscheinlich.

Tsipras gab sich betont realistisch. Nicht was seine Partei machen wolle, sondern das tatsächlich Machbare sei Gegenstand des Programms. Von der vor den knapp verlorenen Wahlen im Sommer 2012 angekündigten sofortigen einseitigen Aufkündigung aller Gläubigervereinbarungen und der Rücknahme aller Austeritätsmaßnahmen war nicht mehr die Rede. Trotzdem sieht das Programm der griechischen Linkspartei eine ganze Reihe von Maßnahmen vor, die die prekäre Lebenssitutation der Bevölkerungsmehrheit unmittelbar verbessern und langfristig das Land wieder auf den Wachstumspfad führen sollen. Die vielleicht wichtigste darunter ist die Wiederanhebung des per Gesetz auf 586 Euro gekürzten Mindestlohns auf die letzte, noch von den Tarifparteien ausgehandelte Höhe von 751 Euro. Darüber hinaus sollen das im öffentlichen Dienst und bei den Renten ebenfalls durch die Memoranden gestrichene Weihnachtsgeld zumindest für die etwa 1,25 Millionen Bezieher von Minirenten wieder eingeführt werden. Mit einem umfangreichen Sozialprogramm will Syriza unter anderem den kostenlose Zugang aller zur Gesundheitsfürsorge gewährleisten und in einem ersten Schritt die Miete für 25000 Wohnungen mit vier Euro pro Quadratmeter subventionieren. Den etwa 300000 unter der Armutsgrenze lebenden Familien versprach Tsipras die kostenlose Versorgung mit Strom. Derzeit hat etwa ein Drittel der griechischen Bevölkerung keine Sozialversicherung mehr, immer mehr Haushalten wird wegen unbezahlter Rechnungen der Strom abgestellt. Anstelle der von Regierung und Troika betriebenen Aufweichung des Kündigungsschutzes in der privaten Wirtschaft und Kürzung der Stellen im öffentlichen Dienst kündigte Tsipras die schrittweise Schaffung von 300000 neuen Arbeitsplätzen an. Die außerdem versprochene Rücknahme der von der Regierung Samaras vorgenommenen Erhöhung der Mineralölsteuer auf Heizöl um 460 Prozent und die damit verbundene Preissenkung auf etwa 90 Cent pro Liter käme zumindest für diesen Winter schon zu spät. Nicht nur deswegen forderte Tsipras denn auch zum wiederholten Male sofortige Neuwahlen.

Die Schulden will der auch in europäischen Spitzenkreisen als möglicher Nachfolger von Samaras gehandelte Syriza-Chef größtenteils ersatzlos streichen. Auch bei der Finanzierung seines auf sozialen Frieden und Wirtschaftswachstum durch Kaufkraftförderung angelegten Programms setzt die Linkspartei auf die Hilfe der EU. Er gehe nicht davon aus, daß Europa »sich ins eigene Bein schießt«, sagte Tsipras auf einer Pressekonferenz am Sonntag. Sein Programm sei realistisch, und es sei nicht Aufgabe der Partei, »Alternativen für den Fall der Sintflut« auszuarbeiten. Die Ausarbeitung einer solchen Alternative wird von der etwa ein Drittel der Mitglieder repräsentierenden »Linken Plattform« von Syriza eingefordert.

Das Programm biete keine Alternative zur »barbarischen Politik der Koalitionsregierung aus Nea Dimokratia und PASOK«, da es die »riesigen Verluste des Volkes« nicht kompensiere, kommentierte die Kommunistische Partei Griechenlands, KKE, die Rede von Tsipras. Vor allem aber müßte auch eine Syriza-Regierung Abkommen mit der EU schließen und einen kapitalistischen Wachstumspfad einschlagen, sich also »an den Gewinnen der Unternehmen und nicht den Bedürfnissen des Volkes orientieren«.

** Aus: junge Welt, Dienstag 16. September 2014


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