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Grexit oder Graccident

Absicht oder Unfall: Griechenlands Regierung operiert scheinbar irrational. Grund sind Zwänge aus Wahlmandat, eigenen Absichten und Brüssels Euro-Doktrin

Von Rainer Rupp *

Wie steht es um die Euro-Krise? »Im Moment steht alles auf der Kippe«, sagte der Spekulant und US-Multimilliardär George Soros Dienstag in einem TV-Interview bei Bloomberg. Die Wahrscheinlichkeit, dass Griechenland nicht länger in der Währungsunion bleibe, läge jetzt »bei 50 Prozent«. Die Gespräche zwischen Athen und der »Troika« (also den Kreditgebern EU-Kommission, Europäische Zentralbank, Internationaler Währungsfonds) könnten wegen unüberbrückbarer Gegensätze abbrechen, das Land wegen eines »Graccident« »den Bach runtergehen«.

In Graccident steckt das englische Wort »Unfall«. Während »Grexit« als Begriff für einen kontrollierten Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone geschaffen wurde, ist mit dem anderen Kunstwort gemeint, dass Griechenland quasi aus Versehen aus dem Euro katapultiert worden sei und keiner genau weiß, wie es dazu gekommen ist und wer die Verantwortung dafür trägt. Internationale Finanzmedien reden derzeit immer öfter von Graccident. Dabei werden zwischen den Zeilen die Sorgen des Finanzkapitals deutlich, dass die Regierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras zwar immer öfter gute Miene zum bösen Spiel der von Berlin dirigierten Troika macht, tatsächlich aber insgeheim auf einen »Unfall« hinarbeite.

Die Verhandlungen mit Athen liefen immer nach dem gleichen Schema ab, hieß es jüngst in einem Beitrag des US-Finanzportals zerohedge.com: Die Euro-Gruppe trifft sich, um Griechenland neue »Reformen« zu diktieren. In einer gemeinsamen Erklärung versprechen die Griechen mitzuarbeiten. Aber sobald sie wieder zu Hause seien, interpretierten sie die gemeinsame Erklärung auf ihre ganz eigene Art. Dann hagele es gegenseitige Vorwürfe. An deren Ende stehe ein neues Treffen zwischen Griechen und der Euro-Gruppe und die nächste Runde in diesem Kreislauf beginnt – das ist eine durchaus korrekte Beobachtung.

Kaum war Finanzminister Gianis Varoufakis vom jüngsten Treffen vor zwei Wochen nach Athen zurückgekehrt, erklärte er: Ja, man werde sich an die Brüsseler Vereinbarungen halten, sie aber dahingehend interpretieren, dass die Forderungen an Griechenland alle Maßnahmen ausschließen, welche die gegenwärtige Krise im Land noch verschärfen würden. Daher werde Athen eine Liste von ausschließlich wachstumsorientierten Maßnahmen ausarbeiten und beim nächsten Treffen präsentieren. Angesichts der immer näher rückenden Termine für die Rückzahlung von Zinsen und Anleihen an reiche Gläubiger in Nordeuropa wird deshalb der Tsipras-Regierung Verschleppungstaktik vorgeworfen.

Tatsächlich ergibt eine solche Vorgehensweise wenig Sinn, wenn Tsipras und Genossen den Staatsbankrott und den damit verbundenen Hinauswurf aus der Euro-Zone vermeiden wollen. Neue »Hilfsgelder« gibt es nur, wenn die verlangten »Reformen« auch »Wort für Wort« (so Berlin) umgesetzt werden. Bis Ende März sind 3,2 Milliarden Euro zur Rückzahlung von kurzfristigen Staatsanleihen nötig. Auf das ganze Jahr 2015 berechnet braucht Athen (je nach Quelle) zwischen 25 und 30 Milliarden Euro. Bei ihrem Amtsantritt aber hatte die von Syriza geführte Regierung versprochen, die Politik der Zahlung fälliger Schulden durch Aufnahme noch höherer Schulden zu beenden. Vermutet wird nun, dass man dieses Ziel klammheimlich weiter verfolgt.

Das große Problem der Linksregierung ist es, dass allen Umfragen zufolge eine solide Mehrheit der Griechen in der Euro-Zone verbleiben will. Zugleich verlangt eine noch größere Mehrheit, das Ende der Troika-Verarmungspolitik. Beides zugleich geht nicht.

Um das der Bevölkerung klarzumachen, bedürfte es jedoch einer jahrelangen Aufklärungsarbeit. Die Zeit hat Tsipras nicht. Für einen Grexit hat er kein demokratisches Mandat. Sollte seine Regierung den Ausstieg dennoch wagen, würde sie einen Staatsstreich und womöglich Bürgerkrieg riskieren. Die herrschende Klasse hat kein Interesse am Euro-Ausstieg, und ihre Vertreter halten seit Jahrzehnten Schlüsselpositionen in den Machtministerien und Ämtern besetzt. Daran haben einige Monate Linksregierung nichts geändert.

Um das Land aus den Fängen der Troika zu befreien, wäre daher ein Graccident die richtige Variante. Ein Unfall, nicht fahrlässig herbeigeführt von der Tsipras-Regierung. Die hat schließlich stets betont, im Euro bleiben zu wollen. Dummerweise hat die EU die Hilfe verweigert, und das nur, weil die Regierung ihren demokratischen Auftrag, die Austerität zu beenden, umgesetzt h

atte. Sollte dann die Regierung in einer »katastrophal« zugespitzten Lage ein Referendum abhalten, bei dem sich die Mehrheit der Griechen für die Zurückgewinnung der nationalen Souveränität entscheidet, wäre der Wiederaufbau des Landes außerhalb der Euro-Zone demokratisch legitimiert. Ach die herrschende Klasse hätte keine Angriffsfläche gegen diese Politik. Man darf gespannt sein.

* Aus: junge Welt, Samstag, 28. März 2015


Was weiter verdrängt wird, kommt immer wieder zurück

Keinen Cent an Griechenland? Petition und Offener Brief stemmen sich der Mehrheit der Gegner einer Wiedergutmachung für erlittenes NS-Unrecht entgegen

Von Tom Strohschneider **


Wer sich hinter dem Nutzernamen »Papa Eule« verbirgt, ist nicht bekannt. Was das Pseudonym zu der Online-Petition »Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts« zu sagen hat, dürfte allerdings in nicht wenigen Köpfen herumgeistern: »Keinen Cent an Griechenland!«, keilt »Papa Eule«, Jahrgang 1971, gegen die Forderung der Petenten nach umfangreichen Wiedergutmachungsleistungen durch Deutschland an Griechenland - die »großmäulige Athener Regierung« versuche »nach 70 Jahren die Nazi-Keule auszupacken, um uns Geld abzunötigen«. Wer das anders sehe, habe »ein behandlungsbedürftiges Trauma der Gutmenschen«.

Nun vertreten sicher nicht alle Gegner der griechischen Forderung nach Reparationen und Entschädigungen für erlittenes Nazi-Unrecht solche Positionen wie »Papa Eule«. Von einer breiten Unterstützung für Wiedergutmachung kann aber auch keine Rede sein. Schon vor einer Woche zeigte eine Umfrage, dass die Mehrheit der Bundesbürger gegen Entschädigungen für die im Zweiten Weltkrieg begangenen verheerenden Verbrechen der Nazibesatzer sind: Gegenüber den Demoskopen von Emnid lehnten 71 Prozent Reparationen ab - 20 Prozent sprachen sich dafür aus.

Ende der vergangenen Woche erbrachte eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen ein ganz ähnliches Ergebnis: 78 Prozent sagten hier Nein in der seit Wochen schon anhaltenden Debatte, in der die kompromisslose Absage der Bundesregierung offenbar ihren Niederschlag in den Köpfen gefunden hat. Zwar zeigen sich dabei auch Unterschiede zwischen den Anhängern der jeweiligen Parteien – die Front der Ablehnung ist aber übergreifend groß.

Lediglich bei den Wählern der Grünen sagen »nur« 50 Prozent Nein zu den hierzulande von Juristen und Oppositionspolitikern unterstützten Forderung nach Wiedergutmachung. 86 Prozent der Unionsanhänger, 74 Prozent der SPD-Wähler und auch 64 Prozent der Anhängerschaft der Linkspartei sprach sich in der Umfrage dagegen aus. Insgesamt nur 15 Prozent unterstützten die Forderung, die auch von der SYRIZA-geführten Regierung erhoben wird.

Es sind aber nicht nur die geistigen Ablagerungen der aktuellen Diskussion über die Krisenpolitik und das Kreditprogramm, die sich im mehrheitlichen Nein zur Wiedergutmachung für Griechenland bemerkbar machen. Ebenso wenig wird man davon ausgehen dürfen, dass der Widerstand in dieser Frage mehrheitlich auf überzeugenden juristischen Argumenten beruht - wo doch selbst die juristischen Argumente der Bundesregierung, welche alle Reparationsfragen für abgeschlossen betrachtet, unter Experten umstritten sind. Rolf Surmann hat in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift »konkret« dazu noch einige Anmerkungen beigetragen, die bisher nicht in der Debatte geläufig waren.

Es zeigt sich im kollektiven Nein zu Reparationen auch der Nachhall einer schon länger existierenden Abwehr von historischer Verantwortung. Für die Studie »Deutschland und Israel heute« waren im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung unlängst Daten aus mehreren Erhebungen ausgewertet worden - mit dem Ergebnis, dass viele Bundesbürger von Nazi-Verbrechen wie dem Holocaust heute nicht mehr viel wissen wollen. Man betrachtet die Vergangenheit gewissermaßen als »erledigt«. Eine große Mehrheit von 77 Prozent der Befragten stimmte etwa der Aussage zu, »man sollte die Geschichte ruhen lassen und sich gegenwärtigen oder zukünftigen Problemen widmen«.

Dieser Gedanke findet sich auf seine Weise auch in der Argumentation der Bundesregierung, mit der diese auch die Forderungen aus Athen zurückweist, wenigstens über die Frage der Rückzahlung des 1941 von den Nazis abgepressten Zwangskredits zu reden. Zum Verhältnis zwischen Deutschland und Griechenland erklärte die Bundesregierung immer wieder: »Im Vordergrund der Beziehungen stehen Zukunftsfragen.«

Das sehen die Unterstützer der Petition »Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts« anders. »Mit Schweigen, juristischen Tricks und Verzögerung hat sich Deutschland jahrzehntelang vor der Leistung notwendiger Reparationszahlungen und der Rückzahlung der Zwangsanleihe gedrückt«, heißt es da zur Begründung. Und auch wenn das Experten und Teile der Opposition auch so sehen, fand das Begehr der Petition bisher kaum Gehör - und noch weniger Unterstützter.

Inzwischen gibt es auch einen Offenen Brief an Angela Merkel, der unter anderem von den linken Politikwissenschaftlern Elmar Altvater, Wolf-Dieter Narr und Brigitte Mahnkopf sowie vom früheren Bundesrichter und Ex-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Neskovic unterzeichnet wurde und die Frage der Rückzahlung des Zwangskredits in den Mittelpunkt stellt. Die Kanzlerin solle darauf hinwirken, »dass die Bundesregierung ihre bisherige Haltung zur Frage der offenen Schulden gegenüber den Griechen aufgibt«, fordert der Brief, der unter anderem von dem Berliner Piraten-Politiker Martin Delius initiiert wurde.

Also Rückzahlung, Wiedergutmachung? Deutschland sei »als Schuldverursacher nicht nur aus juristischen, sondern auch aus moralischen und politischen Gründen dazu verpflichtet«, heißt es weiter. Aber nicht einmal diese moralische Dimension, die bei seinem Merkel-Besuch auch Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras über die materielle Frage des »Wieviel« gestellt hatte, findet bisher einen breiten Resonanzboden hierzulande. Doch wie heißt es in dem Offenen Brief an Merkel zu Recht? »Was weiter verdrängt wird, kommt immer wieder zurück.«

** Aus: neues deutschland, Samstag, 28. März 2015


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