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Der asymmetrische Sozialabbau

Griechische Haushalte mit niedrigen Einkommen leiden am stärksten unter der Austeritätspolitik

Von Kurt Stenger *

Der Austeritätskurs in Griechenland hat die Einkommen der privaten Haushalte drastisch einbrechen und die Armut ansteigen lassen. Dies geht aus einer am Donnerstag in Berlin veröffentlichten Studie der Athener Ökonomen Tassos Giannitsis und Stavros Zografakis im Auftrag des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung hervor.

Es handelt sich um die erste repräsentative Stichprobe dieser Art, dabei wurden die Einkommens- und Steuerdatensätze von rund 260 000 Privathaushalten für die Jahre 2008 bis 2012 untersucht. Laut der Studie sanken die nominalen Bruttoeinkommen der Privathaushalte in nur vier Jahren durchschnittlich um ein knappes Viertel, wobei Lohnkürzungen knapp die Hälfte dieses Rückgangs verursachten. Die Nettoeinkommen fielen wegen zahlreicher Steuerhöhungen um weitere fast neun Prozent.

Autor Giannitsis, früherer Sozialminister in der PASOK-Regierung von Kostas Simitis ab 1994, spricht von einer »radikalen Destabilisierung« der griechischen Gesellschaft. So habe sich das Antlitz der Armut gewandelt: Seien vor der Krise vor allem Ältere betroffen gewesen, trifft es nun junge Familien mit Kindern.

Ferner zeigt die Studie, dass die offiziellen Statistiken die Dramatik der Lage unterzeichnen, da sie nur Durchschnittsgrößen angeben. Giannitsis weist indes auf »höchst asymmetrische Entwicklungen« hin. So büßten zwar alle sozialen Schichten durch Kürzungen, Steuererhöhungen und Wirtschaftskrise beträchtlich an Einkommen ein. Besonders stark waren aber Haushalte mit niedrigem und mittlerem Einkommen betroffen: Die zehn Prozent der Haushalte mit den geringsten Einkommen verloren gegenüber 2008 rund 86 Prozent, während das Minus im obersten Dezil »nur« 17 Prozent betrug. Die Zahl der Haushalte ohne Einkommen hat sich auf 463 000 mehr als verdoppelt.

Zudem erlitten Beschäftigte in der Privatwirtschaft und bei öffentlichen Unternehmen aufgrund des gesenkten Mindestlohns, geschwächter Tarifvertragsstrukturen und des Stellenabbaus deutlich höhere Einkommensverluste als die Beschäftigten im Kernbereich des öffentlichen Dienstes. Dadurch stieg der schon in Vorkrisenzeiten enorm hohe Lohnvorsprung des öffentlichen Dienstes von rund 35 auf etwa 43 Prozent. Alle Regierungen, so die Autoren, hätten eine ineffiziente öffentliche Verwaltung, die in den Jahren vor der Krise kräftig aufgestockt worden sei, so weit wie möglich schonen wollen, was den Privatsektor umso schwerer belastete.

»Die Untersuchung liefert auf repräsentativer Datenbasis die Chronik eines angekündigten Desasters«, sagt Gustav A. Horn, der wissenschaftliche Direktor des IMK. »Hunderttausende sind in ihrer Existenzgrundlage bedroht, weil die von der Troika geforderte und von den bisherigen Regierungen sehr kurzsichtig und zum Teil interessengeleitet umgesetzte Sparpolitik kaum soziale Abfederung kannte.«

Der Austeritätskurs verfehlte auch das eigentliche Ziel der Troika, die griechische Wirtschaft durch eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit aus der Krise zu holen. Verglichen mit 2009 sei die Lohnsumme 2013 um 25 Milliarden Euro niedriger gewesen, die inländische Gesamtnachfrage sei sogar um 53 Milliarden gefallen. Dagegen hätten sich die Exporte um nur 3,8 Milliarden Euro erhöht - »eine auffällig schwache Entwicklung angesichts der auferlegten Reduzierungen bei den Arbeitskosten«, schreiben Giannitsis und Zografakis. »Volkswirtschaftlich«, kommentiert Horn, »hatten diese Opfer keinen Sinn, weil sie das Nachfragepotenzial derart reduziert haben, dass die griechische Wirtschaft noch lange brauchen wird, um wieder auf einen einigermaßen stabilen Entwicklungspfad zu kommen.«

Der IMK-Ökonom erinnert auch daran, dass die Troika die realwirtschaftliche Wirkung des Schrumpfungsprozesses massiv unterschätzt habe. Das liege auch daran, dass die nach wie vor gängigen volkswirtschaftlichen Theorien dazu verleitet hätten. Die EU müsse nun aber endlich aus diesen Fehlern lernen und einen Strategiewechsel einleiten.

Die Studie »Greece: Solidarity and Adjustment in Times of Crisis« findet sich im Internet unter: www.boeckler.de/ pdf/p_imk_study_38_2015.pdf

* Aus: neues deutschland, Freitag, 20. März 2015


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