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Generalstreik gegen Maulkorb

Griechenland: Zehntausende demonstrieren gegen Schließung von öffentlichem Rundfunk ERT *

Mit einem landesweiten Generalstreik haben in Griechenland zahlreiche Beschäftigte am Donnerstag gegen die Schließung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ERT protestiert. Züge und Busse in der Hauptstadt Athen standen still, staatliche Einrichtungen blieben geschlossen und Krankenhäuser hielten lediglich einen Notbetrieb aufrecht. Die bereits seit Mittwoch streikenden Journalisten der Privatsender verweigerten weiter die Arbeit. Zu dem 24stündigen Ausstand hatten die größten Gewerkschaften des Landes aufgerufen.

Der griechische Regierungschef Andonis Samaras hatte am Dienstag überraschend angeordnet, die Rundfunkanstalt mit ihren drei landesweit ausgestrahlten Fernsehprogrammen, sieben nationalen sowie 19 regionalen Radiostationen zu schließen. Auf Sendung blieb ERT trotzdem: Die Journalisten und Techniker besetzten das Rundfunkgebäude und arbeiteten weiter. Verbreitet wird ihr Programm seither von zahlreichen Internetportalen sowie über Antenne von »902«, dem Fernsehsender der Kommunistischen Partei. Dieser geriet dadurch selbst ins Visier der Regierung. Wenn der Kanal weiter das Programm der ERT-Kollegen ausstrahle, werde man auch »902« abschalten, berichtete der Sender über Drohungen aus dem Kabinett.

Unfreiwillige Opfer der Abschaltung waren am Mittwoch unter anderem die britische BBC und die Deutsche Welle geworden. Da ihre Verbreitung in Griechenland von ERT betreut worden war, brach auch die Übertragung dieser beiden Sender ab.

Vor der Senderzentrale im Norden Athens demonstrierten am Donnerstag Zehntausende. »Samaras muß entlassen werden, nicht die Beschäftigten von ERT«, hieß es auf einem Transparent. Kritik kam auch von Samaras’ Koalitionspartnern PASOK und ­DIMAR. Für Montag hat der Ministerpräsident nun zu einer Krisensitzung eingeladen. Ein Bruch der Regierung wird von griechischen Medien nicht mehr ausgeschlossen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 14. Juni 2013


»Das Dekret vom Dienstag war bereits das 19. seiner Art«

Das griechische Parlament hat nichts mehr zu sagen, Samaras regiert mit Notverordnungen. Ein Gespräch mit Errikos Finalis **

Errikos Finalis ist Mitglied der außenpolitischen Kommission des griechischen Linksbündnisses SYRIZA.

Am Dienstag hat Griechenlands Regierungschef Antonis Samaras den staatlichen Fernsehsender ERT per Dekret aufgelöst – wie bewerten Sie das?

Damit werden zugleich die Institutionen der bürgerlichen Demokratie aufgelöst – das Parlament hat nichts mehr zu sagen. Nach etwa drei Monaten, wenn so ein Dekret längst umgesetzt ist, haben die Abgeordneten lediglich die Möglichkeit, es zu bestätigen oder nachträglich abzulehnen. Allerdings ohne Debatte. Das Dekret vom Dienstag war bereits das 19. seiner Art. Im Parlament hätte Samaras ein solches Gesetz nie durchbekommen, denn auch die beiden kleinen Koali­tionsparteien PASOK und DINAR sind dagegen.

Das erinnert ein wenig an die Notverordnungen, mit denen in Deutschland gegen Ende der Weimarer Republik regiert wurde.

Das ist richtig. Ein anderes Beispiel für den Demokratieabbau sind die Zwangsverpflichtungen. Die Metro-Arbeiter in Athen und die Lehrer im ganzen Land sind inzwischen vom Staat zur Arbeit verpflichtet worden. Das heißt, sie dürfen nicht mehr streiken; wer es dennoch versucht, macht sich strafbar. Dieses Gesetz stammt aus den Bürgerkriegszeiten nach dem Zweiten Weltkrieg und ist seit vielen Jahrzehnten nicht mehr angewandt worden.

Oder die »Anstiftung zur Rebel­lion«. In Chalkidiki zum Beispiel, im Nordosten des Landes, wehren sich die Menschen gegen einen gigantischen Tagebau, in dem Gold gefördert werden soll. Jetzt wird gegen sie ein Gesetz angewandt, das Gefängnisstrafen für Personen vorsieht, die andere zu sogenannten illegalen Aktionen aufrufen. Das kann ein verbotener Streik sein oder auch eine Blockade. Und wenn der Beschuldigte im öffentlichen Dienst angestellt ist, kann er sofort entlassen werden, noch bevor das Gericht über eine Anklage entschieden hat.

Wie reagieren die Gewerkschaften auf diese Entwicklung?

Die Führung des Dachverbandes GSEE hat unter den arbeitenden Menschen den letzten Rest an Glaubwürdigkeit verloren. Die Funktionäre leben in ihrer eigenen Parallelwelt. Sie reden und agieren, als sei nichts geschehen. Die GSEE-Führung vertritt trotz ihres Kongresses, den sie vor kurzem abgehalten hat, nicht mehr die Mehrheit der arbeitenden Menschen. Zum einen, weil der Privatsektor ohnehin kaum organisiert ist. Zum anderen, weil der GSEE-Vorstand sich aus den Kämpfen heraushält. In vielen Fällen wagen seine Mitglieder es nicht einmal, zu den Streikkundgebungen zu kommen, weil sie fürchten, von den Kollegen ausgebuht zu werden.

Warum wird ein solcher Vorstand nicht abgewählt?

Ein Grund dafür ist, daß nur wenige Mitglieder zu Gewerkschaftsversammlungen kommen. Außerdem haben die Bürokraten so manchen Trick auf Lager. Für den GSEE-Kongreß z.B., der vor wenigen Monaten stattfand, waren die Delegierten schon vor drei Jahren gewählt worden – zu einer Zeit also, als die politische Lage noch ganz anders war.

Außerdem gibt es eine ganze Reihe von Pseudogewerkschaften, die kaum jemanden repräsentieren, keine Kämpfe führen, aber jede Menge Delegierte zu den Gewerkschaftstagen schicken. So funktioniert das seit vielen, vielen Jahren.

In Frankreich und auch in Deutschland sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Reihe neuer, unabhängiger Gewerkschaften entstanden. Gibt es ähnliches in Griechenland?

Nicht gerade als Massenbewegung. Es gibt viele neue Gewerkschaften, aber das Problem ist folgendes: Die Mehrheit der Menschen ist inzwischen arbeitslos oder in der Schattenökonomie beschäftigt. Sie sind also sehr schwer zu organisieren. Dadurch gibt es auch eine Reihe von Organisationen, die formell nicht als Gewerkschaft gelten, von der GSEE auch nicht anerkannt werden, aber faktisch wie Gewerkschaften arbeiten.

Interview: Wolfgang Pomrehn, Athen

** Aus: junge Welt, Freitag, 14. Juni 2013


Traumspiele

Abschaltung von Staatsrundfunk

Von Arnold Schölzel ***


Offenbar fast im Alleingang hat der griechische Ministerpräsident Antonis Samaras die Schließung der öffentlichen Fernseh- und Rundfunkanstalten des Landes verfügt. Seine Koalitionspartner zeigen sich jedenfalls überrascht, in Medien wird über das Zerbrechen der Athener Regierung spekuliert. Ob es dazu kommt, hängt auch davon ab, welche Kraft die Proteste entwickeln. Aber unabhängig vom Ausgang dessen, was Samaras mit seinem Dekret in Gang gesetzt hat, steht fest: Er hat ein Symbol geschaffen. Es besagt: Die in der EU herrschenden Machtverhältnisse sind mit Demokratie unvereinbar. Die Art und Weise, wie die Schließung verkündet und unter Polizeieinsatz durchgesetzt wurde, spricht Bände: Freiheit der Presse und der Meinungsäußerung sind keine besonders hoch angesiedelten Rechtsgüter. Wenn es nötig ist, werden sie aus höchst läppischen Gründen – Sparen, Sparen, Sparen – außer Kraft gesetzt. Der maßgeblich von der deutschen Regierung durchgesetzte Troika-Kurs ist ein Schritt in die Rebarbarisierung.

Die Entmündigung des griechischen und aller anderen nationalen Parlamente in den Euro-Staaten ist nach sechs Jahren Finanz- und nach mehr als drei Jahren Währungskrise schon Gewohnheit. Das Durchpeitschen der Bankenrettungspakete wurde von der veröffentlichten Meinung mit Begriffen wie „Staatsschuldenkrise“ begleitet, die Verordnung von Kürzungen, die Erhöhung von Verbrauchssteuern als unumgänglich dargestellt. Der offiziöse Journalismus hat sich als publizistischer Arm der gesteigerten Umverteilung von unten nach oben betätigt. Deren soziale Folgen sind katastrophal. Sie reichen bis hin zu Hunger in EU-Ländern und zur Verelendung ganzer Bevölkerungsteile. Dennoch: Wer mit der Schließung öffentlicher Publikationsmöglichkeiten den Geschurigelten die Hoffnung nimmt, die eigene Auffassung von den Verhältnissen verbreiten zu können, teilt ihnen mit, daß er außer Verachtung nichts für sie übrig hat. Die Arroganz der Herrschenden macht aus dem schleichenden Demokratieabbau den für alle sichtbaren.

Eine in diesem Sinn folgerichtige Reaktion auf die Vorgänge in Griechenland war am Donnerstag in der FAZ zu lesen. Man wünsche sich, hieß es dort, ein wenig von dem Mut, den Samaras mit der Schließung des Staatsfunks bewiesen habe, auch in Deutschland: »Hier haben die öffentlich-rechtlichen Sender finanzielle Dimensionen erreicht, die jeder Beschreibung spotten. Einfach abschalten und kleiner neu starten? Man darf ja mal träumen.«

Der Ruin des Journalismus durch dessen Verwandlung in eine Mischung aus Verlautbarungs- und Unterhaltungsgewerbe wird begleitet von der Aufforderung, Grundrechte mal eben abzuliefern – bei den Sparkommissaren, die offenbar zur wichtigsten Bastion dieser Gesellschaft werden. Die Auflösung zivilisatorischer Standards kommt voran.

*** Aus: junge Welt, Freitag, 14. Juni 2013 (Kommentar)


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