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Ein Akt des Widerstands

Die Leugnung des Holocaust muß moralisch verurteilt und juristisch verfolgt werden

Von Mikis Theodorakis *

Am 6. Juni 2013 hat ein Abgeordneter des griechischen Parlaments, Mitglied der neofaschistischen Partei »Goldene Morgendämmerung«, den Völkermord an den Juden geleugnet. Der Komponist Mikis Theodorakis reagierte darauf mit dem folgenden Text, der am 12. Juni 2013 zunächst in der griechischen Tageszeitung Ta Nea veröffentlicht worden ist. (jW)

Es ist absolut unerträglich, im griechischen Parlament diese furchtbaren »Meinungsäußerungen« mit anhören zu müssen. Die Tatsache, daß es einem Abgeordneten allen Ernstes in den Sinn kommen konnte, im Parlament den Holocaust der Nazis an den Juden in Frage zu stellen – dieses größte Verbrechen, das in der Geschichte der Menschheit jemals begangen wurde –, diskreditiert uns in den Augen der Weltöffentlichkeit und beschädigt das Ansehen unseres Landes. Das ist absolut verheerend für Griechenland und zudem verbrecherisch, wenn man in Betracht zieht, daß unser Volk eines derjenigen ist, denen die grausame Hitlerbarbarei die schwersten Opfer abverlangte.

Unbestreitbar bedeutet der Völkermord an den Juden – in seinen monströsen Ausmaßen – ein so entsetzliches und unbeschreibliches Verbrechen, angesichts dessen der Mensch sich schämen muß, Mensch zu sein, da die Schlächter von Auschwitz ja Menschen waren wie du und ich, allerdings in Gestalt einer Fehlentwicklung zu humanoiden Bestien. Wie wäre es sonst möglich gewesen, daß sie Kinder, Frauen, Greise – alles Unschuldige, deren einziges »Verbrechen« darin bestand, einem anderen Ethnos und einer anderen Religionsgemeinschaft anzugehören (einem Ethnos, der einen Einstein, einen Freud, einen Marx, einen Mahler und zahlreiche andere Wohltäter der Menschheit hervorgebracht hat) – in Waggons pferchen konnten, als wären es Tiere, sie endlos sich dehnende Tage und Nächte zu deportieren und schließlich diejenigen, die all das überstanden hatten, unbegreiflichen Martyrien und Todesarten auszusetzen. Ein Jahrtausend-Alptraum, bis heute der schlimmste, den die Menschheit kennengelernt hat, ein Alptraum, der dich bereits krank macht, wenn du nur daran denkst, während in deiner Vorstellung diese Opfer – vor allem die Kinder – zu Engeln werden und du schließlich nur noch den unweigerlichen Drang verspürst, vor ihnen niederzuknien, sie auf ewig um Vergebung zu bitten und ihnen wieder und wieder zu sagen: »Ich schäme mich, als Mensch geboren zu sein.« In Dachau und in Auschwitz wurden nicht nur die Juden ermordet. Der Mensch an sich wurde ermordet. Und seitdem stehen wir alle, die wir überlebt haben, in einer Schuld.

Das ist es, was mich so unerbittlich und entschieden gegen jeden vorgehen läßt, der es wagt, diesen Alptraum durch irgend etwas rechtfertigen zu wollen. Diese Verbrecher von damals haben meinen Glauben an den Menschen getötet. Und keine Macht der Welt kann mich dazu bringen, das zu vergeben.

Hinzu kommt, daß wir Griechen doppelten Grund haben, die Greueltaten der Nazis zu verdammen:

Erstens, weil sie unser Land total zerstört und Tausende Griechen getötet haben, und zweitens, weil unter den sechs Millionen Juden, die ermordet wurden, 70000 jüdische Landsleute aus Thessaloniki waren. Der Verlust dieser Menschen – für uns eine offene Wunde. Denn Juden lebten jahrhundertelang in Thessaloniki, und mit ihrem fortschrittlichen Geist bestimmten sie die Entwicklung dieser Stadt in jeglicher Hinsicht. Bis heute leidet Thessaloniki an dieser Wunde, und es ist eine unerträgliche Angelegenheit, wenn ein junger Mensch das kollektive Gedächtnis eines gemarterten und uns freundschaftlich verbundenen Volkes und insbesondere die Erinnerungen an diese griechischen jüdischen Opfer der Hitlerbarbarei – die einst Teil unseres Lebens waren – so grausam verhöhnt.

Die Leugnung der Martyrien dieses Volkes heißt, die Opfer herabzuwürdigen. In den Augen all jener, die ihre Freiheit und ihren Stolz den Opfern zu verdanken haben, die ihre Vorfahren brachten, bedeutet die Leugnung dieser Leidensgeschichte eine Verneinung moralischer Werte. Und nicht nur das – die Lobhudeleien im Hinblick auf die damaligen Mörder und Folterer müssen als verbrecherischer Landesverrat geahndet werden. Für all diejenigen, die das abscheuliche Gesicht der Gewalt kennengelernt haben, ist die entschiedene Verurteilung einer nicht zu tolerierenden Akzeptanz oder – was noch schlimmer ist – gar die Bewunderung all der verbrecherischen Akte gegen die Menschlichkeit eine moralische Pflicht. Sie ist außerdem ein elementarer Akt des Widerstands gegen eine Wiederholung ähnlicher Verbrechen.

Deren moralische Verurteilung und juristische Verfolgung wäre eine Selbstverständlichkeit für jede Gesellschaft, die die grundlegende menschliche Werteordnung und die Prinzipien der moralischen Gesetze respektiert. Dagegen offenbaren die Gleichgültigkeit (ein Verhalten, das leider all jenen eigen ist, die in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen unseres Landes herrschen) und das Fehlen gesellschaftlicher und moralischer Abwehrmechanismen inzwischen das Ausmaß des Niedergangs: Aus einer einst mündigen Bevölkerung wird ein Heer von Untertanen.

Abschließend wende ich mich an die Athener Akademie (als ihr Ehrenmitglied, zu dem ich kürzlich ernannt worden bin), die als unseres Landes höchste Instanz der Vernunft die maßgeblichen menschlichen und nationalen Werte verteidigen und vorangehen muß, wenn es darum geht, all jene Taten zu verurteilen, die einen Angriff auf die menschliche Würde und unser Geschichtsbewußtsein bedeuten. Ein Bewußtsein, auf das sich die höchsten Werte der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte gründen.

[Übersetzt von Ina und Asteris Koutoulas]

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 11. Juli 2013


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