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Generalstreik gegen EU

Proteste in Griechenland erreichen neuen Höhepunkt. Deutsche Bundeskanzlerin hält an Bankrottkurs fest

Von Arnold Schölzel *

Ein landesweiter Ausstand legte am Donnerstag das öffentliche Leben in Griechenland weitgehend lahm. In Athen protestierten nach Angaben von Agenturen rund 40000 Menschen gegen die von der »Troika« aus Internationalem Währungsfonds, EU-Kommission und Europäischer Zentralbank diktierten sozialen Einschnitte und Gehaltskürzungen. In einer Regierungserklärung vor dem Bundestag in Berlin verlangte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mehr Haushaltsdisziplin. Sie schlug vor, daß künftig ein EU-Währungskommissar das Recht haben solle, in nationale Haushalte einzugreifen.

In Griechenland hatten die beiden größten Gewerkschaften zum zweiten Mal innerhalb eines Monats zu einem 24stündigen Generalstreik aufgerufen. Die Straßen im Zentrum Athens waren am Morgen weitgehend verwaist. Schiffe blieben im Hafen, viele Busse und Bahnen in den Depots. Krankenhäuser arbeiteten mit einer Notbesetzung. Ämter, Ministerien, Schulen und die meisten Geschäfte blieben geschlossen, zahlreiche Flüge wurden gestrichen. Auf dem Platz vor dem Parlament spitzte sich die Situation zu, als eine kleine Gruppe aus der Menge der Demonstranten begann, Flaschen, Steine und Brandsätze auf die Polizisten zu werfen, die das Parlamentsgebäude abgeriegelt hatten. Sie setzten Tränengas ein. Ein 65 Jahre alter Mann starb nach Angaben der Organisatoren vor Beginn der Auseinandersetzungen an einem Herzinfarkt. Drei Menschen wurden verletzt, die Polizei nahm rund 50 Demonstranten fest. Der Generalsekretär der Gewerkschaft ADEDY, Ilias Iliopoulos, erklärte: »An diesem Gipfel-Tag in Brüssel wollen wir den Spitzen der EU sagen: ›Es ist genug. Wir können nicht mehr ertragen‹. Das ist Europas nicht würdig. Es ist eine Politik der Ausbeutung, der Profiteure und Kredithaie.«

Wirtschaftsexperten gehen davon aus, daß die griechische Wirtschaft auf Grund der bisherigen »Troika«-Diktate bis Ende kommenden Jahres gegenüber dem Niveau von 2008 um ein Viertel geschrumpft sein dürfte. Dennoch soll die Athener Regierung neue Kürzungen im Volumen von 11,5 Milliarden Euro umsetzen.

Merkel pochte in ihrer Rede zum EU-Gipfel wenige Stunden vor dessen Beginn darauf, die Antwort auf die Schuldenkrise müsse eine stärkere Machtkonzentration in der EU sein. Sie kündigte für Dezember weitreichende EU-Entscheidungen über eine engere Zusammenarbeit in der Finanz-, Fiskal- und Wirtschaftspolitik an. Die Kanzlerin nutzte die Gelegenheit, um Griechenland schlechte Noten für mangelhafte Erfüllung der Auflagen zu geben. Vieles gehe zu langsam voran, strukturelle »Reformen« liefen »oft nur im Schneckentempo« ab. Linksfraktionschef Gregor Gysi warf ihr in der Debatte vor, Athen werde zu derart rigiden Sparmaßnahmen gezwungen, daß die Wirtschaft weiter einbreche und die Rückzahlung der Kredite immer unwahrscheinlicher werde. So werde Geld »in den Sand gesetzt«. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück erklärte, er sei überzeugt, daß Griechenland erneut Unterstützung brauchen und – auch von Deutschland – bekommen werde.

Im Gegensatz zu Merkel sagte der französische Staatspräsident François Hollande, es solle beim jetzigen EU-Gipfel durchaus eine Entscheidung geben – über die Einrichtung einer Bankenaufsicht. Merkel und Hollande vereinbarten für Donnerstag nachmittag noch vor Beginn des Gipfels ein Treffen in Brüssel.

* Aus: junge Welt, Freitag, 19. Oktober 2012


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