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Athen: Parlament unter Belagerung

Proteste gegen Sparprogramm in Griechenland / Regierungschef offenbar zu Rücktritt bereit

Von Anke Stefan, Athen *

Der dritte Generalstreik des Jahres war in Griechenland der machtvollste: Für 24 Stunden wurde am Mittwoch (15. Juni) das Wirtschaftsleben des Landes weitgehend lahmgelegt. Schulen und Behörden blieben geschlossen, Schiffe in den Häfen, Züge in den Bahnhöfen. Insgesamt 40 000 Menschen sollen sich an den Protesten beteiligt haben; Regierungschef Papandreou ist offenbar zum Rücktritt bereit.

Vor allem direkt vor dem Parlament in Athen hatten sich Tausende versammelt. Dort demonstrieren bereits seit über vier Wochen allabendlich die »Empörten«. Diese hatten dazu aufgerufen, das Parlament zu umzingeln, um den Beginn der Diskussion am Mittwochnachmittag über die Haushaltsplanung für die Jahre 2012 bis 2015 zu verhindern. Die darin festgeschriebenen neuen Steuererhöhungen, die Beschneidung der öffentlichen Ausgaben sowie umfangreiche Privatisierungen von Staatsbetrieben sollen sowohl die Auszahlung der fünften Rate des Darlehens von 110 Milliarden Euro, das Griechenland bereits von Europäischer Union und internationalen Finanzinstitutionen bewilligt wurde, als auch die Bereitstellung eines neuen Kredits von EU und Internationalem Währungsfonds in Höhe von bis zu 100 Milliarden Euro ermöglichen.

Von den Teilnehmern des Generalstreiks hatte sich ein großer Teil direkt den Protesten vor dem Parlament angeschlossen. Andere Gewerkschaftsmitglieder versammelten sich zunächst auf drei Kundgebungen in der Athener Innenstadt, um von dort aus ebenfalls vor das Parlament zu ziehen. Am Nachmittag kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, als Demonstranten erfolglos versuchten, die Absperrung vor dem Eingang zu durchbrechen. Auf der anderen Seite des Platzes, vor dem Finanzministerium, lieferten sich unterdessen Autonome Straßenschlachten mit der Polizei. Brandsätze flogen auf das Regierungsgebäude, es gab Verletzte.

Die an Stärke gewinnenden Proteste haben die Regierung stark unter Druck gesetzt. Mehrere Parlamentarier der sozialdemokratischen PASOK haben angedroht, den neuen Sparmaßnahmen ihre Zustimmung im Parlament zu verweigern. Die Kommunistische Partei und die Linksallianz SYRIZA haben die Ablehnung jeglicher Zusammenarbeit mit der Regierung bei dem Sparprogramm erklärt. Griechenlands Ministerpräsident Giorgos Papandreou hat nach Informationen aus Regierungskreisen der Opposition seinen Rücktritt angeboten. Er schlug demnach die Bildung einer gemeinsamen Regierung der »Nationalen Einheit« vor.

Vor dem Hintergrund der Proteste wehrt sich die EU-Kommission gegen die Kritik, das Hilfsprogramm für Athen sei unsozial. Es lege großen Wert auf Reformen der Wirtschaft, sagte der Sprecher von EU-Wettbewerbskommissar Olli Rehn am Mittwoch (15. Juni) in Brüssel. Am Vorabend hatten die Finanzminister der Euro-Länder erneut ergebnislos über den Weg zur Rettung Griechenlands vor der Staatspleite debattiert.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Juni 2011


Empört euch!

Spanien, Griechenland und wir

Von André Scheer **


Als die »Empörten« in Spanien am vergangenen Wochenende ihre Protestcamps in Madrid, Barcelona und anderswo abbauten, dürfte mancher Politiker gehofft haben, daß der »Spuk« zu Ende wäre. Spätestens mit den Blockaden des katalanischen Parlaments am Dienstag und Mittwoch sowie ähnlichen Aktionen in anderen Städten ist diese Hoffnung zerstoben. Darauf deutet auch das zunehmend aggressivere Vorgehen der Polizei gegen die Protestierenden hin, nachdem die Demonstrationen in den vergangenen Wochen meist – von Ausnahmen wie in Barcelona abgesehen – toleriert wurden. Auch die Verhaftung linker Aktivisten wie im asturischen Candás dürfte dieselbe Stoßrichtung haben: Ihr habt genug gespielt, jetzt muß wieder Ruhe sein.

Zeitgleich legten Zehntausende Griechen zum dritten Mal in diesem Jahr mit einem Generalstreik ihr Land lahm, um gegen den von griechischer Regierung, EU und Internationalem Währungsfonds betriebenen Sozialkahlschlag zu protestieren. Auch in Athen wurde das Parlament belagert, wo die »Empörten« ohnehin seit Tagen mit einem Protestcamp ausharren. Deren symbolische Aktionen verbinden sich so mit gewerkschaftlichen Kämpfen und Streiks – und bringen die Regierung ins Wanken.

Einen »friedlichen Aufstand« fordert Stéphane Hessel, dessen im vergangenen Oktober erschienenes Manifest »Empört euch« zum Slogan der Bewegung in Europa geworden ist. Der 93 Jahre alte Kämpfer der französischen Résistance und Mitunterzeichner der Internationalen Charta der Menschenrechte fordert die Empörung gegen die »unerträglichen Dinge« dieser Welt, zum Beispiel die sich stetig vergrößernde Kluft zwischen den Ärmsten und den Reichsten.

Trotzdem ist es hierzulande noch erstaunlich ruhig. Blockaden werden zwar aus Stuttgart und aus Brokdorf gemeldet, hier und da wird gestreikt, aber die Regierung kann weiter vor sich hin werkeln, als wenn nichts wäre. Frau Merkel muß sich nicht mit einem Hubschrauber in den Bundestag bringen lassen, weil auf den Straßen kein Durchkommen mehr wäre. Und die Partei, die von ihrem eigenen Selbstverständnis und ihrer eigenen Entstehungsgeschichte her antreibende Kraft der Proteste sein müßte, beschäftigt sich lieber mit herbeihalluziniertem Antisemitismus in den eigenen Reihen.

Als in Spanien am vergangenen Sonntag (12. Juni) Tausende in Valencia vor dem Parlament während dessen konstituierender Sitzung demonstrierten und die Polizei auf sie einprügelte, verließen die frisch gewählten Abgeordneten der Vereinigten Linken den Plenarsaal, kletterten über die Absperrgitter und reihten sich in die Protestkundgebung ein. Wann haben wir so etwas hierzulande zuletzt gesehen?

** Aus: junge Welt, 16. Juni 2011 (Kommentar)


Griechenland vor dem Ausverkauf

Häfen, Aktienpakete, Wasserversorgung, Flughäfen – alles soll verscherbelt werden ***

Der Privatisierungsplan der griechischen Regierung weist allein für dieses Jahr 23 Firmen auf, die verkauft werden sollen. Er umfaßt vor allem Infrastrukturfirmen. Punkt eins auf der Liste, die mit der Troika aus Internationalem Währungsfonds, EU-Kommission und Europäischer Zentralbank besprochen wurde, ist bereits abgehakt: Die Deutsche Telekom übernahm Anfang Juni für rund 400 Millionen Euro weitere zehn Prozent Anteile an der griechischen Telefongesellschaft OTE. Der Telekom-Anteil stieg damit auf 40 Prozent plus eine Stimme – der griechische Staat hält noch zehn Prozent plus eine Stimme. Die Deutsche Telekom hat auch die Unternehmensführung bei OTE. Für sie war vor allem auch das Mobilfunkgeschäft von OTE in Rumänien, Bulgarien und Albanien interessant. OTE hält auch 20 Prozent an Telecom Serbia.

Im dritten Quartal des Jahres sollen mindestens 40 Prozent der Wasserbetriebe von Thessaloniki verkauft werden. Außerdem stehen Konzessionen am Internationalen Flughafen von Athen auf dem Zettel. Vorgesehen ist auch, 23,3 Prozent des Hafens von Thessaloniki zu versilbern und 23,1 Prozent des Hafens von Piräus. Die staatliche Lotterie soll zu 100 Prozent verkauft werden.

Angeboten werden auch der Rüstungshersteller Hellenic Defense Systems (EAS) zu 99,8 Prozent und die Hellenic Postbank zu 34 Prozent. Anteile der Gasversorger DEPA (zu 55 Prozent) und DESFA (zu 31 Prozent) sind ebenfalls zu haben. Die griechische Gesellschaft für Pferderennen wird zu 100 Prozent feilgeboten, obendrein 42 Prozent des Casinos auf dem Berg Parnis, das einen Blick auf Athen bietet. Der Eisenbahnbetreiber TRAINOSE soll zu 100 Prozent weggehen. Auch plant die Regierung, vier Airbusse zu verkaufen. Ein erstes Immobilienpaket soll noch bis zum Dezember abgestoßen werden.

Im kommenden Jahr geht es ähnlich weiter: Mindestens 40 Prozent der Post werden angeboten, ein weiteres Paket aus Häfen sowie die Athener Wasserbetriebe. Auch die griechische Agrarbank und die staatliche Ölgesellschaft sowie regionale Flughäfen und griechische Autobahnen sind fällig. Selbst ein erstes Paket griechischer Goldminen wird verkauft. 2013 stehen Offshore-Gasspeicher, weitere regionale Flughäfen und Häfen, Immobilien und erneut Anteile der Athener Wasserbetriebe an.

Für 2014 und 2015 stehen Immobilien, Grundstücke und Autobahnen auf dem Programm. Einzelne Inseln, wie sie der FDP-Politiker Frank Schäffler und der CDU-Politiker Josef Schlarmann im vergangenen Jahr verlangten, sind bisher allerdings von der Regierung nicht zum Verkauf vorgesehen. (jW)

*** Aus: junge Welt, 16. Juni 2011


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