Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Athener Schicksale

Viele Menschen in Griechenland bangen um ihre Existenz

Von Anke Stefan, Athen *

Die Staatspleite Griechenlands ist noch immer nicht abgewendet. Doch nicht dieser Umstand lässt die Athener zittern. Sie haben mit Lohnkürzungen, Entlassungen und höheren Steuern zu kämpfen. Angehörige der einstigen Mittelschicht bangen wegen der verordneten Sparmaßnahmen um ihr tägliches Auskommen.

Über 20 Prozent Arbeitslose, fast 30 Prozent, die ein Leben an der Armutsgrenze fristen, eine Bevölkerungsmehrheit, die nicht mehr im Stande ist, unvorhergesehene Ausgaben, Sondersteuern oder auch nur die laufenden Raten des Kreditvertrags zu bewältigen. Hinter solchen Zahlen aus Griechenland stecken Menschen, die mit den Auswirkungen der über sie verhängten Einschnitte fertig werden müssen. Wenn sie aus ihrem Leben berichten, wollen sie aber kein Mitleid erregen. ›Wenn ihr auf unserer Seite steht‹, lautet ihre Botschaft, ›dann arbeitet bei euch daran, dass diese Kürzungspolitik gestoppt wird, bevor auch ihr deren Folgen zu spüren bekommt.‹

Georgia Hasapi, 33 Jahre alt, arbeitet seit zehn Jahren in der Zentrale der noch staatlich kontrollierten Agrarbank in Athen. Ihr neun Jahre älterer Lebensgefährte Thanassis Kourkoulas ist ebenso lange als Gymnasiallehrer für Informatik tätig. Wir sitzen in der »guten Stube« ihres Hauses, einem Raum, der Küche und Wohnzimmer zugleich ist. Darin fehlen die für die ältere Generation in Griechenland typischen schweren Möbel aus dunklem Holz. Stattdessen dominieren helle Farben und moderne Kunstdrucke.

Die eigene Wohnung ist schon vermietet

Doppelverdiener ohne Kinder, da sollte es doch keine Probleme geben, könnte man meinen. Doch weit gefehlt. Statt 1500 Euro bleiben Georgia seit Inkrafttreten der ersten Sparmaßnahmen im Januar 2011 noch 1100 Euro netto im Monat. Das Gehalt von Thanassis ist von 1200 auf 900 Euro netto gesunken. Nach Abzug der Raten für den Hausrenovierungskredit und der rückwirkenden Sondersteuern bleiben noch 600 Euro. Weil das zum Leben nicht reicht, ist Thanassis bereits drei Raten im Rückstand. Da hilft es auch nicht, dass beide zusammen in einem haus wohnen, das Thanassis geerbt hat, und Georgia ihre kleine Altbauwohnung vermietet. »Die Miete beträgt weniger als die 400 Euro monatliche Ratenzahlung für den Wohnungskredit, und drei Mieten gehen allein für die diversen Immobiliensteuern drauf«, erläutert Georgia mit lebhaften Gesten. »Ich müsste noch acht Jahre lang abzahlen, aber das schaffe ich nicht.« Wenn es ihr nicht gelingt, die Wohnung auf dem zusammmengebrochenen Immobilienmarkt zu verkaufen, wird die Bank sie ihr womöglich schon bald wegnehmen.

Georgia und Thanassis sind Mitglieder der trotzkistischen Organisation DEA. Sie engagieren sich in ihrer Stadtteilversammlung, wie sie von Griechenlands »Empörten« im Sommer 2011 vielerorts gebildet wurden, und in ihren jeweiligen Gewerkschaften. »Mit dem neuen Memorandum und der darin vorgesehenen Abschaffung der Branchentarifverträge wird eine der größten Errungenschaften meiner Gewerkschaft zerstört«, klagt Georgia. Dank einem Arbeitsplatz bei der Bank konnten insbesondere Frauen Familie und Beruf bisher gut miteinander vereinbaren. »Der bessere Mutterschutz, die Zuzahlung für den Krippenplatz und Möglichkeiten einer Frührente für Mütter minderjähriger Kinder - all das wird unter dem Vorwand der Krise beseitigt.«

Das Gymnasium von Thanassis liegt in einer sogenannten sozial schwachen Gegend. In seiner Schule sind bereits mehrfach Kinder im Unterricht vor Hunger ohnmächtig geworden. »Anfangs hat die Bildungsministerin Berichte darüber als ›populistische Propaganda‹ abgetan, jetzt will Anna Diamantopoulou Schulspeisungen einrichten«, weiß Thanassis. »Zumindest bei uns ist es aber bei der Ankündigung geblieben.«

Auch Manolis Katatanas und Sofia Panourgou bangen zunehmend um ihr Auskommen. Sie betreiben einen Kiosk im Nordwesten Athens. Vor zwölf Jahren hat Manolis dieses in keiner Nachbarschaft fehlende Kleinstunternehmen gekauft. An solchen typischen, nur wenig mehr als einen Quadratmeter großen Häuschen bekommt der Grieche bis tief in die Nacht alles, was man zum Leben unbedingt braucht. Auch Manolis führt neben Zeitungen, Getränken, Zigaretten und Schokolade zum Beispiel Instantkaffee, Taschentücher und Kopfschmerztabletten in seinem Sortiment. »In drei Jahren hatte ich den Kiosk abbezahlt, und leben konnten Sofia und ich davon damals auch«, sagt der 42-jährige Familienvater mit einem ihm trotz Krise und Problemen gebliebenen herzhaften Lachen.

Schokoriegel bleiben im Regal liegen

Einbrüche bei den Einnahmen habe es schon vor der Krise gegeben, inzwischen seien sie jedoch untragbar geworden. »Ein Kiosk lebt vom Zigarettenverkauf«, erläutert Manolis. »Früher verdienten wir 9,5 Prozent vom Verkaufspreis, das waren 15 bis 20 Cent pro Päckchen.« Dann begannen die Hersteller von Billigzigaretten, ihre Ware ohne jeden Anteil für die Verkäufer an die Kioske zu bringen. Manolis, seit seiner Jugend überzeugter, doch nie in einer Partei organisierter Linker, gehörte zu denen, die sich dagegen wehrten. Aber zu viele akzeptierten die Aufnahme ins Sortiment, um nicht Kunden zu verlieren. »Natürlich haben daraufhin andere Firmen auch ihre Prozente gesenkt.« Trotz durch Steuererhöhungen drastisch gestiegener Preise verdient Manolis heute nur noch 7 bis 9 Cent pro Päckchen. Auch die gesunkene Kaufkraft der Bevölkerung schlägt sich aufs Geschäft nieder. »Früher haben die Leute zusammen mit den Zigaretten auch den einen oder anderen Schokoriegel gekauft. Heute gehen die kaum noch weg«, sagt er.

Klassenunterschiede werden wieder sichtbar

Dazu kommt, dass der Beruf des Kioskbetreibers immer gefährlicher wird. Mehrfach wurden Manolis und Sofia in den vergangenen Jahren Opfer von Einbruch und Raubüberfall. Einmal wurde Manolis von den Tätern zusammengeschlagen, ein anderes Mal hielt der Räuber der hochschwangeren Sofia die Pistole an den Bauch. »Jedes Mal waren Einnahmen und Zigaretten weg. Aber wir können uns nicht einmal die von den Versicherungen verlangten Sicherheitsmaßnahmen leisten, geschweige denn, deren Prämien bezahlen«, meint Manolis. Allein für ihn kostet die Sozialversicherung 365 Euro im Monat, die Zusatzversicherung für Sofia können sie nicht mehr bezahlen.

Neben dem von morgens bis in die Nacht hinein geöffneten Kiosk bleibt Manolis kaum Zeit, sich am Widerstand gegen die Sparpolitik zu beteiligen. Das macht Sofia, die schon als Jugendliche Mitglied in einer kommunistischen Schülerorganisation war. »In den 90ern sind die sozialen Auseinandersetzungen merklich zurückgegangen, die mit dem steigenden Wohlstand verbundene allgemeine Konsumwelle hat die Klassenunterschiede verwischt«, berichtet die wesentlich jünger wirkende 45-Jährige, die sich in jenen Jahren auch mehr der Kunst als der Politik widmete. Bei ihrem fast strengen Blick und den sorgfältig gewählten Worten fällt es schwer sich vorzustellen, dass die so analytisch argumentierende Frau damals gemalt und Yogakurse gegeben hat. »Jetzt aber, wo alles zusammenbricht, kommen auch die Klassen wieder zum Vorschein.«

Heute geht Sofia wieder auf Demonstrationen, ohne in einer der vielen linken Organisationen Mitglied zu sein. »Die neuen Stadtteilversammlungen machen Geschichte und wir sind es, die sie schreiben«, glaubt Sofia. »Wer nur konsumiert, an dem geht die Geschichte einfach vorbei.«

Kürzungen betreffen ebenso die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, etwa durch die Zusammenlegung von Behörden. Jennifer Krumbolz, Halbgriechin mit deutschem Vater, hatte sechs Jahre für den griechischen Staat in der Bauaufsicht des Gesundheitsministeriums gearbeitet. Nun wird ihre Behörde mit den entsprechenden Ämtern beim Bildungs- und Justizministerium zusammengelegt. Von über 600 Stellen bleiben vielleicht 180 übrig.

Die Heizung läuft nur wenige Stunden am Tag

Wir sitzen am Holztisch in der kleinen Küche der gemieteten Altbauwohnung. Den Kühlschrank zieren zahlreiche Fotografien von Freunden und Verwandten. Während die alleinerziehende Mutter ihre Situation erläutert, bereitet sie einen Obstsalat für die im Wohnzimmer auf dem Sofa in eine Decke gewickelte erkältete Tochter zu. Die Heizung wird von der Hausverwaltung gesteuert und läuft trotz nasskalten Winterwetters nur wenige Stunden am Tag.

Wie viele ihrer Kollegen war Jennifer mit immer wieder verlängerten Zeitverträgen beschäftigt worden. Zusammen mit anderen klagte sie bei Vertragsende im letzten August und bekam Aufschub bis Jahresende. Danach war Schluss. Bereits vorher war ihr das Gehalt von anfänglich 2815 auf zuletzt 1986 Euro brutto zusammengestrichen worden.

»Ab und zu kriege ich einen kleinen Auftrag in meinem eigentlichen Beruf als Architektin, aber trotz guter Kontakte finde ich keine neue Stelle. Der Markt ist tot«, meint die dunkelhaarige 49-Jährige, der man die derzeitige Anspannung und Erschöpfung ansieht. Nun versucht sie, mit Deutschunterricht über die Runden zu kommen. Bei mehr als 1800 Euro Fixkosten, unter anderem für den Schulbesuch der Tochter auf der deutschen Schule von Athen, reicht das Einkommen hinten und vorne nicht. Neben dem Schulgeld ist sie bereits die erste Miete schuldig.

»Im Büro haben wir ständig über die Maßnahmen diskutiert, waren gemeinsam bei den Streikdemos«, erzählt Jennifer, die immer viel Wert auf die Pflege sozialer Kontakte gelegt hat. Diesen Zusammenhalt vermisst sie nun. Trotz Arbeitslosigkeit hat Jennifer viel weniger Zeit und Energie, sich weiter zu engagieren. »Gerade angesichts der Brutalität der Polizei fällt es mir schwer, so isoliert wie ich jetzt durch den Verlust dieser Bezugsgruppe bin, zu den Demonstrationen zu gehen.« Trotz permanenter Erschöpfung und Angst vor Tränengas schafft sie es aber dennoch, oft nicht nur sich selbst, sondern auch einige ihrer zahlreichen Freunde und Bekannten zu überzeugen, etwa wenn sie sie fragt: »Wenn nicht wir, wer sonst? Wenn nicht jetzt, wann dann?«

* Aus: neues deutschland, 29. Februar 2012


Ratingagentur stuft Athen erneut ab

S&P: Schuldenschnitt ist teilweiser Zahlungsausfall **

Die Ratingagentur Standard & Poor's wertet den geplanten Schuldenschnitt für Griechenland als teilweisen Zahlungsausfall. Das macht die Rettungsbemühungen noch schwerer.

Neuer Tiefschlag für Griechenland: Die Ratingagentur Standard & Poor's (S&P) reagiert auf den ausgehandelten Schuldenschnitt mit einer erneuten Herabstufung der Kreditwürdigkeit des pleitebedrohten Eurolandes. Sie senkte am späten Montag die schon schlechte Note »CC« auf das Niveau eines teilweisen Zahlungsausfalls.

Die griechische Regierung bemühte sich um Schadensbegrenzung: Die Banken des Landes seien nicht gefährdet. Die Zentralbank und der Euro-Rettungsfonds hätten vorgesorgt. Auch Eurogruppen-Chef Jean-Claude Juncker demonstrierte Gelassenheit: Der Schritt sei erwartet worden.

Ein Zahlungsausfall ist problematisch, weil damit Kreditausfallversicherungen fällig werden könnten. Diese Credit Default Swaps (CDS) waren einer der Gründe, warum die Finanzkrise von 2008 so dramatische Ausmaße angenommen hatte. Außerdem beschloss die Europäische Zentralbank jetzt, griechische Anleihen vorübergehend nicht mehr als Sicherheiten für Kredite zu akzeptieren. Das dürfte vor allem griechische Banken treffen, die besonders viele dieser Bonds halten.

Besonders kritisch sehen die Ratingagenturen, dass Griechenland Anleger notfalls per Gesetz zwingen will. Ähnlich hatte sich zuvor auch Fitch geäußert. S&P stufte die in den Schuldenschnitt einbezogenen Staatsanleihen sogar auf »D« ab, was Zahlungsausfall bedeutet, und setzte den Ausblick für den Euro-Rettungsfonds EFSF auf »negativ«.

Die Abstrafung Athens ließ die Finanzmärkte im Gegensatz zu früheren Bonitätsabwertungen kalt. Der Euro kletterte sogar auf über 1,34 US-Dollar.

Wenn genügend Anleihebesitzer ihre Wertpapiere umtauschen, könne sich die Kreditsituation für Griechenland schnell wieder entspannen, erklärte S&P. Dann könnte der »teilweise Zahlungsausfall« als abgewendet angesehen werden und die Ratingnote auf ein »CCC« steigen. Allerdings war in der Bankenwelt zuletzt angezweifelt worden, ob ausreichend Gläubiger dem Schuldenschnitt zustimmen.

** Aus: neues deutschland, 29. Februar 2012


Herabstufung der Herabstufer

Von Kurt Stenger ***

Bonitätsurteile von Ratingagenturen haben einiges von ihrem Schrecken verloren. Stürzten noch vor wenigen Monaten Herabstufungen Griechenlands durch Standard & Poor's (S&P), Moody's & Co. die Akteure an den Finanzmärkten und die Politik in helle Aufregung, so ist dies mittlerweile kaum noch der (Gegen-)Rede wert. Das liegt nicht nur daran, dass Investoren wie Politiker ohnehin das Euro-Krisenland Nummer 1 auf Jahre hin aufgegeben haben. Auch hat es sich herumgesprochen, dass Ratingagenturen keine Kristallkugel besitzen und nur nachträglich das Bekannte mitteilen. Und die Europäische Zentralbank hat mit dem Fluten der Märkte, das heute fortgesetzt wird, das wesentlich gewichtigere Argument: Geld! So kommt es zu der paradoxen Situation, dass die Bonitätsbewerter Länder wie Italien und Spanien herabstufen, die Zinsen der Staatsanleihen jedoch nicht steigen, sondern sinken.

Ganz pillepalle ist das Agieren vor allem der besonders Gestrengen von S&P, die selbst die USA schon herabgestuft haben, freilich immer noch nicht. Mit ihrem Stempel des »teilweisen Zahlungsausfalls« Athens könnte die Ratingagentur zur Auslösung der sogenannten Kreditausfallversicherungen mit beitragen. Dann könnte es noch mal knüppeldick kommen - für Banken, die diese Papiere ausgegeben haben, wobei das Ausmaß völlig unbekannt ist. Eine weitere Herabstufung der Bedeutung der großen Ratingagenturen bleibt aktuell.

*** Aus: neues deutschland, 29. Februar 2012 (Kommentar)


Zurück zur Griechenland-Seite

Zurück zur Homepage