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Schuldenschnitt mit Konjunktiven

Die Beteiligung der griechischen Gläubiger bleibt vorerst offen

Von Kurt Stenger *

Die Euro-Finanzminister haben in einer Marathonsitzung in der Nacht zu Dienstag (21. Feb.) das zweite Rettungspaket für Griechenland beschlossen. Es sieht neue Kredite, einen Schuldenschnitt und verschärfte Kontrollen der harten Sparmaßnahmen durch die Geldgeber-Troika vor. Das Verschuldungsproblem wird nicht gelöst, und der massive Widerstand der Bevölkerung wird anhalten.

Wieder einmal traten wichtige EU-Politiker in Brüssel nach durchverhandelter Nacht müde vor die Kamera, um sich auf die Schultern zu klopfen: »Ich glaube, dass wir das insgesamt gut zustande gebracht haben«, meinte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Und der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, sprach gar von einer »sehr guten Einigung«. Zuvor hatten sich die Verhandlungen mit den Bankenvertretern über viele Stunden hingezogen, während die griechische Regierung alle Vorgaben trotz massiven Widerstands in der Bevölkerung längst erfüllt hatte.

Allerdings weiß Europas Finanzpolitikelite sehr wohl, dass der beschlossene Mix aus neuen Krediten und freiwilligem Schuldenverzicht, mit dem Griechenlands Staatsschulden bis zum Jahr 2020 von derzeit rund 170 auf 120,5 Prozent der Wirtschaftsleistung reduziert werden sollen, mit Unwägbarkeiten behaftet ist. Vor allem in Sachen Schuldenschnitt prägen Konjunktive das Bild. So lässt sich noch nicht sagen, wie viele der privaten Gläubiger - also Banken, Versicherungen, Fonds, Pensionskassen und Einzelanleger - am Schuldenschnitt teilnehmen, der mit 53,5 Prozent oder 107 Milliarden Euro nun etwas höher ausfallen soll als ursprünglich geplant. Eventuell noch heute will die griechische Regierung den Gläubigern das Angebot unterbreiten, ihre alten Staatsanleihen in neue Papiere mit entsprechend niedrigerem Nennwert, niedrigeren Zinsen und 30 Jahren Laufzeit umzutauschen. Der Köder besteht in Garantien der EU-Staaten im Umfang von 30 Milliarden Euro für diese neuen Anleihen. Allgemein erwartet wird auch deshalb, dass sich die meisten privaten Gläubiger beteiligen werden, da die Alternative ein Staatsbankrott mit einer längeren Hängepartie und schwer kalkulierbaren Folgen wäre.

Die Zeit wird knapp. Bis 9. März sollen die einzelnen Gläubiger erklären, ob sie das Umtauschangebot annehmen. Drei Tage dauert dann der Umtausch. Am 20. März muss Griechenland 14,5 Milliarden Euro Schulden tilgen - das Land hat das Geld dafür nicht.

Selbst wenn alle privaten Gläubiger mitmachen, würde sich die gesamte griechische Staatsschuld aber nur um ein gutes Viertel reduzieren. Beinahe die Hälfte ist nämlich ausgenommen - sie besteht aus Krediten der EU-Partner und des Internationalen Währungsfonds im Rahmen des ersten Hilfspaketes sowie aus Staatsanleihen, die die EZB auf dem sogenannten Sekundärmarkt gekauft hat. Die nationalen Notenbanken des Euro-Systems hatten Ende vergangener Woche ihre Papiere gegen identische Anleihen Griechenlands mit einer neuen Kennnummer umgetauscht. Dadurch sind sie vom jetzigen Schuldenschnittverfahren ausgenommen.

Dies sorgte nicht nur bei den Privatbankenvertretern für Unmut. Auch unter europäischen Staatenvertretern gab es Stimmen dafür, dass die öffentlichen Gläubiger ebenfalls auf Teile ihrer Forderungen verzichten sollten. Tatsächlich besteht dafür erheblicher Spielraum: Anders als es in der hiesigen Öffentlichkeit gerne dargestellt wird, ist Griechenland für die öffentlichen Gläubiger nicht etwa ein Milliardengrab, sondern bislang eine wahre Goldgrube. Man kassiert Jahr für Jahr Zinsen in Höhe von 5,1 Prozent für die bisherigen Kredite an Athen, und die EZB darf sich am Fälligkeitstermin der von ihr gehaltenen Anleihen auf einen gewaltigen Zusatzgewinn freuen: Im Schnitt hat die Zentralbank die an den Märkten stark im Kurs gefallenen Papiere für rund 70 Prozent ihres Nennwerts gekauft - Athen muss aber 100 Prozent zurückzahlen.

In den informellen Gremien, wo derzeit Politik in Euroland gemacht wird, wurde in den letzten Tagen über eine Beteiligung der öffentlichen Gläubiger debattiert, auch wenn dies offiziell nie bestätigt wurde. Tatsächlich werden die Zinsen der Kredite aus dem ersten Paket halbiert. Die EZB könnte nach Darstellung von Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker ihre Gewinne aus den Griechenland-Papieren an die nationalen Notenbanken ausschütten; die Staaten könnten das Geld dann einsetzen, um die Gesamtverschuldung Griechenlands zu senken - wenn sie es denn wollen.

Die Entwicklung der Schuldensituation in Athen hängt indes nicht nur an den vielen Konjunktiven beim Schuldenschnitt, sondern gerade auch an der Entwicklung der griechischen Wirtschaft. Wenn die Kürzungsmaßnahmen das Land dauerhaft in die Rezession stürzen und die EU nicht das immer mal angekündigte Investitionsprogramm auf den Weg bringt, ist eine Haushaltskonsolidierung schlicht unmöglich. Und auch auf der Einnahmenseite sind die Geldgeber erstaunlich tatenlos. So werden die reichen Griechen geschont - sie haben ihr Vermögen in die Schweiz geschafft oder investieren stark in Immobilien im Ausland, etwa im Berliner Raum. Wenn es mit der Vermögensbesteuerung nicht klappt, liegt es weniger an einer ineffizienten griechischen Steuerverwaltung als an der mangelnden Kooperation europäischer Länder.

Kredite und Kontrollen

Die Euro-Finanzminister haben das zweite Hilfspaket für Athen beschlossen. Die Eckpunkte:

Kredite: Die Euroländer stellen bis zu 100 Milliarden Euro an Krediten zur Verfügung, die in mehreren Tranchen bis 2014 ausgezahlt werden können. Die Zinsen sind relativ niedrig: Sie beginnen bei zwei Prozent und steigen erst nach 2020 auf 4,3 Prozent. Für die Kredite aus dem ersten Hilfspaket von 2010 werden die Zinsen halbiert. Der Internationale Währungsfonds will sich diesmal nur an dem Paket beteiligen, wenn der Euro-Krisenfonds ESM aufgestockt wird.

Garantien: Mit 30 Milliarden Euro sollen neue Anleihen privater Geldgeber abgesichert werden. Damit erhalten Banken, Versicherungen und Fonds einen Anreiz, sich am Schuldenschnitt zu beteiligen.

Schuldenschnitt: Die privaten Gläubiger verzichten auf 53,5 Prozent ihrer Forderungen. Dadurch sollen die griechischen Staatsschulden von 350 Milliarden um 107 Milliarden Euro gedrückt werden. Ziel ist es, die Staatsverschuldung von heute 160 Prozent auf 120,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes im Jahr 2020 zurückzufahren.

Bedingungen: Voraussetzung für Kredite sind umfangreiche Kürzungen von Löhnen, Renten, bei Arzneimitteln und Militärausgaben. Staatsvermögen und Staatsbetriebe sollen verkauft, 150 000 Beamtenstellen gestrichen werden. Anfang März prüft die Eurogruppe, ob die einzelnen Gesetze auf den Weg gebracht sind. Nur dann und wenn die die privaten Gläubiger auf die Schulden verzichten, gibt es Geld.

Kontrollen: Eine Task Force von EU-Kommission, IWF und Europäischer Zentralbank wird dauerhaft vor Ort überwachen, dass Griechenland alle Versprechen einhält. Mit einem Treuhandkonto wird sichergestellt, dass das Land als erstes Zinsen und Tilgungen begleicht und das Geld nicht für andere Dinge ausgibt. dpa/nd



* Aus: neues deutschland, 22. Februar 2012


"Gnadenschuss" für Athen

Kredite und Schuldenschnitt gegen harte Auflagen

Von Anke Stefan, Athen **


Nach wochenlangen Verzögerungen ist das zweite »Rettungspaket« für Griechenland beschlossen worden. Es sieht Notkredite, einen Schuldenschnitt und stärkere Kontrollen vor. Griechische Gewerkschaften riefen umgehend zu neuen Protesten auf.

In einem nächtlichen Verhandlungsmarathon beschlossen die Euro-Finanzminister neue Finanzhilfen für Griechenland in Höhe von 130 Milliarden Euro. Zu dem Maßnahmebündel gehört auch der bereits in Grundzügen vereinbarte Schuldenschnitt. Die privaten Gläubiger, hauptsächlich Banken und Hedgefonds, sollen auf 107 Milliarden Euro verzichten.

Im Gegenzug musste sich die griechische Regierung zur strikten Einhaltung aller alten und neuen Kürzungsmaßnahmen verpflichten. Darunter fallen die erst am 12. Februar gegen Massenproteste der Bevölkerung von den Regierungsparteien PASOK und Nea Dimokratia verabschiedeten Vorgaben für die Entlassung von insgesamt 150 000 Staatsbediensteten, neue Einschnitte bei den Renten sowie die Senkung des Mindestlohns und aller an ihn gekoppelten Löhne und Leistungen. Die einzelnen Gesetze soll das Parlament noch diese Woche verabschieden.

Zudem wird die nationale Souveränität des angeschlagenen Mittelmeerstaates weiter beschnitten. Eine Expertengruppe der Gläubigertroika aus EU, IWF und EZB soll dauerhaft den Schuldenabbau überwachen. Außerdem wird ein Sperrkonto eingerichtet, auf das die griechische Regierung fällig werdende Schulden einzuzahlen hat.

Von der linken Opposition in Griechenland wurde die neue Vereinbarung scharf kritisiert. Ministerpräsident Lucas Papademos habe Recht, wenn er von einem historischen Tag spreche, erklärte die Europaverantwortliche der Linkspartei Synaspismos, Rena Dourou. »Es handelt sich um den Tag, an dem Griechenland seine nationale Souveränität aufgab, um die Interessen seiner Gläubiger zu sichern.« Die beiden griechischen Gewerkschaftsdachverbände haben schon für heute zu neuen Protesten vor dem Parlament in Athen aufgerufen. Die neuen Einschnitte versetzten den Arbeiterrechten und dem Sozialstaat endgültig den »Gnadenschuss«, heißt es.

»Das Paket wird Griechenland die benötigte Zeit geben, um Strukturreformen vorzunehmen«, sagte Euro-Gruppenchef Jean-Claude Juncker gestern. Seiner optimistischen Prognose schlossen sich EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und der Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, an. Skeptisch äußerten sich dagegen Bankenvertreter. Auch in einem noch während der nächtlichen Tagung bekannt gewordenen vertraulichen Bericht der Gläubigertroika hieß es, Griechenland sei kaum in der Lage, die Vorgaben zu erfüllen. »Es besteht eine grundlegende Spannung zwischen den Programmzielen des Schuldenabbaus und der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit.«

** Aus: neues deutschland, 22. Februar 2012


Abstieg beschleunigt

EU-Beschlüsse zu Griechenland

Von Andreas Wehr ***


Wieder Dramatik und wieder Einigung in letzter Sekunde. Noch einmal wurde auf dem Finanzministergipfel der Euro-Staaten das ganze Spektakel einer »geglückten Rettung in letzter Sekunde« geboten. Bei einer davon längst müden Öffentlichkeit verfängt das aber kaum noch.

Und doch lohnt es, auf das Ergebnis zu sehen. Die Tatsache, daß es überhaupt zu einem zweiten Griechenland-Paket kommen mußte, stellt allein schon eine Niederlage der Krisenmanager aus Brüssel, Berlin und Paris dar. Zur Erinnerung: Das erste Rettungspaket für Griechenland stammt von Mai 2010. Damals hieß es, dies werde eine einmalige und sich nicht wiederholende Maßnahme sein. Es sollte garantiert werden, daß das Land bis Mitte 2012 eine tragfähige Schuldenquote erreicht, so daß es spätestens 2013 wieder Kredite auf den Finanzmärkten aufnehmen kann. Daraus ist nichts geworden. Die Verschuldung ist nicht gesunken, sondern gestiegen – von 120 auf mehr als 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die mit dem Paket verbundenen Auflagen haben das Wachstum des Landes nicht beschleunigt, sondern gedrosselt, die griechische Wirtschaft schrumpfte 2011 um sechs Prozent.

Mit dem zweiten Rettungspaket wird nun diese gescheiterte Politik fortgesetzt. Erneut wurden von Athen drastische Einschnitte in das soziale Netz und weitreichende Kürzungen staatlicher Leistungen verlangt. Abgesehen von der damit verbundenen sozialen Ungerechtigkeit, werden diese Kürzungen den Abstieg nur beschleunigen. Gesenkte Löhne, gestrichene Staatsausgaben und gekürzte Renten werden zu weiteren Entlassungen und Betriebsschließungen führen. Mit diesem Krisengipfel ist man daher auf dem Weg nach unten ein weiteres Stück vorangekommen. Der für das Land einzige Ausweg, der generelle Schuldenschnitt, blieb hingegen eine Farce. Der mit den privaten Gläubigern vereinbarte Zinssatz für die verbliebenen Kredite von durchschnittlich 3,65 Prozent liegt viel zu hoch. Am Ende dieses zweiten Rettungspakets wird Griechenland daher noch schlechter dastehen als jetzt schon.

Die eigentliche Botschaft, die von diesem Krisengipfel ausgeht, lautet daher, daß von Brüssel nichts anderes mehr als eine bloße Fortsetzung der längst gescheiterten Politik zu erwarten ist. Dort gibt es nur noch das Interesse, den kerneuropäischen Banken die pünktliche Bedienung ihrer Zins- und Tilgungsforderungen zu garantieren. Die verlangte Einrichtung eines Sonderkontos in Athen für deren Sicherung ist daher nur konsequent.

Dem Internationalen Währungsfonds wird diese europäische Borniertheit langsam unheimlich. Sein Engagement bei diesem zweiten Paket fiel daher deutlich kleiner als beim ersten aus. Und in Griechenland wird immer mehr Menschen klar, daß ein Ausweg für das Land nur außerhalb der Euro-Zone zu finden ist.

*** Andreas Wehr ist Autor des Buches »Griechenland, die Krise und der Euro«, das im Herbst 2011 in zweiter, erweiterter Auflage im PapyRossa Verlag erschien. Mehr unter www.andreas-wehr.eu

Aus: junge Welt, 22. Februar 2012 (Gastkommentar)



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