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"Den Leuten hier geht es wirklich dreckig"

Die EU hat Griechenland eine rabiate Kürzungspolitik aufgezwungen. Deren Auswirkungen auf den Alltag der Bevölkerung sind dramatisch. Ein Gespräch mit Georg Pieper *


Georg Pieper ist Psychologischer Psychotherapeut und betreibt eine Praxis für Trauma- und Streßbewältigung in Gladenbach bei Marburg (Lahn). Unter anderem hat er Angehörige der Opfer des Grubenunglücks in Borken, des ICE-Unglücks in Eschede und des Amoklaufs von Erfurt betreut. Im Oktober weilte er in Athen, um vor Ort Psychologen, Psychiater und Ärzte in Sachen Traumatherapie fortzubilden. Im Knaus-Verlag erschien von ihm gerade das Buch: »Überleben oder Scheitern. Die Kunst, Krisen zu bestehen und daran zu wachsen.«

Sie hatten im Oktober die Gelegenheit, die Krise in Griechenland persönlich in Augenschein zu nehmen. Was war der Zweck Ihres Aufenthalts?

Ich bin dort mit Psychologen, Psychiatern und Ärzten zusammengetroffen, die in der Vergangenheit bei mir eine Ausbildung in Traumatherapie absolviert hatten. Die Traumatherapie ist ein relativ junges und noch recht wenig verbreitetes Fach. In Griechenland leiste ich seit 2005 so etwas wie Pionierarbeit auf dem Gebiet. Mein Seminar im Oktober habe ich unentgeltlich abgehalten, auch als Zeichen der Solidarität der deutschen Psychologen mit ihren griechischen Kollegen. Wir haben gemeinsam Fälle besprochen, wie es sie in Griechenland seit Ausbruch der Wirtschaftskrise immer mehr und häufiger gibt. Dabei habe ich viel über die Sorgen und Nöte von Patienten und eben auch darüber erfahren, unter welch schlimmen Bedingungen viele Griechen heutzutage zu leben haben.

Werden Leute Ihres Faches gegenwärtig in Griechenland besonders dringend gebraucht?

Der Bedarf für psychotherapeutische Betreuung ist in der Tat immens gestiegen. Allerdings ist die Psychotherapie anders als in Deutschland nicht als Kassenleistung anerkannt und muß auf private Rechnung bezahlt werden. Und weil das so ist, bleiben leider massenweise Bedürftige ohne professionelle Betreuung.

Mit welchen Fällen haben Ihre griechischen Kollegen täglich zu tun?

Es geht einmal um Menschen, die Opfer von Gewaltübergriffen, von sexuellem Mißbrauch, schweren Unfällen oder von Brandkatastrophen geworden sind. In der Bevölkerung herrscht aufgrund der Krise eine große Frustration, und es entwickelt sich ein Aggressions- und Gewaltpotential. Außerdem birgt die Not ganz neue Gefahren für Leib und Leben. Es gibt ganze Wohnviertel, die im Winter von der Öllieferung abgeschnitten sind. In den Haushalten wird deshalb in kleinen Öfen geheizt, mit Holz, das eigenhändig und illegal im Wald geschlagen wurde. Damit steigt natürlich das Brandrisiko. Viele Erkrankungen kommen aber vor allem daher, daß die Betroffenen beruflich aus der Bahn geworfen wurden. Dabei suchen auffällig viele Männer die Therapien auf, häufig mit Depressionen und Angststörungen. Das sind zwei Krankheitsbilder, die bei Griechenlands Männern stark zunehmen. Diese Entwicklung ist neu, normalerweise holen sich deutlich mehr Frauen psychotherapeutischen Beistand.

Warum ist das jetzt anders? Was macht den Männern konkret zu schaffen?

Die Männer erleben, daß ihre Arbeit viel weniger wertgeschätzt wird als noch in Vorkrisenzeiten. Wer heute überhaupt noch einen Beruf ausübt, erhält im Schnitt nur noch die Hälfte an Lohn. Millionen haben gar keine Arbeit mehr und auch keine Aussicht auf eine neue Stelle. Gerade Männer, die sich viel stärker als Frauen über ihren Marktwert definieren und sich traditionell als Ernährer der Familie sehen, verlieren ohne Arbeit den Boden unter den Füßen und gehen ihrer ganzen Identität verlustig. Dazu paßt: Die Selbstmordrate in Griechenland ist mittlerweile doppelt so hoch wie noch vor drei Jahren, und drei Viertel der Suizide begehen Männer. Die Frauen zeigen sich dagegen flexibler, wenn es darum geht, ihre Rolle zu wechseln und es zum Beispiel plötzlich heißt, das Überleben der Kinder zu sichern.

Welchen Reaktionsmustern begegnet man bei den Männern?

Viele ziehen sich in sich zurück, zeigen sich handlungsunfähig, hilflos, apathisch oder flüchten sich in Alkohol. Dazu steigt die Gewaltbereitschaft. Innerhäusliche Übergriffe auf Frau und Kinder nehmen zu, es gibt immer mehr Straßenbanden, über die Hälfte der Jugendlichen hat keinen Job. Dazu wächst die Empfänglichkeit für politische Verführer. Die Nazipartei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) liegt in der Wählergunst bereits an dritter Stelle. Für mich war Griechenland, das ich seit 40 Jahren kenne, immer das Land mit der größten Gastfreundschaft und Lebensfreude in Europa. Jetzt haben mich meine Kollegen davor gewarnt, abends oder nachts allein auf die Straße zu gehen.

Hatten Sie dennoch Kontakt mit den »einfachen« Menschen?

Ich hatte gleich am Anfang ein Schlüsselerlebnis, bei der Fahrt vom Flughafen zum Hotel. Freunde hatten mir geraten, für die Taxifahrt nicht mehr als 30 Euro zu zahlen. Als ich das sagte, hatte der Fahrer auf Anhieb etwas Aggressives und Feindseliges in den Augen. Als er mich fragte, woher ich denn komme, habe ich mich lieber nicht als Deutscher geoutet, sondern als Herkunftsland Norwegen angegeben, wo meine Frau herstammt. Er beschimpfte mich trotzdem, weil es nicht angehen könnte, daß ich als Bürger eines so reichen Landes um den Taxipreis feilschen würde. Er wolle 35 Euro, weil er sonst seine Kinder nicht ernähren könnte, und er habe die ganze Nacht im Auto verbracht, um die erste Fahrt zu kriegen. Dieser Mann war so außer sich und aufgebracht, daß mir sofort klar wurde: Den Leuten hier geht es wirklich dreckig.

Welches Bild haben Sie von den gesellschaftlichen Institutionen gewonnen, etwa vom Gesundheitssystem?

Das öffentliche Gesundheitssystem ist komplett zusammengebrochen. Staatliche Kliniken verfügen in der Regel über keine Medikamente mehr, die muß man sich als Patient irgendwie selbst besorgen. Die Ärzte sagen auch klipp und klar, daß sie nicht adäquat pflegen und behandeln können. Die Leute müssen sich ihre Bettwäsche und ihr Essen selbst mitbringen. Die hygienischen Bedingungen sind verheerend, es fehlt an Einweghandschuhen und Kathetern. Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern müssen selbst putzen, weil das Reinigungspersonal entlassen wurde. Selbst hochschwangere Frauen werden mitunter abgewiesen, weil man ihnen nicht helfen kann oder sie nicht versichert sind. Und private Kliniken kann sich kaum ein Mensch leisten. Wer zum Beispiel gerade einen schizophrenen Schub hat und unbedingt behandelt gehört, den würde dies 3500 Euro kosten. Weil die wenigsten das zahlen können, bleiben viele Krankheiten unbehandelt, sie chronifizieren und werden zu einem großen Problem für die Gesellschaft.

Haben Sie das Gefühl, daß von den Milliardensummen, die als Hilfskredite nach Griechenland fließen, etwas bei der einfachen Bevölkerung ankommt?

Ich habe mit vielen Beschäftigten in öffentlichen Einrichtungen gesprochen, die zum Teil seit Monaten gar kein Geld gesehen haben oder mit spärlichen Abschlagszahlungen abgespeist wurden. Die Leute machen sich keine Illusionen mehr. Sie wissen: Von den EU-Milliarden bekommen sie nichts ab, das geht für die sogenannte Bankenrettung und die Sicherung von Privatanlagen drauf. Eine Musiklehrerin, die ich traf, erwartet ihre nächste Gehaltszahlung im März 2013. Und das ist noch höchst ungewiß.

Wie schätzen die Menschen die Aussichten für die kommenden Monate und Jahre ein?

Die Lage ist ja schon katastrophal, aber die Leute rechnen mit noch Schlimmerem. Hier entsteht eine hochexplosive Mischung aus tiefer Depression und kalter Wut. Die richtet sich natürlich gegen die EU, aber auch gegen die eigenen Politiker. Die haben ihr Vertrauen komplett verspielt, über 50 Prozent der Bevölkerung wollen nicht mehr zur Wahl gehen. Besagter Taxifahrer sprach davon, daß er sich am liebsten eine Pistole besorgen wolle, um alle Politiker zu erschießen. Wenn nicht rasch etwas gegen diese kollektive Verzweiflung unternommen und den Menschen nicht bald geholfen wird, dann könnte es zu einem Bürgerkrieg kommen. Das ist meine große Angst.

Wie bewerten Sie es aus Sicht des Psychologen, daß wir als Medienkonsumenten von all dem Elend praktisch nichts mitbekommen und wohl auch nichts mitbekommen sollen?

Das ist eine gewaltige Verdrängungsleistung, und es wirkt so, als hätte das System. Dem Ottonormalverbraucher in Deutschland wird täglich weisgemacht: Unsere Steuermilliarden werden nach Griechenland geschaufelt, und die Griechen kriegen es nicht geregelt. Dabei kommt das Geld gar nicht bei den Menschen an, ihnen geht es im Gegenteil immer schlechter. Hier ist eine ganze Gesellschaft im Begriff zusammenzubrechen, und die sozialen Beziehungen unter den Menschen drohen, immer weiter zu verrohen. Ich bin kein Ökonom, aber die Lösung besteht ganz bestimmt nicht darin, nur die Banken zu retten. Aus psychologischer Sicht braucht es jetzt dringend eindeutige Zeichen der Solidarität.

Geldwerte Solidarität?

Auch, aber nicht nur. Noch einmal zurück zu diesem Taxifahrer: Als er gerade mit einer Hand am Steuer und 140 Sachen wildgestikulierend durch eine Kurve raste und ich Todesängste ausstand, fragte er, was ich in Athen mache. Als er hörte, daß ich ohne Bezahlung aus Solidarität mit meinen Kollegen ein Seminar abhalten wolle, wurde er mit einem mal viel ruhiger. Später haben wir uns sogar per Handschlag verabschiedet, und er verlangte auch nicht mehr als 30 Euro. Auch meine Kollegen habe ich bei der ersten Begegnung durch und durch hoffnungslos und tief deprimiert angetroffen. Nachdem ich ihnen die Solidarität der deutschen Psychologen übermittelt hatte, hellte sich ihre Stimmung merklich auf. Und nach drei Tagen hatte ich das Gefühl, daß sie tatsächlich neuen Mut und neue Kraft geschöpft hatten. Die Leute müssen einfach spüren, daß man sie und ihre Nöte ernstnimmt, daß man ihnen helfen will.

Ganz hoffnungslos sind Sie also nicht?

Es bedürfte Zeichen der Solidarität auf der großen politischen Bühne. Die Leute müßten spüren: Deutschland ist interessiert an den Menschen in Griechenland, nicht nur an irgendwelchen Banken. Nur so könnten die Kräfte mobilisiert werden, die es braucht, eine solche Krise zu bestehen. Momentan sind die Kräfte der Menschen aber völlig lahmgelegt, weil sie seit Jahren allein gelassen werden und sie sich vorkommen müssen wie die letzten Trottel in Europa.

Interview: Ralf Wurzbacher

* Aus: junge Welt, Montag, 31. Dezember 2012


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