Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Griechische Lektionen

Institut der deutschen Wirtschaft fordert EU-weite "Schuldenbremse", Maßnahmen gegen Spekulation bei Staatsanleihen und weitere Marktliberalisierungen

Von Rainer Balcerowiak *

Die in den vergangenen Tagen oft benutzte Einschätzung, daß »Europa am Scheideweg« stehe, kann auch Michael Hüther unterschreiben. Gefährdet sei momentan nicht nur die Gemeinschaftswährung, sondern der gesamte europäische Integrationsprozeß, sagte der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) am Donnerstag (6. Mai) auf einer Pressekonferenz in Berlin. Ratingagenturen und die internationalen Kapitalmärkte trieben die EU auf den Weg in eine Transferunion. Mit dem Ziel, bis 2010 zum »wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt« zu werden, sei die Union gescheitert. Selbst langfristig sei dieses Vorhaben nur durch eine radikale Umkehr in der europäischen Finanzpolitik zu realisieren.

Gläubiger sollen verzichten

Das IW fungiert als wichtigster Thinktank des realwirtschaftlichen Teils des Großkapitals und ist auf die Abzocker auf den Finanzmärkten ebenso schlecht zu sprechen wie auf die »hektischen Rettungsbemühungen« der EU-Regierungen. Durch die erklärte Bereitschaft, die griechischen Staatsfinanzen massiv zu stützen, entstünden »verheerende Anreizeffekte« für Banken und Finanzinvestoren, Milliardenkredite auch bei zweifelhafter Bonität an einzelne Staaten zu vergeben. Eine Zahlungsunfähigkeit Griechenlands hätte weder zum Zerfall des Euro-Raums noch zum Verschwinden des griechischen Staates geführt, sondern in erster Linie zum Forderungsausfall der Gläubiger, der jetzt auf Kosten der Steuerzahler verhindert werde. Um derartige Anreize für die Zukunft auszuschließen, verlangt das IW im Rahmen der Griechenland-Hilfe einen »Haircut«, d. h. eine Umschuldung, die mit einem Forderungsverzicht der Gläubiger von bis zu 30 Prozent einhergeht. Künftige Staatsanleihen könnten generell mit einem »Selbstbehalt« der Gläubiger versehen werden, die im Falle der Zahlungsunfähigkeit des Emittenten automatisch einen Teil des eingesetzten Kapitals verlören. Zudem müsse das »faktische Monopol« der privaten Ratingagenturen auf Bewertung der Kreditwürdigkeit von Staaten durchbrochen werden. Deren Aufgaben sollten die Europäische Zentralbank, der Internationale Währungsfonds oder die Bank für Internationalen Zahlungsverkehr übernehmen. Dagegen diene die jetzt erklärte Bereitschaft der deutschen Großbanken, sich an dem Hilfspaket für Griechenland zu beteiligen, wohl eher »der Beruhigung des Publikums«.

Als Dreh- und Angelpunkt für die Zukunft der EU sieht Hüther Maßnahmen zur nachhaltigen Konsolidierung der Staatsfinanzen und zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit. Er plädierte für eine EU-weite »Schuldenbremse« nach deutschem Vorbild, d. h. eine einheitliche Obergrenze für die Nettokreditaufnahme, die strikt kontrolliert wird. Wird dieses Limit überschritten, muß das sanktioniert werden. Alle Mitgliedsstaaten müßten sich dem Diktum unterwerfen, »daß Krisen, die aufgrund ausufernder Staatsschulden oder mangelnder Wettbewerbsfähigkeit entstehen, ein schmerzhaftes Anpassungsprogramm des IWF nach sich ziehen«. Dies würde »disziplinierend« wirken.

Griechenland sei aber auch ein Beispiel für die Folgen fehlender Wettbewerbsfähigkeit. Da in einer Währungsunion die Möglichkeit einer Abwertung in einem Land nicht bestehe, müßten nun »Übertreibungen der vergangenen Jahre in der Lohnpolitik« und bei der Aufblähung des Sozialstaats und des öffentlichen Sektors radikal korrigiert werden. Über viele Jahre müsse der Lohnzuwachs hinter der Produktivitätsentwicklung zurückbleiben. Märkte müßten liberalisiert und allgemein wirtschaftsfreundliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, so Hüther. Dieser Weg könne Griechenland und anderen Defizitstaaten nicht durch finanzielle Hilfen erspart bleiben.

Export boomt weiter

Um das Ziel der »realwirtschaftlichen Konvergenz«, also der allmählichen Angleichung der Lebensverhältnisse in der EU, nicht aus den Augen zu verlieren fordert der IW-Direktor auch weitere Liberalisierungen im gesamten Binnenmarkt. In den vergangenen Jahren habe sich die Union damit »sehr schwergetan«, wie die Verwässerung der ursprünglich geplanten Dienstleistungsrichtlinie und der Vorschriften zur Liberalisierung der Postmärkte gezeigt habe. Die EU-Kommission hatte ursprünglich geplant, daß bei der Erbringung von Dienstleistungen die Sozial- und Tarifstandards der Herkunftsländer der Dienstleister maßgeblich sein sollen. Dies wurde nach erheblichem Widerstand besonders der Gewerkschaften in den großen EU-Staaten schließlich zurückgezogen. Für Hüther ist das allerdings ein Unding. Europäische Integration bedeute für ihn, »daß alles, was in einem EU-Land legal ist, auch in allen anderen Mitgliedsstaaten erlaubt sein muß«.

Daß Deutschland als größter Exporteur auf dem EU-Binnenmarkt unter schwächelnder Nachfrage von durch »Anpassungsmaßnahmen« strangulierten Volkswirtschaften leiden könnte, glaubt man beim IW nicht. Zum einen befänden sich in der Wertschöpfungskette dieser Exporte immer größer werdende Anteile von aus diesen Ländern importierten Vor- und Halbfertigprodukten, so der wirtschafts- und sozialpolitische Geschäftsführer Rolf Kroker. Außerdem kämen die zentralen dynamischen Impulse für den deutschen Export trotz des noch immer sehr hohen EU-Anteils aus den Wachstumsmärkten besonders im asiatischen Raum.

* Aus: junge Welt, 7. Mai 2010


Zurück zur Griechenland-Seite

Zur EU-Europa-Seite

Zurück zur Homepage