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Die Wut der Entwurzelten

Griechenland: Nach Verabschiedung des neuen Kürzungspakets kein Ende der Hiobsmeldungen

Von Anke Stefan, Athen *

Nach der Verabschiedung des neuen Abbaupakets hat die Regierung in Athen bereits die nächste Hürde ins Auge gefasst. Schon am Sonntag muss der Haushalt vom Parlament gebilligt werden. Am Montag tagt die Eurogruppe, um zu entscheiden, wie es mit Griechenland weitergehen soll.

Herbe Verluste hat die Regierung in Griechenland zu verzeichnen. Bei der Verabschiedung des mit den Gläubigern in EU, Währungsfonds und Europäischer Zentralbank ausgehandelten Maßnahmenpakets stimmten nur 153 der insgesamt 175 Abgeordneten der Dreiparteienkoalition aus konservativer Nea Dimokratia, sozialdemokratischer PASOK und Demokratischer Linker DIMAR für die neuen drastischen Einschnitte bei Löhnen, Renten und Arbeiterrechten. Sechs Abgeordnete der PASOK und ein Abgeordneter der Nea Dimokratia, die gegen die Vereinbarung gestimmt, sich der Stimme enthalten oder der Abstimmung entzogen hatten, wurden noch in der Nacht von den Parteichefs Antonis Samaras und Evangelos Venizelos aus ihren Fraktionen ausgeschlossen.

Der Vorsitzende der DIMAR, Fotis Kouvelis, dagegen hatte bereits in den Verhandlungen um das Paket erklärt, seine Partei könne den geplanten Einschnitten bei den Arbeiterrechten nicht zustimmen. Die DIMAR will allerdings trotz verweigerter Ja-Stimmen für die Gläubigervereinbarung in der Regierungskoalition bleiben.

Die Abgeordneten der Linksallianz SYRIZA (71 Parlamentarier), der nationalistischen Unabhängigen Griechen (20), der faschistischen Goldenen Morgenröte (18) und der Kommunistischen Partei Griechenlands KKE (12), sowie die vier seit früheren Ausschlüssen aus den Regierungsfraktionen unabhängigen Parlamentarier stimmten mit Nein.

Noch bevor die angeschlagene Regierungskoalition ihre Mitglieder zu Krisensitzungen versammeln konnte, wurde am Donnerstag Vormittag bereits der nächste Verlust gemeldet, als ein weiterer Abgeordneter der PASOK seinen Austritt aus Partei und Fraktion im Radio verkündete.

Griechenland habe einen entschlossenen Schritt zum Aufschwung getan, verkündete Nea Dimokratias Ministerpräsident Antonis Samaras unmittelbar nach Ende der namentlichen Abstimmung Mittwochnacht. Die jüngsten Zahlen der EU-Kommission dagegen sprechen eine andere Sprache. Danach wird die Wirtschaftsleistung des Landes trotz Krediten wegen der Kürzungsmaßnahmen in diesem Jahr um weitere sechs und im nächsten Jahr um 4,2 Prozent schrumpfen. Gleichzeitig wird der Schuldenberg nicht wie ursprünglich angenommen kleiner, sondern bis 2014 auf 189 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anwachsen.

Was dies für die Bevölkerung bedeutet, machten die zeitgleich zu Diskussion und Abstimmung stattfindenden Proteste überall im Land deutlich. Im Rahmen des am Dienstag begonnenen zweitägigen Generalstreiks standen auch am Mittwoch in Griechenland wieder »alle Räder still«. Schulen, Universitäten und Behörden blieben bereits den zweiten Tag geschlossen, in den Krankenhäusern wurden nur Notfälle behandelt und auch im Luftverkehr kam es erneut zu Behinderungen, weil die Fluglotsen sich über die Mittagstunden am Ausstand beteiligten. Gleichzeitig kündigten die streikenden Ärzte im staatlichen Gesundheitswesen an, künftig an einem Tag in der Woche die längst auf Hunderttausende angewachsene Menge aus jedem Sozialversicherungsnetz Gefallener in Kliniken und Krankenhäusern unentgeltlich zu behandeln.

Am späten Mittwoch gipfelten die Proteste in Massendemonstrationen in mehreren Städten. Bei einer der größten Manifestationen der vergangenen Jahre versammelten sich allein in der Hauptstadt trotz zeitweise strömenden Regens weit über hunderttausend Menschen direkt vor dem Parlament. Jede Regung am Eingang oder an den Fenstern des ehemaligen Königspalastes wurde mit Buhrufen oder der Parole »Diebe, Diebe« quittiert. Transparente kündigten an, die drastischen Einschnitte nicht länger hinnehmen zu können, oder forderten zum Sturz der Regierung auf. Ein alter Mann hatte seine Füße in Ketten gelegt und trug eine kleine entwurzelte Palme durch die Menge. »Mit den Kürzungen werden uns immer mehr Blätter vom Lebensbaum abgerissen«, erläuterte er seinen Aufzug. »Anfangs gab es noch Hoffnung, dass der wieder ausschlägt, aber nun wird man ihn vollständig entwurzeln.« Nach vereinzelten Auseinandersetzungen militanter Demonstranten mit der Polizei räumten die »Ordnungskräfte« unter Einsatz von Tränengas, Schockgranaten und Wasserwerfern den Platz.

Auch am Donnerstag streikten verschiedene Branchen.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 09. November 2012


Kampf geht weiter

Griechenland: Parlament beschließt Kürzungen. Hunderttausende demonstrieren. Streiks werden fortgesetzt

Von Heike Schrader, Athen **


Am Morgen danach titelte die Tageszeitung I Ellada avrio (Griechenland morgen): »153 Messerstiche gegen die Griechen für eine Kreditrate«. Trotz der Proteste Hunderttausender war zuvor in der Nacht zum Donnerstag im 300köpfigen griechischen Parlament das zwischen Regierung und Gläubigertroika ausgehandelte Kürzungspaket mit der knappen Mehrheit von 153 Stimmen verabschiedet worden. Die 121 Abgeordneten der Linksallianz SYRIZA, der nationalistischen Unabhängigen Griechen, der neofaschistischen Goldenen Morgendämmerung und der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) sowie die vier nach früheren Ausschlüssen aus den Regierungsparteien als Unabhängige im Parlament verbliebenen Abgeordneten stimmten dagegen. Doch auch die erst im Juni mit 179 Abgeordneten angetretene und seither bereits auf 175 Abgeordnete geschrumpfte Dreiparteienkoalition aus konservativer Nea Dimokratia (ND), sozialdemokratischer PASOK und der Demokratischen Linken (DIMAR) hatte herbe Verluste zu verzeichnen. Der DIMAR-Vorsitzende Fotis Kouvelis hatte schon vor Beginn der Debatte erklärt, seine Partei könne die in der Vereinbarung festgeschriebenen Einschnitte bei den Arbeitsrechten nicht mittragen. Dieser Linie folgend enthielten sich 15 seiner 16 Abgeordneten der Stimme, einer votierte dagegen. Von den 32 Abgeordneten der PASOK stimmten fünf gegen die Vereinbarung, ein weiterer war nicht anwesend. Und sogar die 127 Abgeordnete starke ND-Fraktion von Ministerpräsident Antonis Samaras hatte eine Stimmenthaltung zu verzeichnen. Die Abweichler in Nea Dimokratia und PASOK wurden noch in der Nacht von ihren Parteichefs aus den Fraktionen ausgeschlossen.

Im Rahmen des zweitägigen Generalstreiks waren auch am Mittwoch im ganzen Land sämtliche öffentlichen Einrichtungen geschlossen geblieben. Der Nah- und Fernverkehr ruhte bis zum Nachmittag, als Metro und Straßenbahn den Betrieb wieder aufnahmen, um Hunderttausende Demonstrierende ins Zentrum von Athen und anderer großer Städte zu transportieren. In der Hauptstadt versammelten sich vom späten Nachmittag an weit mehr als 100000 Menschen direkt vor dem Parlamentsgebäude. Selbst die Polizei und regierungsnahe Medien sprachen von einer der größten Protestmanifestationen seit Beginn des Widerstands gegen die diversen Kürzungspakete.

»Hier geht es nicht um kleine Einschnitte bei einzelnen Gruppen, die Maßnahmen treffen alle«, begründete Thanassis, einer der Demonstranten, gegenüber jW, warum er an den Protesten teilnimmt. »Wenn die Maßnahmen durchkommen, ist das lebensbedrohlich, insbesondere für ohnehin sozial benachteiligte Gruppen wie Behinderte oder kinderreiche Familien.« Der seit 36 Jahren als Bankangestellter Arbeitende hat schon im Zuge der bisherigen Kürzungen mehrere hundert Euro Gehalt im Monat eingebüßt. »Gleichzeitig muß ich trotz geringerem Bruttoeinkommen mehr Steuern zahlen.«

Trotz des gegen 18.30 Uhr einsetzenden Regens schlossen sich immer mehr Menschen den Protestierenden an. Der gesamte Boulevard vor dem Parlament sowie der Platz dahinter wurde von Mitgliedern unabhängiger sowie von den beiden Dachverbänden GSEE und ADEDY angehörenden Gewerkschaften, Anhängern von SYRIZA und den zahlreichen Organisationen der außerparlamentarischen Linken und der Anarchisten sowie von Zehntausenden keiner Organisation zugehörigen Menschen gefüllt. Die nach einer getrennten Auftaktkundgebung vor das Parlament gezogene und ebenfalls mehrere zehntausend Teilnehmer starke Demonstration der kommunistisch orientierten Gewerkschaftsfront PAME nahm den gesamten über einen Kilometer langen Boulevard am unteren Ende des Platzes ein.

Nach vereinzelten Auseinandersetzungen an der Absperrung zum Parlamentseingang setzte die Polizei ab 20.00 Uhr flächendeckend Blendgranaten, Tränengas und erstmalig auch Wasserwerfer gegen die Menge ein. Unter Buhrufen und Parolen wie »Die Polizisten sind keine Kinder der Arbeiter sondern die Hunde der Herrschenden« löste sich die Demonstration trotz des brutalen Angriffs relativ ruhig auf.

Auch nach Verabschiedung der Maßnahmen gehen die Proteste weiter. Die sich seit Anfang der Woche im Dauerstreik befindlichen Arbeiter bei den teilstaatlichen Stromwerken besetzten am Donnerstag die Zentrale der Stromgesellschaft. Weiterhin im Ausstand bleiben zudem die Angestellten zahlreicher Gemeinden, die Rechtsanwälte und die Angestellten der Athener Metro und Straßenbahn.

** Aus: junge Welt, Freitag, 09. November 2012


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