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Wer entscheidet über Griechenlands Schicksal?

Im "neuen deutschland" debattieren Panagiotis Kouroumplis und Frank Puskarev


Seit Monaten wird in der Europäischen Union und den Brüsseler Behörden über den Umgang mit Griechenland gestritten. Während die Einen - sollte sich Athen weiteren Spardiktaten widersetzen - einen Ausschluss des Landes aus der Euro-Zone fordern, sehen die Anderen mit einem solchen Schritt die gesamte Währungsunion gefährdet. Geflissentlich übersehen wird dabei, dass gerade die starken Staaten Europas Griechenland immer tiefer in die wirtschaftliche und politische Krise getrieben haben. Und noch heute an der Tragödie verdienen. Dabei gibt es durchaus Wege, wie die Probleme zu lösen sind. Unsere Autoren zeigen sie auf.

Auch in Deutschland sitzen die Profiteure

Von Panagiotis Kouroumplis *

Der große Goethe hatte einst gesagt, dass Griechenland für die Menschheit das ist, was Herz und Verstand für den menschlichen Körper sind. Ich bin mir sicher, dass ihm, wenn er uns heute von oben beobachten könnte, die Worte und das Verhalten gewisser Repräsentanten des heutigen Deutschland sehr missfallen würden. Speziell dem deutschen Volk ist der Fleiß der Griechen bekannt, da eine hohe Anzahl von Emigranten aus unserem Land in Deutschland seit Jahren hart arbeitet.

Es muss allgemein vergegenwärtigt werden, dass das Weitergeben von Krediten an die Länder Südeuropas zu einem Zinssatz von 5,5 Prozent, die deutsche Banken zuvor bei der Europäischen Zen-tralbank zu einem Zinssatz von einem Prozent aufgenommenen haben, dazu geführt hat, dass die deutschen Banken sogar aus der derzeitigen Krise der südeuropäischen Länder bis heute einen milliardenschweren Nutzen ziehen. Müssten unter Berücksichtigung dieser Tatsachen, aber auch für eine kohärente Entwicklung in Europa nicht Deutsch-lands Überschüsse in den südlichen Ländern investiert werden? Könnten nicht Ausgleichsmaßnahmen zur Unterstützung des wirtschaftlichen Aufschwungs z.B. in Griechenland ergriffen werden?

Die Europäische Vision baut auf ein partnerschaftliches Verhältnis unter den Mitgliedsstaaten, auf dem Respekt von Werten wie Solidarität und Menschenwürde. Glauben Sie, dass es heute möglich ist, dass ein Grieche oder ein Bürger der südeuropäischen Länder davon überzeugt ist, dass diese Prinzipien in Europa vorherrschen?

Sie müssen wissen, dass mein Land nicht zufällig in diese Krise geraten ist. Ich führe einige Faktoren auf, die beispielhaft zu dieser folgenreichen Entwicklung beigetragen haben. In meinem Haus wimmelt es - wie auch in Millionen anderer griechischer Haushalte - von deutschen Geräten. In den 80er Jahren gab es in Griechenland acht Industriebetriebe, die Elektroartikel exportierten. Heute existiert kein einziger mehr. Die griechische Pharmaindustrie deckte 80 Prozent des griechischen Pharmabedarfs ab. Heute deckt sie gerade einmal 15 Prozent ab, bei entsprechendem Abbau von Arbeitsplätzen.

Im Rahmen der viel gepriesenen »Europäischen Solidarität« und der »kohärenten Entwicklung« in Europa, aber auch als Folge des harten Euro wurde die griechische Industrieproduktion durch die Industrien der mächtigen Länder Europas nicht etwa gefördert, sondern zu deren Vorteil absorbiert und eliminiert. Gleichzeitig sind in den letzten Jahrzehnten keine nennenswerten deutschen Investitionen in Griechenland getätigt worden. Wir stellen nicht infrage, dass es einen großen Zufluss von Geldern in Form von Subventionen, speziell für den landwirtschaftlichen Sektor auch in unserem Land, gab. Das Modell der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik führte jedoch letztendlich die inländische Produktion in Griechenland in den Ruin.

Das Abkommen Dublin II hat unser Land in ein Lager verfolgter illegaler Immigranten verwandelt. Griechenland stemmt die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten für das vorgeblich humane Gesicht Europas, was den Aufenthalt von mehr als zwei Millionen verzweifelter Menschen in einem Land bedeutet, das inzwischen nicht mehr in der Lage ist, seine eigene Bevölkerung zu unterhalten. Wer von dieser Absurdität profitiert, ist Westeuropa, das Griechenland als Schutzwall missbraucht, um weiterhin von Asyl und humanen Sensibilitäten sprechen zu können.

Die Krise kann sich als Gefahr oder als Chance erweisen. Als Gefahr, weil sie totalitäre Reflexe provozieren und furchtbare nationalistische Egoismen hervorrufen kann. Als Chance, weil sie den Anlass geben kann, dass wir - wie Goethe argumentierte - unser »gutes Ich« wiederfinden und für ein Europa der Völker und der sozialen Gerechtigkeit arbeiten, für ein gemeinsames europäisches »Wir«, das den Idealen von Gleichheit und Gerechtigkeit, der persönlichen und sozialen Rechte gerecht wird.

Der heutige Zorn des griechischen Volkes richtet sich nicht gegen das deutsche Volk und stellt auch kein speziell griechisches Problem dar. Es ist zu erwarten, dass ähnliche Umstände morgen ähnliche Resultate auch in anderen europäischen Ländern hervorrufen werden. Vielmehr richtet er sich gegen die Dampfwalze, die das internationale Finanzsystem mit dem Ziel in Gang gesetzt hat, seine Gewinne zu maximieren und jedes durch Kämpfe erreichte soziale Recht aufzuheben, das bis heute die soziale Kultur Europas, das soziale Gesicht Europas prägte.

Die heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind eine tödliche Bedrohung für die Europäische Vision. Jeder von uns ist aufgerufen, sich auf seine eigene Verantwortung zu besinnen und nüchtern die nachstehenden Fragen zu beantworten, die in aller erster Linie Sie betreffen: Schreiten wir auf ein deutsches Europa mit allen einhergehenden Gefahren zu, oder wollen wir ein europäisches Deutschland, das eine in gleichberechtigter Zusammenarbeit unter seinen Partnern und eine kohärente Entwicklung der europäischen Völker unterstützt? Wollen wir ein Europa, das einen starken Pol in der sich entwickelnden multipolaren Welt darstellt, oder wollen wir ein Europa, über dem der Albtraum von nationalistischen Gespenstern schwebt? Die Verantwortung eines jeden von uns ist groß und historisch.

* Panagiotis Kouroumplis ist Parlamentsabgeordneter des griechischen Linksbündnisses SYRIZA. In einem Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, aus dem »nd« zitiert, legte er die Erwartungen der griechischen Bevölkerung an die deutsche und europäische Politik dar.

Die Chancen liegen im Euro. Und in SYRIZA

Von Frank Puskarev **

Es scheint absurd. Griechenland bekommt vom EFSF, der europäischen Rettungsschirm-Instanz, Milliardenkredite mit vier Prozent Zinsen, um sie gleich darauf an die Europäische Zentralbank zur Auslösung von Staatsanleihen weiter zu reichen. In Griechenland selbst verbleibt von dieser »Hilfe« nicht ein einziger Cent. Treibt man dies noch einige Zeit weiter, dann bleibt nicht mehr viel, mit dem Griechenland noch irgendetwas bezahlen könnte.

Die Mehrheit der Griechen spricht sich regelmäßig in Umfragen dafür aus, in der Eurozone bleiben zu wollen. Zurecht, möchte man meinen. Denn ein Austritt aus der Eurozone hätte dramatische Folgen, vor allem für Griechenland. Die letzten verbliebenen Sparguthaben würden entwertet, Importkosten stiegen ins Astronomische, die Staatsschulden blieben in Euro erhalten und ihre Rückzahlung würde sich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben.

Schon heute haben selbst hoch profitable Unternehmen in Griechenland massive Schwierigkeiten. Kredite zur kurzfristigen Finanzierung von Investitionen sind nicht mehr zu bekommen, viele Zulieferbetriebe sind pleite oder haben selbst keinen Zugang zu Rohstoffen mehr. Die griechische Wirtschaft ist schon heute am Boden. Ein Austritt Griechenlands würde diesen Zustand potenzieren.

Dies kann also eigentlich nicht im Interesse der Kapitalgeber sein. Umso erstaunlicher ist es, wie derzeit vor allem von den verbliebenen europäischen Konservativen unter Führung Angela Merkels der eingeschlagene Kurs mit der Brechstange durchgedrückt werden soll. Zwar hat der neue französische Präsident eine wachstumsorientierte Politik schon hier und dort eingefordert, aber in Sachen Griechenland bewegt sich auch in der sozialdemokratischen europäischen Parteienfamilie recht wenig.

Dabei wäre es doch sinnvoll, zunächst mal die Schulden Griechenlands auf ihren Ursprung hin zu untersuchen. Dass die Gewinne von Spekulanten vor der Auszahlung von Renten und Sozialeinkommen stehen sollen, ist doch nun wirklich niemandem mehr zu erklären. Und dass vor allem die reichen griechischen Familien, welche sich seit Jahren um Steuerzahlungen drücken, nun auch mithilfe der europäischen Partner an ihre staatsbürgerlichen Pflichten erinnert werden sollen, erscheint vor dem Hintergrund der dramatischen Situation, vor der Griechenland steht, auch mehr als selbstverständlich.

Ökonomen aller Couleur bestätigen derzeit, dass mit dem von Troika und griechischer Regierung ausgehandeltem Sparpaket weder die griechische Wirtschaft wieder auf die Beine kommt noch irgendeine Aussicht auf Rückzahlung der griechischen Staatsschulden besteht. Auch für den Rest der Eurozone werden düstere Bilder gemalt, sollte es den Finanzmärkten gelingen, erstmals einen Staat aus dieser Währungsunion zu kippen. Spanien und Portugal stehen bereits am Abgrund, dort gibt es bereits heute andere, nicht weniger gravierende Probleme.

Mit einem Wahlsieg SYRIZAS könnte gelingen, was viele derzeit nicht mehr für möglich halten: Er könnte zu einem Politikwechsel in Europa führen. Eine Währungsunion ohne eine Ausgleichsunion ist schlechterdings unmöglich. Ein Weg aus der Rezession ohne umfassende Investitionen, auch und gerade zunächst schuldenfinanziert, ist der Versuch der Quadratur des Kreises. Und das Schließen der Einkommensschere in Europa ohne vernünftige Besteuerung hoher Einkommen und Gewinne ist ein vielfach »bewährtes« Instrument.

Es bleibt also zu hoffen, dass in Griechenland, anders als in Irland, nicht die Angst über die Wut siegt und mit SYRIZA ein neuer Weg eingeschlagen wird, der Modell stehen könnte auch für den Rest Europas.

** Frank Puskarev ist Büroleiter des Europa-Abgeordneten Thoma Frank Puskarev ist Büroleiter des Europa-Abgeordneten Thomas Händel und Referent für europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Beide Beiträge aus: neues deutschland, Samstag 9. Juni 2012 (Europabeilage)



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