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Risse im System werden tiefer

Jahresrückblick 2012. Heute: Griechenland. Das dritte Jahr unter dem europäischen "Rettungsschirm"

Von Heike Schrader, Athen *

Der immer wieder versprochene Aufschwung in Griechenland läßt weiter auf sich warten. Tatsächlich schrumpfte das griechischen Bruttoinlandsprodukt wie bereits im Vorjahr um etwa sieben Prozent, die Arbeitslosigkeit kletterte auf den historischen Höchststand von 24,8 Prozent im September. Tendenz weiter steigend. Trotz solcher Horrorergebnisse für die Menschen setzte die Gläubigertroika aus EU, Internationalem Währungsfonds (IWF) und Europäischer Zentralbank (EZB) gemeinsam mit den Herrschenden im Lande auch im dritten Jahr ihre asoziale Umverteilungspolitik zugunsten von Kapital und Finanzmärkten fort. Im Namen der »Wettbewerbsförderung« wurden dabei 2012 insbesondere die in jahrzehntelangem Klassenkampf gewonnenen Errungenschaften der griechischen Lohnabhängigen zerschlagen. So wurde der Mindestlohn nicht nur per Gesetz um satte 20 Prozent von etwas über 700 auf 586 Euro Brutto im Monat gekürzt, sondern gleich noch die Tarifautonomie begraben. Anstelle von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden entscheidet nun die Regierung über die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns. Branchentarifverträge können durch Werkstarife oder Individualverträge unterlaufen werden. Ebenfalls per Gesetz wurden die gesetzlichen Abfindungen und Kündigungsfristen derart reduziert, daß von Kündigungsschutz keine Rede mehr sein kann. Die so erzielte Reduzierung der Lohn- und Lohnnebenkosten von über 15 Prozent hat allerdings nicht zu der lautstark versprochenen Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern nur zur schamhaft verschwiegenen Steigerung der Kapitalrendite geführt.

Gleichzeitig flossen auch 2012 wieder Kredite in insgesamt dreistelliger Milliardenhöhe aus den Tresoren der EZB sowie der Zentralbanken Deutschlands, Frankreichs und Belgiens und des IWF an »die Griechen«. Das jedenfalls wurde den Lohnabhängigen der anderen EU-Ländern erzählt, um jede Solidarität mit den Griechen, »die in Not geraten sind, weil sie jahrelang über die Verhältnisse gelebt haben«, zu verhindern. In Wahrheit ist bisher nicht einmal eine einzige Milliarde Euro tatsächlich bei den arbeitslosen, unbezahlt schuftenden oder von einer gekürzten Hungerrente überlebenden Millionen Menschen in Griechenland angekommen. Die »großzügigen Hilfsleistungen« der »Partner« in EU und IWF dienten vielmehr fast ausschließlich der fristgerechten Begleichung griechischer Altschulden an dieselben Gläubiger sowie der auch in Griechenland zur heiligen Kuh verklärten Bankenrettung. Beim triumphal selbstbeweihräucherten Schuldenschnitt im März dagegen wurden vorrangig bei den zur Haltung von Staatsobligationen verpflichteten griechischen Sozialversicherungskassen die Hälfte ihrer Rücklagen vernichtet.

Angesichts des ungebrochenen Widerstands der Bevölkerung gegen diese Politik setzt der Staat immer offener auf brutale Repression. Fast jede der zahlreichen Massendemonstration vor dem Parlament wurde von der Polizei mit dem flächendeckenden Einsatz von Tränengas aufgelöst, erstmalig kamen dabei in diesem Jahr auch die bereits 2011 erstandenen Wasserwerfer sowie in Nordgriechenland Gummigeschosse zum Einsatz. »Vorbeugende Ingewahrsamnahmen« und die Festnahme angeblicher Militanter im Anschluß an Demonstrationen gehörten in diesem Jahr ebenso zum Standardrepertoire der Kriegsführung im Inneren wie die weiträumige Schließung der Metrostationen in der griechischen Innenstadt bereits Stunden vor dem Beginn der Kundgebungen.

Im Bewußtsein der Bevölkerung hat sich diese Strategie der Terrorisierung jedoch als Bumerang herausgestellt. Zwar nahmen 2012 im Schnitt weniger Menschen als in den vergangenen beiden Krisenahren an den Demonstrationen teil. Die Zehntausenden aber, die trotz aller Einschüchterung durch Polizeigewalt und drohendem Arbeitsplatzverlust ihren Protest bei Großdemonstrationen und Generalstreiks auf die Straße trugen, waren entschlossener und vorbereiteter als noch im letzten Jahr. Niemand bringt mehr kleine Kinder auf die Demonstrationen mit, statt dessen haben nun fast alle einfache Schutzmasken und Gesichtsspülungen gegen das Tränengas dabei. Angriffe der Polizei wurden in diesem Jahr durchgängig mit wütenden Parolen und geordnetem Rückzug beantwortet, in vielen Fällen strömten die Menschen nach kurzer Pause wieder und wieder auf den von der Polizei gerade geräumten Platz vor dem Parlament zurück. Oder sie harrten in den Straßen drumherum aus. So am 12. Februar, als Hunderttausende bis tief in die Nacht gegen die Verabschiedung eines weiteren Maßnahmenpaketes demonstrierten. Viele von ihnen schützten dabei bereitwillig die mehreren tausend Militanten, die sich in dieser Nacht Straßenschlachten mit der Polizei lieferten oder für sie den Staat symbolisierende Gebäude und Autos in Brand setzten.

Nicht die fünf teilweise zweitägigen Generalstreiks, sondern die schier unüberschaubare Menge an Branchen- und Einzelbetriebsstreiks bildeten diese Jahr die Spitze des gewerkschaftlichen Widerstands gegen die Kürzungspolitik. Internationale Solidarität wurde dabei vor allem dem über neun Monate gegen Lohnkürzungen und Entlassungen geführten Ausstand der Arbeiter der Griechischen Stahlwerke zuteil. Letztendlich konnte dieser allerdings weder die Kürzungen verhindern, noch die Wiedereinstellung der entlassenen Kollegen erreichen. Auch der im November mit Streiks und der Besetzung von Rathäusern begonnene und ins neue Jahr hineingetragene Widerstand der staatlichen Angestellten gegen Massenentlassungen im öffentlichen Dienst hat bisher noch keinen unmittelbaren Sieg erringen können. Dasselbe gilt für die überwiegende Mehrheit der von den diversen Berufsgruppen geführten Kämpfe gegen die über sie verhängte drastische Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Die Betonwand der Gegner aus Kapital, Regierung und Troika scheint unüberwindbar.

Doch die in drei Jahren Widerstand erzeugten Risse in dieser Wand sind 2012 kräftig vertieft worden. Bereits im Februar dieses Jahres war die ursprünglich komfortable Regierungsmehrheit des eingesetzten Premiers Lukas Papadimos bei einer Abstimmung durch über 40 Abweichler an ihre Grenze gebracht worden. Aus den daraufhin ausgerufenen Neuwahlen ging erst im zweiten Anlauf eine Dreiparteienkoalition aus Nea Dimokratia, PASOK und sozialdemokratischer DIMAR hervor. Gleichzeitig gelang der Linksallianz SYRIZA ein kometenhafter Aufstieg zur stärksten Oppositionspartei, aktuelle Umfragen sehen in ihr die Gewinnerin zukünftiger Wahlen. Diese könnten in nicht allzu ferner Zukunft anstehen, da auch die ursprünglich 179 Sitze der neuen Regierungskoalition bereits auf wenig mehr als die Hälfte der 300 Sitze im Parlament zusammengeschrumpft sind.

Die Zukunft sieht dennoch nicht rosig aus. Für eine Alleinregierung werden die Kräfte von SYRIZA nicht reichen. Die von ihr favorisierte Koalitionspartnerin, die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE), lehnt jede Zusammenarbeit mit der von ihr als sozialdemokratische Systemverwalterin bezeichneten Linksallianz ab. Die bürgerlichen Parteien dagegen könnten angesichts der Drohung eines wie auch immer gearteten Versuchs einer griechischen Variante des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« eventuell sogar eine Koalition mit der faschistischen »Goldenen Morgendämmerung« ins Auge fassen. Diese war bei den Wahlen im Sommer erstmalig mit fast sieben Prozent und 18 Abgeordneten ins Parlament eingezogen und lag in den jüngsten Umfragen bereits im zweistelligen Prozentbereich.

* Aus: junge Welt, Freitag, 28. Dezember 2012


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