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Anklage in Abwesenheit

Georgiens Expräsident soll sich wegen Amtsmißbrauch verantworten. Aber in den USA lebt er ziemlich sicher

Von Knut Mellenthin *

Die georgische Justiz hat zum ersten Mal Anklage gegen das frühere Staatsoberhaupt Michail Saakaschwili erhoben. Gefahr droht dem Liebling westlicher Regierungen und Medien jedoch nicht: Der einstige »jüngste Präsident Europas«, der mittlerweile 46 ist, lebt seit seinem Abschied aus dem Amt im November 2013 in New York und hat als Dozent an der Fletcher School in Massa­chusetts ein fast müheloses Einkommen. Mehr als drei bis vier Auftritte pro Semester werden von ihm nicht erwartet. Er verfügt daher über reichlich Freizeit, um sich oft in Kiew aufzuhalten und dem dortigen Regime gute Ratschläge für den Krieg gegen Teile seiner eigenen Bevölkerung zu geben.

Mit Krieg, zumal wenn dabei »der russische Bär gereizt« werden soll, kennt Saakaschwili sich aus: Am 7. August 2008, eine halbe Stunde vor Mitternacht, ließ er seine Streitkräfte zum Sturm auf die seit 1992 de facto unabhängige Republik Südossetien antreten. Das Abenteuer endete, völlig voraussehbar, mit einem militärischen Eingreifen Rußlands und einer totalen Niederlage Georgiens innerhalb weniger Tage. Moskau erkannte sowohl Südossetien als auch Abchasien an – ein Schritt, den die russische Politik lange zu vermeiden versucht hatte – und schob damit allen georgischen Rückeroberungsträumen einen Riegel vor.

Irgendwann könnte auch dieses Thema vor Gericht verhandelt werden. Aber darum geht es zumindest jetzt noch nicht. Die am Montag bekannt gemachte Anklage der Staatsanwaltschaft in Tbilissi bezieht sich nur auf das »Überschreiten von Amtsbefugnissen«. Da Saakaschwili diese Tat mehrmals begangen haben soll und dabei Gewaltanwendung mit im Spiel war, sieht das Gesetz immerhin eine Haftstrafe von fünf bis acht Jahren vor.

Zwei Vorgänge sind es, die jetzt zur Diskussion stehen. Da ist zum einen ein brutaler Einsatz der Sicherheitskräfte, mit dem die damalige georgische Führung am 7. November 2007 mehrtägige Protestkundgebungen der Opposition gewaltsam beenden ließ. Der zweite Punkt bezieht sich in Zusammenhang damit auf eine Polizeiaktion gegen den Oppositionssender Imedi TV, die zu dessen wochenlanger Stillegung führte. Auch die Umstände, unter denen Saakaschwili einige Monate später einen Besitzerwechsel des Senders erzwang, sind Gegenstand der Anklage.

Mitangeklagt sind der damalige Innenminister Wano Merabischwili, der damalige Oberstaatsanwalt Surab Adeischwili, der damalige Verteidigungsminister Davit Keseraschwili und der damalige Bürgermeister von Tbilissi, Gigi Ugulawa. Merabischwili und Ugulawa befinden sich schon wegen anderer Vorwürfe im Gefängnis. Gegen den in Frankreich lebenden Keseraschwili liegt ein Haftbefehl vor, doch verweigert die dortige Justiz seine Auslieferung.

Die georgische Staatsanwaltschaft kündigte am Montag an, daß die Ermittlungen gegen Saakaschwili in weiteren Fällen kurz vor dem Abschluß stünden. Worum es dabei geht, wurde nicht mitgeteilt. Der Expräsident hatte zuvor zwei Vorladungen, zur Vernehmung als Zeuge nach Tbilissi zu kommen oder sich im Ausland per Video-Verbindung befragen zu lassen, abgelehnt. Er vertraut auf seine Freunde und hat Grund zur Zuversicht: Gleich nach Bekanntwerden der Anklage veröffentlichten vier US-Senatoren, unter ihnen der ewige Hardliner John ­McCain, eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie ihre »extreme Enttäuschung und Sorge« bekundeten und mit Konsequenzen für die Beziehungen der USA zu Georgien drohten.

* Aus: junge Welt, Mittwoch 30. Juli 2014


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