Wenn Konflikte gefrieren
Beobachtungen und Gespräche an den Grenzen Abchasiens und Südossetiens
Von André Widmer, Tbilissi *
Kaxa Dzvelaia, seine Frau Ia und
die beiden Töchter Nino und Tamta
warten darauf, mit dem Pferdewagen
ans andere Flussufer gebracht
zu werden. Hier an der Enguri-
Brücke befindet sich einer von
vier zivilen Übergängen an der
»administrativen Grenzlinie« zwischen
Georgien und Abchasien.
Die Familie Dzvelaia lebt derzeit
noch getrennt – der Vater auf abchasischer
Seite, Frau und Töchter
in Georgien. Gerade kommt die
Familie für ein paar Tage zu Besuch.
Die Verhältnisse sollen sich
aber bald ändern. »Ich möchte das
Haus in Abchasien veräußern,
aber es findet sich kein Käufer«,
erzählt Kaxa Dvelaia. Das Leben in
Georgien sei günstiger, zudem seien
die Zukunftschancen dort ganz
einfach besser.
»Wir sollen uns nicht provozieren lassen«
Abchasien hatte sich 1991 im Zuge
des Zusammenbruchs der Sowjetunion
von Georgien losgesagt.
Schon 1992/93 wütete ein blutiger
Krieg, der 250 000 Georgier aus
Abchasien zur Flucht trieb. 2008,
als Georgien und Russland um
Südossetien, die andere abtrünnige
Provinz, einen Kurzkrieg führten,
tobten zwar um Abchasien
keine ausgedehnten Kämpfe, doch
einzelne Zusammenstöße mit Todesopfern
gab es, zeitweilig drangen
russische Einheiten auch ins
georgische Kernland ein. Danach
anerkannte Russland Abchasien
und Südossetien als unabhängig,
vier weitere Staaten folgten. Für
die übrige Staatenwelt gehören
Abchasien und Südossetien nach
wie vor zu Georgien. Deren Grenzregime
steht indes unter Kontrolle
der Schutzmacht Russland.
Im Norden ist die abchasische
Grenze aufgrund der Topografie
schwer zugänglich. Mit den vier
kontrollierten Übergängen und
einem im Ausbau befindlichen
System aus Dämmen und Gräben
gelingt es abchasischen und russischen
Grenzern immer besser,
den Grenzverkehr im Südteil zu
kanalisieren. So kommt es auch
immer seltener zu Vorfällen, zu
unerlaubten Übertritten. Keiner
der anderen Übergänge wird so
häufig genutzt wie die Brücke über
den Enguri (russ. Inguri). In
Khurchia, wo eine baufällige kleine
Fußgängerbrücke steht, geht
bei unserem Besuch kein Mensch
auf die abchasische Seite, an
manchen Tagen gibt es nur zwei
Passanten. Anders, wenn die
Renten in Georgien ausgezahlt
werden: Da sei ein Kommen und
Gehen, erzählt eine Frau, die in
der Imbissbude an der Brücke arbeitet.
In Orsantia wiederum zähle
man täglich 50 bis 70 Personen,
sagt ein georgischer Polizist, der
an einem getarnten Posten in der
Nähe steht: »Wir haben hier keine
Vorkommnisse. Und wenn etwas
passiert, sind wir angehalten, uns
nicht einzumischen und provozieren
zu lassen.«
Nicht nur, aber auch weil die
Russen auf der anderen Seite die
Ruhe bewahren, kommt es an der
abchasischen wie an der südossetischen
Grenze nicht zu bewaffneten
Auseinandersetzungen. 2009
bereits zogen UNO und OSZE ihre
Beobachtermissionen ab. Als einzige
internationale Institution ist
die EU vor Ort. Die European Union
Monitoring Mission (EUMM) mit
200 unbewaffneten Beobachtern
darf die »administrative
Grenzlinie« nur von der georgischen Seite aus kontrollieren.
Das georgische Militär und die
Polizei sind an der Grenze zu
Südossetien nur leicht bewaffnet. Sie verhalten sich unauffällig. Ohnehin darf das georgische Militär nur in Bataillonsstärke
(500 Mann) unweit der
Grenze stationiert sein. Die EUMM
kontrolliert das. In erster Linie obliegt
es ihr aber, die Grenzlinie zu
beobachten und für Vertrauen bei
der Bevölkerung zu sorgen, die
tagtäglich mit den schwierigen
Verhältnissen konfrontiert ist.
Die Grenzanlagen auf der südossetischen
Seite werden seit einigen
Monaten von den russischen
Truppen massiv ausgebaut. »Allein
in diesem Jahr wurde rund die
Hälfte der bestehenden Befestigungen
errichtet«, erklärt Florentin
Dumitru Dicu, Vizechef des
EUMM-Postens in Gori.
Kühe fragen nicht nach dem Grenzverlauf
Auf mittlerweile 25 Kilometern
wurden Stacheldraht, Zäune oder
andere Schutzvorrichtungen installiert.
Zchinwali, Südossetiens
Hauptstadt und 2008 Zentrum der
Kämpfe zwischen russischen und
georgischen Einheiten, wird besonders
stark gesichert. Ein Blick
durch den Feldstecher bestätigt die
Existenz eines neuen Damms, von
Zäunen und Überwachungskameras
südlich der Stadt, deren Grenze
dort zugleich die Grenzlinie zu Georgien
bildet. Noch immer sind
Gebäude mit großen Einschusslöchern
zu sehen. Am Nordrand
Zchinwalis befindet sich der russische
Armeestützpunkt. In Südossetien
wie in Abchasien sollen je
3500 russische Soldaten stationiert
sein. 2011 wurden Verträge mit
einer Laufzeit von 49 Jahren für
den Betrieb der Armeestützpunkte
geschlossen.
Der Ausbau der Grenzbefestigungen,
die straffe Organisation
des Grenzverkehrs, aber auch die
zunehmende Integration der
Flüchtlinge in Georgien bewirken,
dass vollendete Tatsachen geschaffen
werden. Die Konflikte
frieren zusehends ein. Verhandlungen
von Diplomaten, die »Genfer
Gespräche«, haben nicht zu
zählbaren Ergebnissen geführt.
Auch wenn in der Realität schon
praktiziert, hat man sich noch
nicht einmal auf den Verzicht auf
Waffengewalt geeinigt. Georgien
besteht auf seiner territorialen Integrität,
Russland auf der Unabhängigkeit
Abchasiens und Südossetiens.
Dort, wo die faktische Grenze
im Grünen verläuft, kommt es nach
südossetisch-russischer Wahrnehmung
immer wieder zu »illegalen
« Grenzübertritten. Sergej
Kolbin, Generalmajor und Vizechef
der Grenzbehörden in Südossetien,
bestätigte gegenüber der Webseite
osinform eine starke Zunahme
solcher Vorfälle. Allein 100
Personen wurden dieses Jahr
schon festgenommen. »Alle Festgenommenen
werden zum KGB
Südossetiens gebracht. Dann legen
wir fest, ob sie administrativ oder
strafrechtlich belangt werden«,
sagte Kolbin. Bei den Festgenommenen
handelt es sich bisweilen
um georgische Bauern, die ihr
Vieh, das die grüne Grenze überschritten
hat, zurückholen wollen.
Oft werden diese Leute mehrere
Tage in Zchinwali festgehalten und
nur gegen ein Entgelt von 2000 bis
5000 Rubel – zwischen 80 und 200
Euro – wieder freigelassen.
Die Grenzlinie beeinträchtigt
das tägliche Leben der Zivilbevölkerung
erheblich. Die EUMM-Beobachter
wissen das. Landwirtschaftlich
genutzte Felder und
Wiesen werden von der Grenze
zerschnitten. Auch kommt es vor,
dass Bewässerungsleitungen gekappt
werden. Fälle wie das kleine
Dorf Dvani, wo der Grenzzaun um
30 Meter auf südossetisches Gebiet
zurückversetzt wurde, um einem
georgischen Bauern die Bewirtschaftung
seines Landes zu
ermöglichen, sind Ausnahmen.
Privater Grenzverkehr ist hier,
anders als zu Abchasien, fast inexistent.
Der russisch-georgische Krieg
2008 tobte vor allem in und um
Südossetien. Etwa 850 Personen
starben in den Gefechten. Der
Krieg sorgte auch für die bisher
letzte größere Flüchtlingswelle:
Etwa 30 000 Personen flohen ins
georgische Kernland, so wie Jahre
zuvor die 250 000 aus Abchasien.
Erst seit einigen Jahren widmet
Georgiens Regierung den Flüchtlingen
größere Aufmerksamkeit,
bestätigt Tina Gewis vom Norwegischen
Flüchtlingsrat, der seit
1994 in Georgien tätig ist. »Bis
2003 existierte diesbezüglich fast
nichts, da die Strukturen dafür
fehlten. Schlecht ging es allen Georgiern,
nicht nur den Flüchtlingen.
« Aber die Geflohenen seien
auch als politische Karte gegen
Russland benutzt worden. Mit der
Überführung der Unterkünfte in
den privaten Besitz der Flüchtlinge
habe sich deren Integration langsam,
aber spürbar verbessert.
Nach dem Krieg 2008 habe die internationale
Staatengemeinschaft
schnell reagiert, zwischen Tbilissi
und Gori und in dessen Umgebung
wurden große Flüchtlingssiedlungen
aus dem Boden gestampft.
Dennoch: Viele dieser Siedlungen
liegen abseits der alten Dörfer, die
sanitäre Versorgung lässt zu wünschen
übrig. Tina Gewis weist
deshalb darauf hin, dass die Qualität
der Unterkünfte wichtiger sei
als die Besitzverhältnisse.
Wasser fließt für Flüchtlinge nur sporadisch
In einer solchen Siedlung außerhalb
Goris lebt Galina Kelekhsaeva
mit Mann, Tochter und Enkelkindern.
Sie stammt aus einem Dorf in
der Nähe von Zchinwali. Als es zu
Bombardierungen kam, floh die
Familie. Ihr Haus wurde im Krieg
niedergebrannt. Zunächst einige
Monate in Tbilissi untergebracht,
bezogen die Kelekhsaevs schon
Anfang 2009 ihre jetzige Unterkunft.
»Anfangs hatten wir jedoch kein Wasser, keinen Strom, keine sanitären Anlagen«, erzählt Galina. Auch jetzt fließt das Wasser nur sporadisch, manchmal ist es salzig und für den Selbstversorgergarten ungeeignet. Vor dem Krieg Lehrerin, ist sie jetzt arbeitslos wie ihr Mann, früher Bauer. Vom Staat fühlen sie sich etwas vergessen.
Nur Organisationen wie das »Humanitäre
Wohltätigkeitszentrum Abhkazeti« gewähren beispielsweise
zinslose Darlehen und unterstützen
die Flüchtlinge dabei, eigene Kleinstunternehmen zu betreiben.
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 8. August 2013
Moskau hört die Signale
Normalisierung ist möglich, wenn ...
Von Irina Wolkowa, Moskau **
Moskau nehme Signale aus Tbilissi
zur Kenntnis, die auf die Normalisierung
der Beziehungen zwischen
Russland und Georgien gerichtet
sind. Das sagte Ministerpräsident
Dmitri Medwedjew vor dem Jahrestag
des Kaukasuskrieges im Interview
für den georgischen Fernsehsender
Rustawi-2. Medwedjew
hatte 2008 als Präsident und
Oberbefehlshaber russische Truppen
in Marsch gesetzt, um Südossetiens
Selbstverteidigungskräfte
bei der »Abwehr der georgischen
Aggression« zu unterstützen.
Georgiens Präsident Michail
Saakaschwili hatte seinerzeit die
Wiederherstellung der territorialen
Integrität Georgiens zum ersten
Ziel proklamiert. In der Nacht zum
8. August ließ er seinen Worten
Taten folgen. Ein später veröffentlichter
OSZE-Bericht schrieb Saakaschwili
die Hauptschuld für den
Waffengang zu. Georgische Truppen
hätten die Grenze zuerst
überschritten.
Hintergrund waren nicht nur
georgische Integritätsansprüche
oder verletzte Autonomierechte
von Osseten und Abchasen. Vielmehr
war es auch ein Konflikt
zwischen den Großmächten.
Russland nahm Georgien den proamerikanischen
Kurs nach der Rosenrevolution 2003 übel und
fürchtete die Ausbreitung der
NATO an seiner Südflanke. Die
USA unterstützten Saakaschwili,
obwohl der sich in Sachen Demokratie
und Menschenrechte längst
als Rohrkrepierer erwiesen hatte.
Sie betrachteten Georgien als strategische
Basis im Südkaukasus
und als Einfallstor in die öl- und
gasreiche Kaspi-Region.
Heute hat Russland zwar mehr
oder minder das Sagen in den von
Georgien abtrünnigen Regionen,
doch Tbilissi betrachtet sie weiter
als Teil seines Staatsgebiets und
wird darin vom Westen unterstützt.
Obwohl seit den Parlamentswahlen
2012 in Tbilissi eine
Regierung am Ruder ist, die die
Normalisierung der Beziehungen
zu Russland zur Priorität erklärt
hat, bleibt die Integration des Landes
in westeuropäische Strukturen
Georgiens Fernziel.
Chancen für eine Normalisierung
gebe es immer, sagte Medwedjew
in seinem Interview. Auch
Präsident Wladimir Putin würdigte
einschlägige Bemühungen Georgiens
mehrfach und ging auf wirtschaftlichem
Gebiet sogar in Vorleistung.
Ausgewählte georgische
Weine – sie gehören zu den wichtigsten
Exportgütern der Republik
– kehrten in russische Supermärkte
zurück. Moskau hatte die Einfuhr
2006 gestoppt und auch die
direkte Flugverbindung nach Tbilissi
gekappt. Moskau, so Medwedjew
jetzt, sei auch zur Wiederaufnahme
der diplomatischen Beziehungen
bereit, Tbilissi müsse
jedoch »die Ereignisse von August
2008 als Tatsache anerkennen«.
** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 8. August 2013
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