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Der Westen verschließt die Augen vor dem Wahlbetrug in Georgien

Von Jelena Schesternina *

Georgiens Wahlkommission hat die vorläufigen Ergebnisse der Präsidentschaftswahl bekannt gegeben.

Michail Saakaschwili kam auf 52,21 Prozent der Stimmen, für Oppositionsführer Lewan Gatschetschiladse stimmten 25,6 Prozent. An dritter Stelle steht, wenn man den offiziellen Angaben glaubt, Badri Patarkazischwili mit 6,99 Prozent. Die Opposition erkennt diese Ergebnisse nicht an, verlangt nach einer erneuten Auszählung und spricht von zahlreichen Verstößen und Fälschungen sowie der Einflussnahme der Behörden. Saakaschwilis Gegner haben vor, die Wahrheit durch Protestaktionen zu erkämpfen: Sie gaben den Beginn eines Hungerstreiks bekannt und planen neue Kundgebungen unter der Parole "Georgien ohne Saakaschwili!". Doch selbst wenn die "Straßenmethoden" nicht wirken, hat die Opposition noch eine letzte Chance, den Staatschef auf legitimem Weg um die Macht zu bringen.

Es ist so, dass gleichzeitig mit der Präsidentschaftswahl über zwei weitere Fragen abgestimmt wurde: Georgiens NATO-Beitritt und das Datum der Parlamentswahl. Gerade die zweite Frage hatte die politische Krise ausgelöst, die im Herbst begann und mit der Neuwahl des Staatschefs endete. Saakaschwili wollte die Parlamentswahl im Herbst 2008 bis Winter 2009 durchführen, angeblich "um Haushaltsmittel zu sparen". Die Opposition bestand auf der Einhaltung der verfassungsmäßigen Frist: Frühjahr 2008. Mit dieser Forderung zogen die Menschen im November auf die Straße. Wie das endete, wissen alle noch recht gut: mit der Auflösung der Demonstrationen unter Einsatz von Tränengas, Knüppeln und Gummigeschossen.

Zwar sind die Ergebnisse über den Termin der Parlamentswahl noch nicht bekannt gegeben, aber nach Angaben selbst der offiziellen, im Auftrag der regierungstreuen TV-Sender durchgeführten Umfragen zu urteilen, werden sie im Frühjahr stattfinden. Die Opposition rechnet damit, die Mehrheit zu bekommen und im Parlament eine Verfassungsreform zu verwirklichen, um die Vollmachten des Präsidenten wesentlich einzuschränken und Georgien faktisch in eine parlamentarische Republik umzuwandeln. Etwas anderes ist, ob Saakaschwili das hinnehmen wird. Wenn es ihm gelungen ist, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl zu fälschen (dass gefälscht wurde, daran zweifelt niemand - höchstens die OSZE-Beobachter), warum sollte er es bei der Wahl der Volksabgeordneten nicht erneut mit einem solchen "Karussell" versuchen?

Als "Karussell" bezeichnet man in Georgien das Hauptverfahren, das die Behörden, wie behauptet wird, am 5. Januar zur Wahlfälschung nutzten. Die Menschen werden in Bussen zu mehreren Wahllokalen gefahren, damit sie mehrmals "nach allen Regeln" abstimmten - zumal es mehr als genug Möglichkeiten dazu gab. In Georgien existieren bis jetzt keine mehr oder weniger genauen Listen der Wahlberechtigten: Im ganzen Lande sind etwa 3,4 Millionen Wahlberechtigte registriert, in Wirklichkeit beträgt ihre Zahl etwas mehr als die Hälfte davon.

Wie Fälschungen theoretisch angestellt werden können, hatte ich in einem Wahllokal im Zentrum von Tiflis gesehen. Die Listen enthalten rund 1200 Personen. Doch jeder, der will, kann abstimmen: Es genügt, zu kommen und den entsprechenden Wunsch zu äußern. Der Name wird in die Liste eingetragen, man bekommt einen "Sonderumschlag" für die Abstimmung. Der "Sonderumschlag" (rot wie die Wahlsymbole von Saakaschwili, der Nummer 5 in der Kandidatenliste) kommt in die gemeinsame Urne. In dem Lokal, in welchem ich die "freie Willensäußerung der Georgier" beobachten durfte, machten die roten Umschläge beinahe die Hälfte aus. Wer gibt die Garantie, dass sich der Wähler nach der Abstimmung nicht ins nächste Wahllokal geht? Nur eine spezielle Markierung an der Hand?

Rot ist in diesem Winter die Farbe der georgischen Hauptstadt. Saakaschwilis Anhänger bekommen direkt in den Straßen die Symbole: Mützen und Schals mit Nr. 5 (lauter nützliche Dinge: In Tiflis schneit es und ist es sehr kalt). Auf Schritt und Tritt sieht man Plakate mit den Fotos des Führers der "Rosenrevolution", der von der Bevölkerung umgeben ist: Saakaschwili mit Kindern, Saakaschwili mit alten Leuten. In den Linienbussen darf man das gleiche Gesicht bewundern. "Gestern habe ich den Wagen in die Garage gefahren, am Morgen komme ich und sehe: Jemand hat mir das hier angeklebt", sagt ein Taxifahrer und zeigt auf den Aufruf, für die Nr. 5 zu stimmen. "Was kann ich tun? Wenn ich es abschrubbe, werde ich entlassen. Und so muss ich für Mischa agitieren. Der Kuckuck soll ihn holen!"

Man findet in Tiflis schwer einen Menschen, der für den ehemaligen (und offenbar künftigen) Präsidenten abgestimmt hätte. Jedermann hat mit dem Führer der Nation ein Hühnchen zu rupfen. Bei dem einen wurde ein Verwandter inhaftiert (wie die Opposition behauptet, gab es beim Machtantritt Saakaschwilis 5000 Häftlinge, gegenwärtig beträgt ihre Zahl über 20 000). Ein anderer hat die Arbeit verloren - die Arbeitslosigkeit in Georgien schlägt alle Rekorde. Und dann kam auch noch die gewaltsame Niederschlagung der Kundgebung vom 7. November durch die Sondertrupps hinzu.

Alle administrativen Ressourcen wurden eingesetzt, damit der Präsident siegte. Es war Saakaschwilis sehnlichster Wunsch, wenn nicht seinen Erfolg von 2004 zu wiederholen (damals erhielt er 95 Prozent der Stimmen), so doch wenigstens 60 bis 70 Prozent auf sich zu vereinigen. Natürlich reichen die 52 Prozent auch (wieviel davon real sind, darüber lässt sich nur raten), um in der ersten Runde zu siegen. Aber trotzdem machen sie nur die Hälfte der Wähler aus. Saakaschwili aber möchte nichts so sehr als der Vater der ganzen georgischen Nation zu sein.

Er versuchte, die Menschen mit dem vor jeder Wahl üblichen Trick - durch Erhöhung der Gehälter für Staatsangestellte und der Renten - zu kaufen. Das erwies sich als nicht sehr wirksam, ebenso wie das Ausspielen der "abchasischen Karte": Beinahe rund um die Uhr berichtete der Fernsehkanal "Rustawi-2", dass die russischen Friedenstruppen die in Abchasien lebenden Georgier daran gehindert hätten, "die Verwaltungsgrenze zu überqueren, um an der Abstimmung teilzunehmen". Auch die ständige Präsenz von Saakaschwili in dem völlig unter seiner Kontrolle stehenden Fernsehen (eine Ausnahme bildet nur der Kanal "Kawkassija", der nur für Tiflis sendet) brachte nicht viel. Am 4. Januar, als in Georgien bereits der Wahlkampf ruhte und jede politische Agitation verboten war, wurde Saakaschwilis Rede vor seinen Anhängern, die im Sportpalast die Nationalflaggen schwenkten, beinahe 30 Minuten lang auf allen Kanälen gleichzeitig gesendet. Und ein paar Stunden nach der Schließung der Wahllokale, als noch nicht einmal die ersten Ergebnisse vorlagen, feierte Saakaschwili in der Philharmonie bereits seinen Sieg. Das Konzert begann mit der neuen Hymne, die den Titel "Mischa der Coole" trägt.

Offenbar beschloss Saakaschwili, dass die beste Methode zur Beruhigung des Volkes eine Festveranstaltung sei. In der Nacht nach der Wahl zogen durch die Straßen die offenkundig organisierten, mit georgischen Fahnen geschmückten Autokolonnen. Zum Feiern auf der Straße war es zu kalt. Auch gefährlich: Anhänger der Opposition hätten das falsch verstehen können. Die Georgier sind aber ein heißblütiges Volk.

Die Opposition versichert, dass Saakaschwilis Wahlkampf den Staatshaushalt eine Milliarde Dollar gekostet hat. Das sind natürlich inoffizielle Angaben und wahrscheinlich sind sie zu hoch veranschlagt, doch Fakt bleibt Fakt: Die Nutzung der administrativen Ressource und die unverhohlenen Fälschungen, die die Opposition jetzt vor Gericht anficht, haben das Ihre getan. Saakaschwili hat die Macht behalten - vorläufig.

Bemerkt sei, dass die Opposition auf solche Ergebnisse gefasst war, ja sich gewissermaßen mit ihrer Niederlage abgefunden hat. Einen Tag vor der Abstimmung sagte der Führer der vereinigten Opposition Lewan Gatschetschiladse (parteilos) auf meine Frage nach einer Prognose der offiziellen Ergebnisse voraus, dass Saakaschwili in der ersten Runde siegen werde. "Nach dem 7. November, als Blut vergossen wurde, kann in Georgien von Demokratie überhaupt keine Rede sein. Im Land gehen offenkundige antidemokratische Prozesse vor, wir haben keinen Zugang zum Fernsehen, keine Möglichkeit, unsere Wahlwerbung in den Straßen anzubringen. Unsere Anhänger werden terrorisiert und inhaftiert. Wir haben keine Vertreter in den Wahlkreisen der Rayons und können die Fälschungen auf dieser Ebene nicht kontrollieren", erzählte der führende Oppositionelle. Er sagte auch die OSZE-Reaktion vorher: "Vor Beginn der 'Rosenrevolution' redeten die Beobachter ebenfalls vom demokratischen Charakter der Wahlen." Gatschetschiladse zufolge heißt es jetzt vor allem, den starken Präsidenten zu beseitigen, "damit in Georgien nicht endgültig eine Diktatur errichtet wird".

Saakaschwilis Sieg könnte in einen Pyrrhussieg umschlagen. Die Georgier sind ein stolzes Volk. Die Ereignisse vom 7. November haben sie Saakaschwili nicht verziehen, und das weiß der Präsident, der besser als sonst jemand über die realen Wahlergebnisse informiert ist, ausgezeichnet. Auch die Ereignisse vom 5. Januar werden sie ihm wohl kaum verzeihen. Die Opposition ist erneut bereit, auf die Straße zu gehen. Selbst wenn sich das Szenario vom Herbst wiederholen sollte. Allerdings wird nicht geglaubt, dass sich die Behörden auch diesmal zu "Kampfhandlungen" gegen das eigene Volk entschließen. Zumal der Westen zuerst nach der Auflösung der November-Demonstrationen und dann nach der Anerkennung der Wahl, die "den internationalen Normen entsprechen", Saakaschwili genau zu verstehen gegeben hat, wo die noch zulässige Grenze der georgischen Demokratie verläuft.

Die Meinung der Verfasserin muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 11. Januar 2008


OSZE-Chefbeobachter bestätigt: Wahl in Georgien war demokratisch

Der Chef des OSZE-Beobachterteams Dieter Boden hat bestätigt, dass die Präsidentschaftswahl in Georgien vom vergangenen Samstag (5. Jan.) demokratisch war.
Am Freitag (11. Jan.) wurde Boden ins georgische Außenministerium zitiert, um Erläuterungen zu seiner kritischen Äußerung zu den Wahlen zu geben, die am Donnerstag (10. Jan.) in der deutschen Presse veröffentlicht war. In einem Gespräch mit der "Frankfurter Rundschau" (Ausgabe vom 10. Jan.) hatte Boden gesagt, dass es "grobe, fahrlässige und vorsätzliche Fälschungen bei der Auszählung der Wahl" in Georgien gegeben habe, und dass die ursprünglichen positiven Feststellungen der Wahlkommission nicht zutreffend gewesen seien.
Im georgischen Außenministerium sagte Boden nun, dass der Journalist seine Aussage verdreht habe. Nach seinen Worten halten die OSZE-Beobachter an ihren früheren Feststellungen fest, teilte das Außenamt in Tiflis mit. Laut Boden wird die Beobachtermission der OSZE nächste Woche einen Zwischenbericht über die Präsidentenwahl veröffentlichen. Die endgültige Beurteilung sei erst im Februar zu erwarten.
(RIA Novosti, 11. Januar 2008)




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