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Durchmarsch der Regierungspartei

In Georgien gewinnt das Parteienbündnis von Präsident Michail Saakaschwili mehr als 70 Prozent

Am 28. März 2004 fanden in Georgien Parlamentswahlen statt. Dabei ging erwartungsgemäß das Bündnis aus der Nationalen Union und den Demokraten als klarer Wahlsieger hervor. Da eine Sieben-Prozent-Hürde bei der Wahl galt, konnten eine Reihe kleinerer Oppositionsparteien nicht ins Parlament einziehen. Den Sprung über die hoch gelegte Latte schaffte lediglich die neoliberale Industriellenpartei.
Im Folgenden informieren wir über die Wahl und das Wahlergebnis anhand von Pressemeldungen aus der Frankfurter Rundschau und der "jungen Welt" (beide vom 30. März 2004)



In der Frankfurter Rundschau schrieb Stefan Koch über den Sieg der "Rosenrevolutionäre" u.a.:

(...) Das Bündnis aus der Nationalen Union und den Demokraten vereinigte nach vorläufigen Ergebnissen mehr als 75 Prozent der Stimmen auf sich. Die Industriellenpartei zieht offenbar mit sieben Prozent als einzige Oppositionspartei in die Volksvertretung ein. Die anderen scheiterten bei der Wahl am Sonntag an der Sieben-Prozent-Hürde. Saakaschwili und Parlamentspräsidentin Nino Burdschanadse können sich nun auf eine absolute Mehrheit stützen.

(...) Die Wahlen galten als Abschluss eines turbulenten, aber friedlichen Umsturzes. Letztlich ging es um die Ausrichtung des Landes mit großer geostrategischer Bedeutung - denn wer in Tiflis herrscht, kann über einen zentralen Rohstoffkorridor mitentscheiden.

Nicht ohne Grund drängen sich russische und US-amerikanische Militärs, Geheimdienstler und Wirtschaftsexperten in dem zerklüfteten Landstrich. (...)

Ohne die Einmischung aus dem Ausland wäre es wohl nicht denkbar, dass sich die Teilrepubliken Abchasien, Süd-Ossetien und Adscharien fast vollständig von der Zentralmacht in Tiflis lossagen konnten. Während Abchasien und Süd-Ossetien seit Jahren der Kontrolle moskau-treuer Separatisten unterliegen, halten die Spannungen um Adscharien an. Der autoritäre Herrscher dieser muslimisch geprägten Provinz, Aslan Abaschidse, untersagte Saakaschwili in der vergangenen Woche die Einreise in sein Gebiet und provozierte damit um Haaresbreite eine militärische Auseinandersetzung. Dass am Sonntag trotz dieses Streits auch in Adscharien gewählt wurde, wird dem Verhandlungsgeschick der Parlamentspräsidentin Burdschanadse zugeschrieben, die um einen Ausgleich mit den Moskauer Interessen ernsthaft bemüht ist.

Wohin sich Georgien entwickelt, zeichnet sich seit Wochen ab. Saakaschwili kürte die bisherige französische Botschafterin in Georgien, Salome Surabischwili, zur Außenministerin. Surabischwilis Familie stammt aus Tiflis und flüchtete 1921 vor der Roten Armee. Die Diplomatin soll eine tiefe Skepsis gegen Moskau hegen. Auch die übrigen Minister sind sich offenbar über den Westkurs einig, allen voran der 28-jährige Wirtschaftsminister Irakli Rechwiaschwili, der zuvor bei der Weltbank tätig war. (...)

Aus: Frankfurter Rundschau, 30.03.2004

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Der folgende Beitrag in der "jungen Welt" (Autor: Knut Mellenthin) betont mehr die demokratisch anfechtbare hohe Sperrklausel und den dadurch bedingten "Durchmarsch" des Präsidenten. Dennoch wird es auch im nächsten Parlament eine Opposition geben. Warum das so ist, erklärt der Artikel:

Saakaschwili nach Wahl fast ohne Opposition

Die georgischen Parlamentswahlen am Sonntag haben den erwarteten großen Sieg von Präsident Michail Saakaschwilis Regierungspartei Nationale Bewegung – Demokraten gebracht. Zwar wird das amtliche Endergebnis erst am späten Montag abend (nach jW-Redaktionsschluß) erwartet, doch deuten Wählerbefragungen darauf hin, daß die Präsidentenpartei über 70 Prozent der Stimmen erhalten hat und wahrscheinlich keine der anderen Parteien den Sprung über die Sieben-Prozent-Hürde ins Parlament geschafft hat. Saakaschwili hatte die dringende Empfehlung des Europarats ausgeschlagen, die Sperrklausel auf höchstens fünf Prozent zu senken, um eine totale Majorisierung des Parlaments zu vermeiden.

Ungewiß war, ob das Wahlbündnis Neue Rechte – Industriepartei als zweite Partei ins Parlament einziehen wird. Diese Partei vertritt einflußreiche Unternehmerkreise und erfreut sich auch in den USA als potentielle Alternative zum zusehends ins Autokratische abgleitenden Präsidenten erheblicher Beachtung und wohl auch finanzieller Förderung.

Die linksoppositionelle Arbeitspartei liegt zwischen 4,4 und 6,1 Prozent. Die Union der Erneuerung, die Partei des Präsidenten der autonomen Republik Adschara, Aslan Abaschidse, soll zwischen 3,7 und 6,6 Prozent der Stimmen bekommen haben. Selbst wenn sich herausstellen sollte, daß außer der Präsidentenpartei alle anderen gescheitert sind, wäre das georgische Parlament doch nicht völlig ohne Opposition. Zu besetzen waren bei dieser Wahl lediglich 150 von 235 Sitzen. Die 75 bei der teilweise annullierten Wahl vom November 2003 vergebenen Direktmandate behalten ihre Gültigkeit. Saakaschwili meint, daß mindestens 45 dieser Abgeordneten der Opposition zuzurechnen seien. Hinzu kommen zehn Abgeordnete, die von der autonomen Republik Adschara gestellt werden. Die Präsidentenpartei dürfte aber, auch wenn die Neue Rechte/Industriepartei den Sprung geschafft haben sollten, über eine sichere Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügen.

Die offizielle Wahlbeteiligung war mit etwas über 60 Prozent deutlich niedriger als bei der Präsidentenwahl im Januar mit 83 Prozent. Tatsächlich beruhen beide Zahlen auf einer Verzerrung durch das georgische System der Wählerregistrierung. Mit rund 1,5 Millionen (Januar: 1,74 Millionen) gaben weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme ab.

Nach der Wahl steuert Saakaschwili offenbar auf eine neue Konfrontation mit Adschara zu. Er forderte noch in der Wahlnacht ultimativ die Entwaffnung der »lokalen paramilitärischen Milizen« und drohte, diese anderenfalls durch georgische Truppen vornehmen zu lassen.

Aus: junge Welt, 30.03.2004


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