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Hohe oder niedrige Wahlbeteiligung?

Georgien nach der Präsidentenwahl: Der Kampf beginnt erst

Am 4. Januar 2004 fand in Georgien eine Präsidentenwahl statt. Sie war notwendig geworden, nachdem im Dezember der Staatspräsident Schewardnadse dem Druck der Straße weichen musste (siehe unsere Chronik des Umsturzes).
Wie in Ländern des Umbruchs üblich, war der Wahlsieger bereits (selbst) proklamiert, bevor ein Wahlergebnis vorlag.
Wir dokumentieren im Folgenden ein paar Presseinformationen über die Wahl und ihre möglichen Folgen für das Land.


Die Agenturen berichteten am 6. Januar übereinstimmend Folgendes:

Obwohl die Wahlleitung in Tiflis bis Montagabend (5. Januar) kein endgültiges Ergebnis vorlegen konnte, würdigten internationale Wahlbeobachter die Abstimmung als großen Fortschritt für die Demokratie in Georgien.
Der 36-jährige Saakaschwili hatte nach Wählerbefragungen am Sonntag die Wahl zum Nachfolger von Eduard Schewardnadse mit mehr als 85 Prozent der Stimmen gewonnen. Nach den massiven Wahlfälschungen im November 2003, die Schewardnadse das Amt kosteten, ging die neu besetzte Wahlleitung äußerst vorsichtig vor.
Am Montagnachmittag teilte Wahlleiter Surab Tschiaberaschwili nur ein Teilergebnis nach Auszählung von 14 Prozent der Stimmen mit. In diesem Rahmen hatten allerdings 97 Prozent für Saakaschwili gestimmt. Die Wahlbeteiligung lag danach bei 83 Prozent.
"Unser wichtigster Regierungsauftrag besteht jetzt darin, die durch Korruption entstandenen großen Haushaltslöcher zu stopfen", sagte Saakaschwili in einem Interview. Er kündigte ein Gesetzespaket zur Bekämpfung der Korruption an. Georgien brauche eine enge Zusammenarbeit mit den USA, der Nato und der EU, betonte Saakaschwili. Gleichzeitig wolle er die gespannten Beziehungen zu Russland normalisieren, betonte aber: "Moskau sollte sich nicht zu sehr in unsere Angelegenheiten einmischen."

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Knut Mellenthin kann in seinem Artikel die allgemeine Euphorie über den großartigen Wahlsieg nicht ganz teilen. Auszüge aus seinem Kommentar, der sich vor allem kritisch mit der angeblich hohen Wahlbeteiligung befasst:

Am Sonntag wurde der neue georgische Präsident gewählt. Ein offizielles Endergebnis wird erst im Laufe der Woche vorliegen. Am haushohen Sieg des Führers der »Samtrevolution«, Michail Saakaschwili, bestand jedoch von vornherein kein Zweifel. Laut erster Hochrechnung eines US-amerikanischen Instituts, die sich nur auf Befragungen nach dem Wahlgang stützte, entfielen auf Saakaschwili annähernd 86 Prozent, während seine vier Mitbewerber alle unter einem halben Prozent blieben. Der fünfte Gegenkandidat hatte sich wenige Tage zuvor zurückgezogen, weil er sich an dieser »falschen und unfairen« Wahl nicht beteiligen wolle.
Da der Sieg des »Samtrevolutionärs« feststand, hatte sich die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Wahlbeteiligung konzentriert. Hätte sie weniger als 50 Prozent betragen, wäre die Wahl ungültig und müßte wiederholt werden. Für diesen Fall hatte Saakaschwili die Bevölkerung eindringlich vor »Chaos und Unruhe« gewarnt. Nach Angaben der zentralen Wahlkommission wurde das Ziel jedoch mit 83 Prozent Wahlbeteiligung – der höchsten in der Geschichte Georgiens – klar erreicht.

Tatsache ist aber, daß noch nie so wenig Menschen an einer georgischen Präsidentenwahl teilgenommen haben und ernsthaft zu bezweifeln ist, ob die Wahlbeteiligung wenigstens über dem Minimum von 50 Prozent lag. Wie erklärt sich dieser Widerspruch? Anders als international üblich berechnet Georgien die Wahlbeteiligung nicht nach der Zahl der Wahlberechtigten, die angeblich niemand genau kennt, sondern nur nach der Zahl derjenigen, die sich zur Wahl registrieren ließen. Diese aber war diesmal sehr viel niedriger als sonst, da mehrere Parteien aus Protest gegen die Machtergreifung der »Samtrevolutionäre« zum Wahlboykott aufgerufen hatten. Nach offiziellen Angaben ließen sich etwas mehr als 2,1 Millionen Georgier in die Wahllisten eintragen. Demnach hätten, falls die vorläufige Angabe der Wahlbeteiligung mit 83 Prozent stimmt, rund 1,74 Millionen ihre Stimme abgegeben.

Zum Vergleich: 1995 wurden zur Präsidentenwahl 3,11 Millionen Wähler registriert, im Jahr 2000 waren es 3,09 Millionen. An der Wahl beteiligten sich 1995 nach offiziellen Angaben 2,1 Millionen (68,3 Prozent) und fünf Jahre später 2,3 Millionen Menschen (75,9 Prozent). Diese Zahlen lassen eindeutig darauf schließen, daß die Zahl der Wahlberechtigten in Georgien wahrscheinlich über 3,1 Millionen liegt. Diese Annahme wird dadurch bestärkt, daß nach Angaben von Civil Georgia, der den neuen Machthabern nahestehenden Online-Nachrichtenagentur, zu dieser Präsidentenwahl rund drei Millionen Stimmzettel gedruckt und an die Wahllokale ausgeliefert wurden. Zur Parlamentswahl vom 2. November seien sogar 3,3 Millionen Stimmzettel ausgegeben worden.
Das hinderte Präsident Saakaschwili jedoch nicht, wahrheitswidrig zu behaupten, die Wahlbeteiligung sei »ungewöhnlich hoch« und »absolut ohne Parallele in unserer Geschichte« gewesen. Nicht nur die Wahlbeobachter aus den USA und Westeuropa, sondern auch die aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) machten gute Miene zum bösen Spiel und bestätigten, daß alles korrekt zugegangen sei.

Aus: junge Welt, 6. Januar 2004

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In das gleiche Horn stößt Karl Grobe in seinem Kommentar für die Frankfurter Rundschau, wenn er anmerkt:

(...) Gegenüber der Novemberwahl 2003 waren zunächst vierzig Prozent weniger Georgier wahlberechtigt. Aus den alten Registern waren 700 000 "tote Seelen" ausgemustert worden, neue Register aber in der kurzen Zeit nicht zu erstellen. Wer seine Stimme abgeben wollte, hatte sich in der letzten Dezemberwoche eintragen zu lassen. Die Wahl-Boykott-Fraktion - im Wesentlichen die linke Arbeiterpartei - verzichtete natürlich darauf. Am Wahltag selbst durfte man sich nachträglich registrieren lassen. Danach war die Zahl der Wahlberechtigten immer noch um ein Viertel niedriger als vor acht Wochen.

Und Grobe fährt in seinem Kommentar fort, indem er die entscheidenden Fragen nach der Zukunft des Landes stellt, z.B.:

Geht die Gleichung, die Saakaschwili-Anhänger, Wahlwillige und Wahlberechtigte miteinander quasi identifiziert, politisch auf? Und: Was ist das politische Subjekt im Staat Georgien, das souveräne Volk? Gehören die Einwohner der abgefallenen Regionen Abchasien und Südossetien, deren Führungskräfte es zum Anschluss an die Russische Föderation drängt, nicht doch dazu? Wie verhält sich das Possenspiel in der dritten Region, Adscharien, zum demokratischen Staatsverständnis? Dort hatte die Regierung des regional allmächtigen Aslan Abaschidse die Öffnung der Wahllokale erlaubt, aber zu deren Boykott aufgerufen, was Abaschidse selbst nicht hinderte, eine Viertelstunde vor Ladenschluss doch seinen Stimmzettel zu falten - um der Einheit willen. Saakaschwili hat das Mandat seiner Anhänger, und die stellen die Mehrheit dar. Die Nicht-Anhänger zu versöhnen und zu integrieren ist seine erste Aufgabe. Die nächste, schwierigere, betrifft den Umgang mit den separaten Regionen, somit auch den Umgang mit Russland. Dessen Staatschef, der sein Selbstherrscher-Mandat auf dem Weg der Dumawahl erhalten hat, wird auf seine Druckmittel nicht verzichten, auch wenn er dem neuen Kollegen in Tiflis artig gratuliert hat. Ihm kommt es darauf an, den Einfluss der Vereinigten Staaten in Transkaukasien einzudämmen; an die USA, die Nato und die EU, in welcher Reihenfolge auch immer, will Saakaschwili sich jedoch anlehnen. Das West-Interesse wird durch die Öl-Pipeline von Baku über Tiflis ins türkische Ceyhan intensiviert. Viele namhafte Firmen drängen ins georgische Geschäft, da dort nun alles stabiler werden soll.

Stabilität zu erreichen, ist aber nicht so einfach in einem der ärmsten der ehemaligen Sowjetrepubliken. Der neue Präsident hat insbesondere mit Schattenwirtschaft und Korruption zu kämpfen und trifft in diesem Kampf auf starke Gegner. Karl Grobe schließt seinen Kommentar:

(Schattenwirtschaft und Korruption) zu bekämpfen hat Saakaschwili schon vor zwei Jahren, als er noch Justizminister war, zu seinem wichtigsten Programmpunkt erhoben. Er muss sich mit korrupten Funktionären, kriminellen Gangs und Neureichen anlegen - der alten Garde. Die verfügt noch über Mittel, ihn einzukaufen oder scheitern zu lassen. Nach seinem Sieg fängt der Kampf erst an.

Aus: Frankfurter Rundschau, 6. Januar 2004

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Im Bericht der Süddeutschen Zeitung wird u.a. das zentrale Interesse des Westens an Georgien betont: Die Ölpipeline durch Georgien. Die allein wäre allerdings auch mit dem westlich orientierten Vorgängerpräsidenten Schewardnadse möglich gewesen. In dem Artikel der SZ heißt es:

(...) Georgiens amtierende Interimspräsidentin Nino Burdschanadse sagte, sie sei sich sicher, dass die Wahl den Beginn einer neuen Ära bedeute: „Das ist der Beginn eines neuen, demokratischen Staates.“
Die Ex-Sowjetrepublik Georgien hat nach dem Zerfall der UdSSR einen Bürgerkrieg erlebt. Zudem haben sich zwei Regionen, Süd-Ossetien und Abchasien, praktisch abgespalten. Auch die Schwarzmeer-Region Adscharien verfolgt separatistische Tendenzen. Das Verhältnis zum nördlichen Nachbarland Russland ist wegen der pro-westlichen Orientierung Georgiens schwierig: Das Land sucht die Integration in Europa und will in die Nato eintreten. Das westliche Interesse konzentriert sich auf den Bau einer Öl-Pipeline durch Georgien vom Kaspischen Meer aus in Richtung Türkei. Mit der Röhre sollen die Rohstoffe Zentralasiens und der Anrainer des Kaspischen Meeres an Russland vorbei auf westliche Märkte gebracht werden.

Aus: Süddeutsche Zeitung, 6. Januar 2004


"Ein Mann mit Ausdauer und Machtinstinkt"
So titelt der Wiener "Standard" sein Kurz-Porträt des neu gewählten georgischen Präsidenten. Darin heißt es weiter:

Über Wochen führte der von den USA unterstützte Saakaschwili die friedlichen Massenproteste in Tiflis an, bis der in Wahlfälschungen verwickelte Schewardnadse entnervt das Handtuch warf.
An seinen Ambitionen ließ Saakaschwili, einst Justizminister unter Schewardnadse, nie einen Zweifel: Kaum war der "kaukasische Fuchs" von der politischen Bühne abgetreten, schmiedete Saakaschwili im Stillen eine Dreierkoalition der führenden Oppositionspolitiker zu seinen Gunsten. Die als gemäßigt geltende Übergangspräsidentin Nino Burdschanadse soll wieder das Amt der Parlamentsvorsitzenden ausüben. Burdschanadses Parteifreund Surab Schwanija bekommt den Posten eines in der Verfassung bisher nicht vorgesehenen Regierungschefs.
In Georgien gingen die Meinungen über den Polit-Karrieristen Saakaschwili lange Zeit weit auseinander. Schewardnadses Lager kanzelte den einstigen Zögling als "Populisten" ab. Von seinen Anhängern wird Saakaschwili für seine angeblich prinzipientreue Haltung geschätzt. Der Politiker will Georgien für NATO-Truppen öffnen, die Kommunistische Partei verbieten und zugereiste Tschetschenen des Landes verweisen.
Mit besonderer Skepsis blicken die von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien, Süd-Ossetien und Adscharien auf den neuen starken Mann Georgiens. Einen Wahlboykott in den Konfliktgebieten werde es in Zukunft nicht mehr geben, kündigte Saakaschwili am Wahltag selbstbewusst an. Mit dieser versteckten Drohung dürfte er den Argwohn in den abtrünnigen Gebiete noch verstärkt haben.
Aus: Der Standard, 6. Januar 2004 (online-Ausgabe)




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