Will Saakaschwili Tatsachen schaffen?
Schwere Auseinandersetzungen in der georgisch-südossetischen Konfliktzone
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Nach schweren Gefechten in dem von Georgien abtrünnigen Südossetien
haben die Behörden dort
aus Furcht vor einer weiteren Eskalation der
Gewalt hunderte Kinder und Frauen evakuiert. Aus dem russischen
Außenministerium war am Wochenede verlautet, die Gefahr »breitangelegter
Militärhandlungen«
werde immer wahrscheinlicher.
Wären nicht die schwer bewaffneten russischen Blauhelme, die den Konvoi
begleiten, könnte man
an einen Ferienausflug denken: Busse, voll besetzt mit Kindern, die sich
über die Große Georgische
Heerstraße nach Norden quälen. Doch die Insassen haben keinen Blick für
die faszinierende
Berglandschaft, die an ihnen vorbeirollt. Sie sind auf der Flucht vor
dem Krieg. Dem Krieg mit
Georgien, dessen Ausbruch man in Südossetien nur noch für eine Frage der
Zeit hält.
Für Georgiens Regierung ist der Konflikt mit den Separatisten in
Südossetien und in Abchasien das
Haupthindernis für einen NATO-Beitritt. Der wiederum hat für die
Herrschenden in Tbilissi oberste
Priorität. Staatschef Michail Saakaschwili, so fürchten daher die
Südosseten, werde mit Gewalt
vollendete Tatsachen schaffen.
In der Tat hatte Georgien Mitte vergangener Woche seine Truppen an den
Grenzen zu Südossetien
massiv verstärkt. Am Freitag wurde Zchinwali, die Hauptstadt der Region,
zum zweiten Mal
innerhalb von nur vier Wochen mit Artillerie beschossen. Sechs Menschen
starben, fünfzehn wurden
verletzt. Es handelt sich um die schwersten Auseinandersetzungen in der
Konfliktzone seit Jahren.
Südossetiens Führung ordnete Staatstrauer an, verfügte eine
Teilmobilmachung und begann mit der
Evakuierung von Frauen und Kindern. Fast zweieinhalbtausend Menschen
hatten bis Sonntagabend
in der zu Russland gehörenden Republik Nordossetien-Alania Zuflucht
gefunden. Weitere 500
sollten bis Montagabend über die Grenze gebracht werden.
In Wladikawkas, der nordossetischen Hauptstadt, forderte zeitgleich eine
Kundgebung mit mehreren
hundert Teilnehmern die Vereinigung beider ossetischer Republiken. Dafür
und für den Anschluss
des »vereinigten Ossetiens« an Russland hatten sich auch die etwa 52 000
Wahlberechtigten in
Südossetien bei einem Referendum im November 2006 mit überwältigender
Mehrheit
ausgesprochen. Größtmögliche Autonomie bei Rückkehr unter das Dach der
georgischen
Verfassung hat ihnen Michail Saakaschwili versprochen, aber das lehnen
die Südosseten ebenso ab
wie einen Friedensplan von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier.
Anders als die Georgier, die zur kaukasischen Völkerfamilie zählen, sind
die Osseten ein iranisches
Volk. Beider Verhältnis ist nachhaltig gestört. 1774 unterstellten sich
die Osseten, gegen deren
Überfälle Georgien sich im Mittelalter durch Wälle und Festungen
schützen musste, freiwillig dem
russischen Zaren. 1918 kam der Süden an Georgien, wo eine von Moskau
unabhängige bürgerliche
Regierung herrschte. An deren Sturz 1921 hatte Südossetien, wo sich ein
Jahr zuvor die
Bolschewiki durchgesetzt hatten, maßgeblichen Anteil. Gegen den Willen
der Mehrheit gliederte
Stalin die Region dennoch der Georgischen SSR als Autonomes Gebiet an.
Das wiederum erklärte
sich nach der Trennung Georgiens von der Sowjetunion und blutigen
Kämpfen mit georgischen
Regierungstruppen im Jahre 1992 für unabhängig.
Russland unterstützt die Separatisten, lehnt deren Ansuchen um Beitritt
zur Russischen Föderation
bisher jedoch ab. Aufhorchen lässt daher, dass in einer Erklärung des
russischen
Außenministeriums, das am Sonnabend beide Seiten zu Besonnenheit und
Fortsetzung des
politischen Dialogs aufrief, von »Ossetien« die Rede war. Zusätzlich in
Rage brachte Tbilissi, dass
Waleri Jewtuchnowitsch, der Oberkommandierende der russischen
Luftlandetruppen, damit drohte,
seine Einheiten würden den Südosseten, die inzwischen zu 80 Prozent
Bürger Russlands sind, zur
Hilfe kommen. Der präsident Südossetiens, Eduard Kokoity, hatte die
Republiken im russischen
Nordkaukasus im lokalen Fernsehen bereits am Freitag um Entsendung von
Freiwilligen gebeten.
* Aus: Neues Deutschland, 5. August 2008
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