Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Südossetien, acht Monate danach

Ein Land mit tiefen Gräben, die Generationen überdauern werden

Von Roswitha Yildiz *

Acht Monate nach dem russisch-georgischen Krieg in Südossetien wählten die Bewohner der Republik ein neues Parlament. Unsere Autorin, Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Friedens- und internationale Politik der Partei DIE LINKE, beobachtete nicht nur die Abstimmung.

Ob ich kein Problem damit hätte, als Beobachterin an Wahlen teilzunehmen, die von der Mehrheit der Staaten als illegitim angesehen werden, fragte ein Schweizer Journalist kurz nach meiner Ankunft in Zchinwali, der Hauptstadt Südossetiens. Nein, habe ich nicht. Die Teilnahme verpflichtet nicht zu Jubel für den Präsidenten Eduard Kokoity und die ihm nahe stehenden Partei »Einheit«. Sie bedeutet auch nicht die indirekte Anerkennung der staatlichen Souveränität Südossetiens, die allein Sache der politischen Diplomatie ist.

Meine Teilnahme verstehe ich vielmehr als Akt der Solidarität mit der Bevölkerung, die auf diesem von den geostrategischen Interessen der Großmächte aufgeriebenen Flecken Erde nach friedlichem, zivilem Zusammenleben sucht. Europa trage wegen der bedingungslosen Unterstützung des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili eine Mitschuld am russisch-georgischen Krieg im August 2008, hat der Europa-Abgeordnete Giulietto Chiesa gesagt, der die Wahl ebenfalls beobachtet. Also falle den Europäern auch eine Mitverantwortung für die Lösung des Konflikts zu. Und diese Verantwortung sollte nicht allein den Regierenden überlassen werden.

Der Direktor sieht sich in seiner Ehre gekränkt

Die Wahlen am 31. Mai waren die ersten nach dem Krieg, dem die Anerkennung der Republik Südossetien durch Russland und Nicaragua folgte. Nachdem der Oberste Sowjet des Gebiets am 10. November 1989 die Gründung einer Südossetischen Autonomen Sowjetrepublik beschlossen hatte, wurden bereits vier Parlamente gewählt, in zwei Volksabstimmungen sprach sich die überwältigende Mehrheit der Wähler für die Unabhängigkeit aus. Südossetische Völkerrechter berufen sich darauf, dass bereits in der Verleihung eines Autonomiestatus im Jahre 1922 das Recht auf Selbstbestimmung Südossetiens angelegt war.

88 Wahllokale wurden diesmal eingerichtet. Natürlich haben die Organisatoren unsere Besuche vorbereitet, aber wir können auch ein Abstimmungslokal unserer Wahl besichtigen.

Das handgeschriebene Wählerverzeichnis hängt für jedermann sichtbar am Eingang aus, Vertreter der Parteien beobachten den Wahlvorgang, darunter sind auffallend viele junge Leute. In einer kleinen, auf etwa 70 000 Einwohner geschätzten Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt, dürften Manipulationen nahezu ausgeschlossen sein.

In der Universität von Zchinwali hören wir jedoch etwas von einer zusätzlichen Liste und fragen nach, was es damit auf sich hat. Erklärt wird uns deren Existenz mit der Tatsache, dass infolge des Krieges Wahlverzeichnis und derzeitiger Wohnort nicht immer übereinstimmen. Der Universitätsdirektor, Vorsitzender der Wahlkommission, sieht sich durch die Frage in seiner Ehre gekränkt und verweist auf seine langjährige Erfahrung. Er lädt uns ein, abends an der Auszählung der Stimmen teilzunehmen.

Es gebe Gerüchte, wonach die Bewohner einiger Dörfer zur Wahl gezwungen worden seien. Ob wir davon wüssten, will ein deutscher Journalist wissen. Wir können solche Gerüchte ebenso wenig bestätigen wie die, dass Georgier an der Grenze im Südosten, wo es noch einen Grenzverkehr gibt, Osseten an der Ausübung ihres Wahlrechts gehindert haben sollen. Und niemand ruft in unserer Gegenwart lautstark prorussische Parolen, wie sie ausländische Korrespondenten gehört haben wollen.

Land, Wasser und Sonne sind die Helden der von landwirtschaftlicher Selbstversorgung lebenden Bevölkerung. Symbolisiert sind sie in der Drei-Schichten-Pastete, die uns in einem grenznahen Dorf mit 528 Wahlberechtigten angeboten wird. Beim »Na sdorowje« mit hausgemachtem Wein und Wodka wird neben der Verbeugung vor Gott und den drei unentbehrlichen Elementen selbstverständlich auch der russischen Hilfe gedacht.

Der Angriff der georgischen Streitkräfte hatte am 8. August um Mitternacht begonnen. Nach 20 Stunden Dauerbeschuss war das russische Militär zur Stelle. Mateusz Piskorski, ehemaliger Abgeordneter des polnischen Sejms und Politikwissenschaftler an der Universität Szczecin, war bei Ausbruch des Krieges in Südossetien. Die Szenen, die er in jenen Tagen sah, treiben ihn um, sich für eine friedliche, dauerhafte Lösung des Konflikts einzusetzen. Er erzählt, dass mit Hilfe der Mobiltelefone gefallener Soldaten, die sich bei ihren Taten gegenseitig fotografiert hatten, Exzesse rekonstruiert wurden. Militärstrategen und die von der EU eingesetzte Kommission werden die Kriegführung analysieren, Menschenrechtsexperten die auf beiden Seiten begangenen Kriegsverbrechen dokumentieren. Und jede der Kriegsparteien wird versuchen, durch das dokumentierte Grauen die internationale Meinung auf ihre Seite zu ziehen.

Ruinen, Baustellen und Gerüchte

Das Ziel des georgischen Angriffs erschließt sich bei der Besichtigung der Zerstörungen auch dem Laien: Man wollte die militärische Kontrolle über die Region übernehmen, die Bevölkerung vertreiben und ihre Rückkehr vereiteln. Die Kontrolle über den Roki-Tunnel, die einzige Verbindung zu Nordossetien und damit zu Russland, hätte vollendete Tatsachen geschaffen.

Zchinwali zeigt acht Monate nach Beendigung der Kriegshandlungen noch die Spuren systematischer Zerstörung vor allem der sozialen Infrastruktur: Schulen, das Krankenhaus, das Parlamentsgebäude, Teile der Universität, Kirche, Bibliothek, Tankstellen, ein mehrstöckiges Einkaufszentrum, das Hotel, in dem wir wohnen. Rund 700 Gebäude sind nicht mehr instand zu setzen, bei einigen stehen Gutachten noch aus.

Ein Großteil der Wohnhäuser ist jedoch bereits repariert. Von einem Hügel oberhalb der Stadt erkennt man es am leuchtenden Rot der Dachziegel. Von der gleichen Höhe aus sollen georgische Soldaten die Flüchtlingsströme unter Feuer genommen haben. Ob man in den acht Monaten mehr hätte instand setzen können, ob oder in welchem Maße die russische Wiederaufbauhilfe in dunklen Kanälen versickert ist, wage ich nicht zu beurteilen. Es gibt zu viele Gerüchte in dieser Stadt. Im Oktober 2008 wurde jedenfalls auf Empfehlung des russischen Rechnungshofs eine Kommission geschaffen, die über die Verwendung der Gelder entscheiden und die Verträge mit Baufirmen abschließen soll. Wie in jedem Konflikt gibt es sicher auch hier einige, die nicht nur am Aufbau, sondern auch an der Fortdauer der Gewalt verdienen.

Wir besichtigen ein stark zerstörtes Wohnviertel am Stadtrand, dessen verbliebene Bewohner sich hinter Vorhängen aus Plastikplanen eingerichtet haben. Eine ältere Frau läuft uns entgegen und beklagt sich, dass nichts von der versprochenen Hilfe angekommen sei. Auf die Frage des Ombudsmannes, ob sie denn die ihr zustehenden Rationen nicht erhalten habe, erwidert sie, die habe sie bereits an ihre Katzen verfüttert. Eine Szene, die in kritischer Berichterstattung als Indiz für antirussische Stimmung und Korruption herhalten muss, die aber wohl eher für die psychosozialen Folgen eines Krieges steht.

Vielerorts erschließt sich nicht sofort, ob die Schäden dem ersten Krieg Anfang der 90er Jahre oder dem jüngsten Waffengang zuzuschreiben sind. Das jüdische Viertel Zchinwalis mit der Synagoge und kulturgeschichtlich bedeutenden Bauten wurde bereits 1992 zerstört. Die Bewohner seien größtenteils nach Israel gegangen, heißt es. Zwischen arg beschädigten Bauten, die wegen ihres architektonischen Werts wiederaufgebaut werden sollen, haben sich Flüchtlinge eingerichtet. Ein Haus mit weinberankter Pergola und Fernsehantenne verkörpert ein Stück Normalität inmitten des Wahnsinns, aus dem keine Seite unbeschadet hervorgegangen ist.

Die georgischen Dörfer nördlich Zchinwalis existieren nicht mehr. Sie lagen in strategischer Nähe des Kaukasus-Passes. Ihre Bewohner sollen den anrückenden georgischen Truppen Schützenhilfe geleistet haben, sie seien für ihre Loyalität zu Georgien reich belohnt worden, sagt man uns. Die Zerstörung war also ein Racheakt – geschuldet auch der unerbittlichen Logik des Krieges: Die Rückkehr der nach Georgien geflohenen Bewohner sollte auf Dauer verhindert werden.

Sozialer Sprengstoff in Georgien

Nach georgischen Angaben sind davon 25 000 Menschen betroffen. Sozialer Sprengstoff in einem Land, das sein Waffenarsenal bereits wieder auf Vorkriegsniveau aufgefüllt hat. Beide Seiten schließen einen neuerlichen Waffengang nicht aus. Doch Saakaschwili, das gesteht auch die georgische Opposition unumwunden ein, habe durch seinen Krieg gegen eine als die eigene reklamierte Bevölkerung die Wiedereingliederung Südossetiens unmöglich gemacht. Wer sich um eine Konfliktlösung bemüht, wird das berücksichtigen müssen. Ebenso wie die Tatsache, dass die Lebensfähigkeit einer Republik Südossetien an gute Beziehungen mit dem natürlichen Hinterland – eben Georgien – geknüpft ist. Doch die tiefen Gräben zwischen Georgiern und Osseten zu schließen, wird es wohl Generationen brauchen.

* Aus: Neues Deutschland, 13. Juni 2009


Zurück zur Georgien-Seite

Zur Russland-Seite

Zurück zur Homepage