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Neues Georgien

Aufklärung der Verbrechen des früheren Regimes macht auch vor engster Umgebung von Präsident Saakaschwili nicht halt

Von Knut Mellenthin *

Georgiens neue Regierung läßt nun auch gegen den früheren Innenminister Wano Merabischwili ermitteln. Nach dem Wahlsieg der Opposition am 1. Oktober wurden zahlreiche Funktionäre des alten Regimes wegen Amtsmißbrauch, Mißhandlung von Soldaten, Freiheitsberaubung und illegaler Spitzelpraktiken verhaftet. Unter ihnen sind elf leitende Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, darunter dessen Chef Lewan Kardawa, der frühere Verteidigungs- und Innenminister Bacho Akhalaia und sein Stellvertreter Schota Khisanischwili. Der inzwischen abgesetzte Generalstabschef Giorgi Kalandadse wurde gegen Kaution freigelassen. Mit Merabischwili ist nun jedoch erstmals eine Person aus dem engsten Führungskreis um Präsident Michail Saakaschwili ins Visier von Generalstaatsanwalt Archil Kbilaschwili geraten. Der 44jährige war schon vor der »Rosenrevolution« im November 2003 ein Kampfgefährte Saakaschwilis und leitete seit Dezember 2004 das Innenministerium, bis der Präsident ihn im Juli dieses Jahres zum Regierungschef ernannte. Nach dem Wahlsieg der Opposition wurde er Generalsekretär der rechtsgerichteten Nationalbewegung, die das Land neun Jahre lang allein regiert hatte.

Auslöser der am 24. November offiziell eingeleiteten staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen Merabischwili ist der Mord an Sandro Girgvliani im Januar 2006. Das läßt vermuten, daß der gesamte Fall, der damals monatelang zu heftigen Protesten der Opposition geführt hatte, neu aufgerollt werden wird. Der 28jährige Girgvliani war unmittelbar nach einem anscheinend von ihm selbst begonnenen heftigen Wortstreit in einem Nobelrestaurant, in dem gerade hochrangige Funktionäre des Innenministeriums feierten, von Mitarbeitern des Ministeriums verschleppt und am Stadtrand erschlagen worden. Als mutmaßliche Täter wurden Gia Alania, Abteilungsleiter beim Verfassungsschutz, und drei seiner Untergebenen vor Gericht gestellt. Im Juli 2006 wurde Alania zu acht Jahren Gefängnis verurteilt; gegen die anderen Angeklagten wurden jeweils sieben Jahre Haft verhängt. Alle vier wurden von Saakaschwili im September 2009 begnadigt und freigelassen.

Der von der Opposition sofort geäußerte Verdacht, daß die Anweisung zu dem Gewaltverbrechen von höherer Stelle gekommen sei, wurde nicht adäquat untersucht; das Parlament lehnte mit der damaligen Mehrheit der Nationalbewegung zweimal die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses ab. Saakaschwili warf der Opposition in diesem Zusammenhang vor, »Mafia-Interessen« zu vertreten. Der von mehreren Verwandten Girgvlianis angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg rügte im April 2011 die Art, wie seinerzeit in der Mordsache ermittelt worden war. Den Untersuchungen habe es »eindeutig an der erforderlichen Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Objektivität und Gründlichkeit gemangelt«.

Unter dem Druck der öffentlichen Kritik ließ Innenminister Merabischwili im März 2006 drei im Mordfall Girgvliani verdächtige hochrangige Funktionäre vom Dienst suspendieren. Unter ihnen waren der Leiter des Verfassungsschutzes, Data Akhalaia – ein Bruder des schon erwähnten Bacho Akhalaia – und der Chef der Abteilung für interne Ermittlungen, Wasil Sanodse. Beide wurden im Mai 2008 auf Anweisung Merabischwilis auf ihre Posten zurückversetzt. Der Generalstaatsanwalt behauptet jetzt, jüngste Nachforschungen hätten ergeben, daß sie während ihrer offiziellen Suspendierung in Wirklichkeit weiter ihre Dienststellen geleitet hätten. Nur dieser Vorwurf ist offenbar zum jetzigen Zeitpunkt Gegenstand der Ermittlungen gegen Merabischwili, mit dessen Vorladung zur Aussage am Montag gerechnet wurde.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 27. November 2012


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