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Brisante Fragen an Saakaschwili

Ehemalige Parlamentspräsidentin kritisiert georgischen Staatschef

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Käme es zu einem Amtsenthebungsverfahren oder gar zu einem Prozess wegen Hochverrats, wie ihn sich nach dem missglückten Blitzkrieg im August mancher Georgier für Präsident Michail Saakaschwili durchaus wünscht, der Staatsanwalt würde womöglich die selben Fragen stellen wie ehemalige Parlamentschefin Nino Burdshanadse.

Wieso hat Georgien sich auf einen Krieg mit Russland eingelassen, wo doch selbst Freunde im Westen vor den Folgen gewarnt hatten? Und wie konnten Zivilisten aus Saakaschwilis Umgebung die Führung der militärischen Operation an sich reißen? Schließlich: Warum hat die georgische Armee zuerst Südossetiens Hauptstadt Zchinwali angegriffen, statt den Roki-Tunnel zu zerstören und damit zu verhindern, dass russische Truppen den Separatisten zur Hilfe eilen?

Das, sagt Frau Burdshanadse, deren insgesamt 43 Fragen an den Präsidenten alle großen Zeitungen des Landes am Freitag trotz Ausnahmezustand und Zensur abdruckten, sei noch nicht das Ende der Fahnenstange. Solange russische Soldaten in der Pufferzone stehen -- jenen georgischen Landkreisen, die unmittelbar an Südossetien und Abchasien grenzen --, würden sich Attacken gegen den Präsidenten verbieten, weil sie den »Okkupanten« in die Hände spielen. Sobald Moskau die Pufferzonen jedoch vollständig an die 300 EU-Beobachter übergibt, die Mitte letzter Woche ihre Arbeit im Krisengebiet aufnahmen, sei die Schonzeit vorbei. Am 10. Oktober -- dem Abzugstermin, den Präsident Dmitri Medwedjew während der deutsch-russischen Regierungskonsultationen in St. Petersburg am Donnerstag ausdrücklich bestätigte -- werde es einen Nachschlag geben. Mit noch brisanteren Fragen, auf die Saakaschwili öffentlich antworten soll.

Neben hoher Politik geht es dabei auch um offene persönliche Rechnungen. Saakaschwili wie Burdshanadse stehen für die »Revolution der Rosen«, durch die Ende 2003 Eduard Schewardnadse als Präsident gestürzt wurde. Dennoch gab sich Burdshanadse lange mit der Rolle der Juniorpartnerin zufrieden und galt als loyal. Daran konnten nicht einmal die Unruhen im letzten November etwas ändern, als Saakaschwili ein Dauermeeting der Opposition mit Tränengas und Wasserwerfern auflösen ließ. Sogar nach den vorgezogenen Präsidentenwahlen im Januar, als Saakaschwili, der nur knapp an einer demütigenden Stichwahl vorbeigeschrammt war, von der Opposition wegen Wahlfälschung angegriffen wurde, verteidigte Burdshanadse ihn. Formell ging beider Bündnis erst im Mai in die Brüche: Saakaschwili hatte auf die Kandidatenliste der regierenden Vereinigten Nationalen Bewegung, zu der seine und Burdshanadses Parteien kurz nach der Revolution verschmolzen waren, nur seine eigenen Anhänger gesetzt. Burdshanadse hatte damals den Rückzug aus der aktiven Politik angekündigt, meldet sich jetzt aber, wie Experten in Tbilissi und in Moskau glauben, zurück

Inhalt wie Tonlage ihrer Fragen an Saakaschwili, glaubt Alexej Wlassow, Direktor Moskauer Instituts zur Untersuchung gesellschaftspolitischer Prozesse im postsowjetischen Raum, ließen nur einen Schluss zu: Burdshanadse sei nicht nur zur Opposition übergetreten wie inzwischen viele, die bei der »Rosenrevolution« eine tragende Rolle spielten, sie wolle sich offenbar an die Spitze der Opposition stellen und dem Westen wie auch Russland als Alternative für Saakaschwili anbieten.

Für Russland würde sich wenig ändern, sollte die 44-jährige Juristin den Präsidenten beerben: Burdshanadse würde den gleichen prowestlichen Kurs fahren, ihn jedoch sehr viel eleganter verkaufen als der gegenwärtiger Amtsinhaber, der ständig von seinen Emotionen gebeutelt wird, meint Wlassow. Nicht nur die EU, wo man den Krieg im Kaukasus von Anfang an sehr viel differenzierter betrachtete als in Washington, auch die USA würden einem Machtwechsel in Tbilissi inzwischen womöglich wohlwollend gegenüberstehen. Fraglich ist nur, ob sich Burdshanadse in der georgischen Männergesellschaft durchsetzen kann. Die Zeiten einer Königin Tamar, unter deren Herrschaft Georgien seine Blütezeit erlebte, liegen rund 800 Jahre zurück.

* Aus: Neues Deutschland, 6. Oktober 2008


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