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Missbilligung Russlands ohne Sanktionen

EU-Sondergipfel über die Lage in Georgien endete besonnen - Washington und Moskau loben das Ergebnis

Der EU-Sondergipfel über die Lage im Kaukasus nach dem Krieg um Südossetien endete erwartungsgemäß mit einer Missbilligung der russischen Aktionen, insbesondere Moskaus Anerkennung der abtrünnigen georgischen Regionen Abchasien und Südossetien. Sanktionen irgendwelcher Art wurden indessen nicht verhängt, obwohl es hierfür durchaus Protagonisten gegeben haben dürfte (die baltischen Staaten und Polen z.B.). Das am Ende alle zufrieden waren, sogar die USA, spricht möglicherweise dafür, dass auch der Westen den Konflikt mit Russland, der in den letzten Tagen hochgekocht worden war, wieder etwas herunterfahren möchte.
Wir beginnen unsere Berichterstattung über den Sondergipfel mit dem offiziellen Bericht von der Website der EU-Präsidentschaft. Es folgen zwei Artikel und Agenturmeldungen.
Der Beschluss des EU-Gipfels in vollem Wortlaut befindet sich hier: SCHLUSSFOLGERUNGEN DES VORSITZES



EU-Sondergipfel über die Situation in Georgien

Bei seiner außerordentlichen Sitzung zur Situation in Georgien äußerte der Europäische Rat am 1. September einstimmig seine Besorgnis über die Konsequenzen, insbesondere die humanitären Auswirkungen, des Konflikts und verurteilte die einseitige Entscheidung Russlands, die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens anzuerkennen.

Der Rat wiederholte, dass diese Entscheidung inakzeptabel ist und appellierte an die übrigen Staaten, die Unabhängigkeitserklärungen nicht anzuerkennen. Er wies darauf hin, dass eine friedliche und dauerhafte Lösung der Konflikte in Georgien auf der uneingeschränkten Achtung der durch das Völkerrecht und die Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen anerkannten Grundsätze der Unabhängigkeit, der Souveränität und der territorialen Integrität beruhen muss.

Die Staats- und Regierungschefs begrüßten, dass in dem auf Vermittlung der französischen Präsidentschaft im Namen der EU erzielten Abkommen ein Waffenstillstand, ein verbesserter Zugang der humanitären Hilfe zu den Opfern und ein substanzieller Rückzug der russischen Streitkräfte vereinbart werden konnte. Die 27 EU-Mitgliedstaaten wiederholten, dass das erzielte Abkommen vollständig umgesetzt werden muss und riefen beide Seiten auf, die vollständige und aufrichtige Umsetzung des von ihnen unterzeichneten Abkommens fortzusetzen. Betont wurde die dringende Notwendigkeit, die unter Punkt 5 des Abkommens vorgesehene internationale Überwachung, an der sich zu beteiligen, die EU bereit ist, umzusetzen, sowie die unter Punkt 6 vorgesehenen internationalen Gespräche über die Modalitäten für Sicherheit und Stabilität in Abchasien und Südossetien aufzunehmen. Die EU ist bereit, sich, gegebenenfalls auch durch Präsenz vor Ort, zu engagieren und beschloss, eine Erkundungsmission zu entsenden, die die Modalitäten für ein verstärktes Engagement genauer bestimmen soll.

Über die Soforthilfe hinaus ist die Europäische Union bereit, den Wiederaufbau in Georgien einschließlich der Regionen Südossetien und Abchasien zu unterstützen und eine Vertiefung der Beziehungen zu Georgien zu prüfen. Die Förderung der regionalen Zusammenarbeit und der nachbarschaftlichen Beziehungen der EU ist wichtiger denn je. Der Europäische Rat rief dazu auf, die Bemühungen zur Gewährleistung der Energieversorgung und zur Diversifizierung der Versorgungsquellen und Lieferungswege zu intensivieren.

Der Europäische Rat beschloss die Ernennung eines EU-Sonderbeauftragten für die Krise in Georgien. Er ist der Meinung, dass die Beziehungen der Europäischen Union zu Russland durch die Krise in Georgien an einem Scheideweg stehen und dass es in Russlands ureigenstem Interesse liegt, sich nicht von Europa zu isolieren. Die EU ihrerseits hat ihre Bereitschaft zu Partnerschaft und Zusammenarbeit unter Achtung der ihr zugrunde liegenden Werte bekundet. Sie erwartet von Russland ein verantwortungsvolles Handeln im Einklang mit all seinen internationalen Verpflichtungen.
Die EU wird weiterhin wachsam sein und die verschiedenen Dimensionen der Beziehungen zu Russland prüfen, insbesondere im Hinblick auf den für den 14. November 2008 in Nizza geplanten EU-Russland-Gipfel.

Der Europäische Rat erteilt seinem Präsidenten das Mandat, die Gespräche hinsichtlich einer vollständigen Umsetzung des Sechs-Punkte-Abkommens fortzusetzen. Zu diesem Zwecke wird sich der Präsident des Europäischen Rates Nicolas Sarkozy zusammen mit dem Kommissionspräsidenten und dem Hohen Vertreter am 8. September nach Moskau begeben. Solange sich die Truppen nicht auf die Positionen zurückgezogen haben, die sie vor dem 7. August innehatten, werden die Verhandlungen zum Partnerschaftsabkommen verschoben.

Quelle: Website der französischen Präsidentschaft, 2. September 2008; www.ue2008.fr


EU-Gipfel hebt den Zeigefinger

Russlands Vorgehen im Kaukasus wird missbilligt, Sanktionen soll es nicht geben *

Die Europäische Union verurteilte auf einem Sondergipfel Russlands Vorgehen gegenüber Georgien. Das gesamte Verhältnis zu Moskau sei auf den Prüfstand gestellt worden. Konkrete Sanktionen gegen Moskau standen nicht zur Debatte.

Brüssel/London (Agenturen/ND). Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich am Montagnachmittag in Brüssel zu einem Sondergipfel zur Kaukasus-Krise getroffen. Thema war das weitere Vorgehen gegenüber Russland. Sanktionen gegen Moskau seien nicht beschlossen worden, teilte der französische Staatschef und EU-Ratspräsident Nicolas Sarkozy am Montagabend mit. Diplomaten in Brüssel hatten bereits vor der Beratung erklärt, sie rechneten mit einer klaren Verurteilung der Anerkennung der abtrünnigen georgischen Provinzen Südossetien und Abchasien durch Moskau. Weitreichende Sanktionen gegen Russland wurden hingegen nicht erwartet.

Großbritannien hat die EU aufgerufen, die Verhandlungen über ein Partnerschaftsabkommen mit Russland wegen der Krise in Georgien auszusetzen. »Angesichts Russlands Aktionen sollten wir die Verhandlungen über eine Nachfolge des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens aussetzen«, sagte ein Sprecher von Premierminister Gordon Brown am Montag in London. Dies sei abhängig von der genauen Überprüfung der Beziehungen zwischen Russland und der EU.

Angesichts der Debatten in NATO und EU über den Umgang mit Moskau in der Kaukasus-Krise hat Russlands Außenminister Sergej Lawrow die Bedeutung der deutsch-russischen Beziehungen hervorgehoben. »Die deutsch-russische Versöhnung ist einer der wichtigsten Faktoren beim Aufbau eines neuen Europa«, sagte Lawrow am Montag in einer Rede vor Studenten in Moskau. »Wir werden niemandem erlauben, einen Keil zwischen unsere Völker zu treiben.«

Lawrow beklagte den »Zentralismus der NATO«, der die Schaffung eines »umfassenden Mechanismus kollektiver Sicherheit« verhindere. »Nach dem Ende des Kalten Krieges ist es möglich geworden, im euroatlantischen Raum gemeinsame Lösungen zu finden«, sagte der Chefdiplomat weiter. Ohne eine gleichwertige Mitwirkung Russlands sei dies aber undenkbar.

»Russisches Gas riecht nach georgischem Blut«, »Stoppt die Besatzung Georgiens«: Mit Transparenten und weiß-roten Landesflaggen hatten am Montag rund 300 Georgier am Rande des Gipfels im Brüsseler Europaviertel lautstark demonstriert. Dies sei nicht mehr eine georgische Frage, sagte der 29 Jahre alte Student Tornike Nosadse.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) teilte unterdessen mit, Georgien habe in Südossetien Streubomben eingesetzt. Die HRW-Waffenexpertin Bonnie Docherty sagte am Montag auf einer Pressekonferenz in Genf, Georgien habe den Einsatz der Bomben in mehreren Ortschaften an diesem Wochenende gegenüber HRW eingeräumt. Es gebe zudem »handfeste Beweise», dass Russland Streumunition verwendet habe.

* Aus: Neues Deutschland, 2. September 2008


USA begrüßen Beschlüsse des EU-Sondergipfels zu Georgien

WASHINGTON, 02. September (RIA Novosti). Die Administration von US-Präsident George W. Bush wird die beim EU-Sondergipfel zum Georgien-Konflikt getroffenen Entscheidungen mittragen. "Dieser außerordentliche EU-Gipfel belegt, dass Europa und die USA geschlossen hinter Georgiens territorialer Integrität und Souveränität sowie dem Wiederaufbau des Landes stehen", heißt es in einer Erklärung der Pressesprecherin des Weißen Hauses, Dana Perino.

Die US-Regierung begrüße die Pläne der EU, eine Beobachtermission nach Georgien zu entsenden. Dies solle schnellstmöglich geschehen, um "die russischen 'zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen' in den Grenzgebieten Südossetiens zu ersetzen." Die russischen Truppen müssten sofort auf ihre Vorkriegsstellungen zurückgezogen werden.
Die US-Regierung wolle beim Wiederaufbau Georgiens mit der EU zusammenarbeiten und werde auch an der entsprechenden internationalen Konferenz teilnehmen, so die Erklärung.
"Wir schließen uns dem Beschluss der EU an, Russland für die Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens zu verurteilen und andere Staaten zu einer Nichtanerkennung der separatistischen Regionen aufzurufen", heißt es in dem Dokument.

Es wird außerdem betont, dass der Sechs-Punkte-Plan vollständig erfüllt werden müsse.
"Wir begrüßen den bevorstehenden Moskau-Besuch des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, der auch Präsident des Europarates ist, des Chefs der EU-Kommission, Jose Manuel Barroso, und des EU-Außenbeauftragten Javier Solana, um eine vollständige und genaue Erfüllung des Abkommens seitens Russlands zu gewährleisten", so Perinos Erklärung.
Zudem unterstütze Washington "den Aufruf der EU über die unverzügliche Durchführung internationaler Verhandlungen zur Frage der Sicherheit und der Stabilität in Abchasien und Südossetien".

Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 2. September 2008


Moskau bescheinigt den meisten EU-Staaten Verantwortungsbewusstsein

MOSKAU, 02. September (RIA Novosti). Bei ihrem gestrigen Sondergipfel haben die meisten EU-Staaten verantwortungsbewusst gehandelt, indem sie für die Fortsetzung des Partnerschaftskurses mit Russland plädierten.

Das erklärte das russische Außenministerium am Dienstag. Es bedauerte zugleich, dass der georgische Angriff auf Südossetien sowie die vorausgegangenen Waffenlieferungen an Georgien, die entgegen OSZE-Regeln erfolgten, auf dem Gipfel nicht verurteilt worden sind.

Bei der Darstellung der Ereignisse im Kaukasus hätten einige EU-Staaten die Fakten verdreht. Den in der Abschlusserklärung des Gipfels enthaltenen Vorwurf der unverhältnismäßigen Reaktion auf Georgiens Angriff könne Russland daher nicht akzeptieren, hieß es aus dem Moskauer Außenamt.

Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 2. September 2008




EU ergreift Partei für Tbilissi

Frankreich schließt Sanktionen gegen Rußland auf Brüsseler Sondergipfel aus Drei Wochen nach Beginn des Krieges im Kaukasus haben die EU-Staats- und Regierungs­chefs über eine Neudefinition ihrer Beziehungen zu Rußland beraten. Bundeskanzlerin Angela Merkel plädierte zum Auftakt des Krisengipfels am Montag in Brüssel dafür, bei aller Kritik an Moskau die »Gesprächsfäden nicht abreißen zu lassen«. Der estnische Ministerpräsident Andrus Ansip dagegen forderte »eine Überprüfung des gesamten Spektrums an Beziehungen zwischen der EU und Rußland«.

Die französische Regierung, die derzeit die rotierende EU-Ratspräsidentschaft innehat, schlug im Entwurf für die Abschlußerklärung des Gipfels eine »Evaluierung« der Beziehungen zu Moskau vor. Indirekt wird in dem Text angedeutet, der nächste EU-Rußland-Gipfel im November könnte von der Umsetzung des Waffenstillstands mit Georgien durch Moskau abhängig gemacht werden: Die Evaluation solle »mit Blick auf den für den 14.November geplanten EU-Rußland-Gipfel« und »im Lichte der Situation (in Georgien) und insbesondere der Umsetzung des Sechs-Punkte-Plans« stehen, heißt es in dem Entwurf. Der auf Initiative der französischen EU-Ratspräsidentschaft erarbeitete Sechs-Punkte-Plan sieht neben einem Waffenstillstand vor, daß sich beide Konfliktparteien auf ihre Vorkriegspositionen zurückziehen.

Sanktionen gegen Moskau hatte der französische Premierminister François Fillon schon vor Beginn des Gipfels ausgeschlossen. Moskau müsse sich aber auf klare Worte gefaßt machen: »Wir verurteilen die Anerkennung der Autonomie Abchasiens und Südossetiens seitens Rußlands«, sagte Fillon. Die EU will Tbilissi durch Wiederaufbauhilfe unterstützen. Im Entwurf der Abschlußerklärung werden Georgien zudem Verhandlungen über Handels- und Visaerleichterungen in Aussicht gestellt. Darüber hinaus bereitet die EU die Entsendung einer Beobachter-mission nach Georgien vor, die nach den Worten des EU-Außenbeauftragten Javier Solana »einige hundert« Mann umfassen wird.(AP/jW)

* Aus: junge Welt, 2. September 2008


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